Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Wandelnde Zumutung und Ex-Knacki

Zwei Menschen, die haltlos durch Leben gehen, finden einander und damit Struktur und Lebensqualität - nachdem Charles Chadwick 30 Jahre für sein Erstlingswerk brauchte, schrieb er das jetzt vorliegende Buch in drei Jahren. Und neben diesem späten Debütanten sieht so mancher junge Autor ganz schön alt aus.

Von Alain Claude Sulzer | 04.08.2009
    Dreißig Jahre brauchte Charles Chadwick, um seinen Erstling "Ein unauffälliger Mann" zu schreiben. Als dieser fast 1000 Seiten umfassende Roman 2005 in England erschien, war der Autor 72. Für sein zweites Buch, der Autor ist inzwischen 77-jährig, genügten drei Jahre.

    Anders als der Erstling, in dem ein durch und durch gewöhnlicher Mensch im Mittelpunkt stand, handelt "Eine zufällige Begegnung" von zwei Außenseitern: von Elsie und Stanley, die sich zufällig in einem Bus begegnen. Sie ist auf dem Weg zu ihrer Mutter, er kommt von der Arbeit in dem Lagerhaus, in dem er sein dürftiges Einkommen hat, das er mit gelegentlichen Einbrüchen aufbessert, die hauptsächlich seiner ahnungslosen Mutter zugute kommen. Stan ist ein Ex-Knacki. Aber nicht das hat er – scheinbar im Witz und um sie sich vom Leib zu halten – zu Elsie gesagt, als sie ihn im Bus anstarrte, sondern dass er einen Mann umgebracht habe. Um sie zu erschrecken, nicht weil er glaubte, sie würde es glauben. Dass er im Spaß die Wahrheit sagte, wird sie erst später erfahren. Aus einer Augenblickslaune heraus behauptet Elsie, sie habe manchmal Lust, ihre Mutter umbringen. Sagt sie die Wahrheit? Jedenfalls hat sie genug eigene Probleme. Denn Elsie ist hässlich. Dass Vater und Mutter sich kurz nach ihrer Geburt getrennt haben, führt sie auf ihr abschreckendes Äußeres zurück. Zu Unrecht. Dass die Leute sie meiden, ebenfalls. Zu Recht. Dass sie keinen anderen Job als den einer Putzfrau bekommt, versteht sich von selbst. Dass sie gern putzt, passt da gut. Elsie hat sich mit alledem längst abgefunden. Sie hat sogar Verständnis für jene, die ihr nicht näherkommen wollen. Schließlich hat ja auch sie einen ausgeprägten Sinn für alles Schöne. Sie schaut ungern in den Spiegel.

    Elsie ist so hässlich, dass Charles Chadwick erst gar nicht versucht, uns ihr Aussehen allzu realistisch näherzubringen. Genügen muss die Behauptung ihrer Missgestalt. Ihre Augen sind unter der weit vorgewölbten Stirn nicht zu erkennen, ihr Lächeln eine erbärmliche Grimasse, ihr Lachen ein dumpfes Grollen, vor dem sich Kinder fürchten. Beides hat sie sich längst abgewöhnt, das Lächeln wie das Lachen. Was sie erfreut, behält sie für sich. Es interessiert ohnehin niemanden. Sie ist schon lange einsam. Wenn sie nicht hin und wieder ihre Mutter sehen würde, gäbe es niemanden, mit dem sie sich je unterhalten könnte.

    Die abstoßende Ästhetin, der man nichts zutraut außer ungute Gedanken, liebt nicht nur Sauberkeit in Haus und Garten, sondern insbesondere herrschaftliche Landsitze in prächtigen Parklandschaften. Und Blumen. Und Kinder. Heimlich beobachtet sie ihre kleinen Neffen, die sie nie zu Gesicht bekommen. Sie sollen mit ihrem Anblick nicht konfrontiert werden, weshalb man sie im Glauben lässt, die gute, Fee, die ihnen immer wieder hübsche (und teure) Geschenke schickt, sei viel zu glamourös, um in Erscheinung zu treten. Fotos von ihr werden unter Verschluss gehalten. Elsie ist eine wandelnde Zumutung.

    Die erste zufällige Begegnung im Bus zu Beginn des Romans trägt unerwartet Früchte. Erst folgt Stanley der "hässlichen Kuh", dann bricht er bei ihrer Mutter ein. Stanley ist auf der Flucht, weiß aber nicht, wo er Schutz finden soll. Er saß im Zuchthaus, weil er einen überfälligen kleinen Ex-Mafioso umgebracht hat, dessen Bruder ihm nun auf den Fersen ist. Dieser hat Rache geschworen. Noch immer weiß Stanley nicht so recht, weshalb er den Auftrag überhaupt ausgeführt hat. Er ist ja sonst ein harmloser, friedliebender Mann. Die Umstände waren einfach nicht danach, friedlich zu leben. Dem Befehl einer Autorität, einem Gangsterboss, nicht zu gehorchen und nicht zu töten, lag offenbar außerhalb seiner schwach ausgebildeten Willenskraft.

    Ziemlich genau in der Mitte des Romans begegnen sich die beiden wieder im Bus. Diesmal kommen sie beiläufig und milder gesinnt ins Gespräch. Sie steigen an derselben Haltestelle aus. Sie setzen sich in ein Café, dann folgt Stan Elsie nach Hause. Bei ihr, die ihm Unterschlupf gewährt, ohne zu wissen, was sie sich damit einhandelt, ist er vor seinem Verfolger erst einmal sicher. Elsie bietet Stan in vielerlei Hinsicht jenen Halt, den ihm zuvor nur seine Mutter geben konnte. Und er seinerseits schenkt Elsie jene Aufmerksamkeit, die sie bislang vermisste.

    Dann ziehen sie für eine Weile aufs Land, in das Haus von Elsies Onkel, der sich gerade in Spanien niederlässt. Hier leben sie so, als seien sie ein Paar. Ein Nachbarskind aus einer zerrütteten Beziehung nähert sich Elsie zutraulich, ohne Angst, und zieht sie in ihr Vertrauen. Stan lässt sich einen Bart wachsen, um weniger kenntlich und vor seinem Verfolger sicherer zu sein und gibt sich als Seemann aus, indem er vor Fremden unsägliche Seemannssprüche klopft. Man glaubt ihm. Und Elsie lernt endlich zu lügen.

    "Sie hatte nie zuvor gelogen. Außer, dass Stan ein Seemann sei. Und ihrer Mutter gegenüber, um sie zu schonen. Dass man sehr hässlich war, machte es irgendwie unnötig, Lügen zu erzählen. Weil es allen egal war, ob man die Wahrheit sagte oder nicht."

    Das war es bislang als alle sie mieden. Nun gibt es einen guten Grund zu lügen: Sie schützt Stan damit vor drohendem Unheil – das dann doch eintrifft; mehr sei hier nicht verraten. Lügen zu müssen, weil sie gebraucht wird, ist Teil der Metamorphose, die Elsie durchlebt; sie kommt fast einem Wunder gleich. Elsie gewinnt Eigenleben, Stanley Statur. Es gibt in diesem Roman keine Liebesszene, aber Liebe ist mit im Spiel. Es gibt in diesem Buch in Fülle, was bereits den "unauffälligen Mann" auszeichnete, nur dass es diesmal aufs Äußerste konzentriert ist: Leben in kleinbürgerlichen Verhältnissen. Alles ist scheinbar aus Bedeutungslosigkeit und Marginalität gemacht, aus Nebensächlichkeit und Banalität. Am Ende ist es aber doch herzzerreißend, komisch und tragisch. Vielleicht lässt sich ja Sentimentalität guten Gewissens so überzeugend nur dadurch herstellen, dass man sie in die Geschichte einer überaus hässlichen Frau und eines absoluten Verlierers kleidet. Charles Chadwick, ein Könner in der Handhabung überraschender, spannender Plots, ein liebevoller Porträtist seiner Figuren und ein Meister der Dialogführung, ist ein begnadeter Verführer seiner Leser. Neben diesem späten Debütanten sieht so mancher junge Autor ganz schön alt aus.

    Charles Chadwick. Eine zufällige Begegnung
    Aus dem Englischen von Klaus Berr
    Luchterhand 2009. 206 Seiten, 17,95 Euro.