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Wandernde Ohren

Fast ein Vierteljahrhundert lang hat Per Højholt, der große alte Mann der dänischen Lyrik, an einem Roman gearbeitet, von dem schon lange vor seinem Erscheinen im Jahre 2001 die Eingeweihten geraunt und gemunkelt hatten. Ein ganz eigenartiger Roman sei dies, an dem der Autor da in seinem abgeschiedenen Zuhause auf Jütlands Heide arbeite, ein Buch, in dem Heerscharen von wandernden Ohren die Hauptrolle spielten. In ihm werde die Geschichte der modernen Literatur und Kunst neu erzählt, und zwar aus der Perspektive einer seltsamen Spezies, die nach Højholts Willen am 7. September 1915 in einem gesamteuropäischen Moment der Stille gezeugt wurde. Die hohen Erwartungen, Højholts Roman betreffend, sollten nicht enttäuscht werden. Auricula , so sein Titel, ist gewiß eines der bizarrsten und eigenwilligsten Romanwerke des ...20. Jahrhunderts möchte man automatisch sagen, denn auch wenn es zu Beginn des 21. erschien, ist dieses Buch ganz und gar im Jahrhundert der Avantgarden, dem 20., verwurzelt. Dank Hans Magnus Enzensbergers herausgeberischer Spürnase liegt Auricula nun auch in einer – von Peter Urban-Halle kongenial übersetzten – deutschen Ausgabe vor.

Christoph Bartmann | 21.01.2004
    Wer von Per Højholt einen "Roman" im landläufig-realistischen Sinn erwartet hat (aber wer hat das schon?), der wird ungefähr ab Seite 10 enttäuscht sein. Bis dahin nämlich hat der Roman schon sein erzählerisches Pulver verschossen, das ohnehin nur in einer einzigen anekdotischen Idee steckt, der Keimidee des ganzen Romans. Es ist die Idee von der großen Stille mitten im Kriegsjahr 1915 und von der Zeugung des Geschlechts der Ohren im selben Augenblick. Højholts Fantasie will es, daß "ein Teil der Frauen, die in der ersten Junihälfte des folgenden Jahres (...) gebaren, nicht nur mit einem Kind, sondern auch mit einem Ohr (...) niederkamen", mit einem Ohr in natürlicher Größe, das an der Stelle, wo es sonst am Schädel hängt, eine Falte besaß, "die in ihrer Winzigkeit an das Geschlechtsorgan eines Hermaphroditen gemahnte."

    So weit die Versuchsanordnung von Højholts Roman oder Roman-Essay. Seiner Idee haftet etwas Humoristisches an und zugleich etwas Enzklopädisches, auch etwas vom "Spleen" der großen englischen Autoren des 18. Jahrhunderts, von Sterne und Swift; doch auch der Geist von Flauberts Bouvard und Pécuchet ist nicht weit, und ebensowenig der von Carrolls Alice im Wunderland . Nicht das Erzählen einer Handlung ist folglich Højholts Maxime, sondern der fabulierende und spielerisch theoretisierende Ausbau seiner Grundidee. "Die Stille 1915" heißt sein erstes Kapitel, worin er von den seltsamen Wanderungen der stets in Scharen auftretenden Ohren kreuz und quer durch Europa und die USA berichtet. "Museum des Zufalls" ist das zweite Kapitel betitelt, in dem die beiden Haupt-Leidenschaften der Ohren zur Sprache gebracht werden. Neben einem überbordenden Sexualtrieb ist es vor allem die Liebe zur Kunst und zur Literatur, die die Ohren umtreibt und sie Bekanntschaft mit Männern wie Kafka, Satie, Joyce und anderen schließen läßt. Die folgenschwerste Liaison gehen die Ohren freilich mit Marcel Duchamp ein, dem Protagonisten des dritten Kapitels.

    Ein Künstlerleben lang, von seinem berühmten Urinoir bis zu der schweigsamen Aleatorik der späten New Yorker Tableaus werden die Ohren Duchamp begleiten. Die Ohren und die Avantgarde, so ließe sich der Grundgedanke dieses Romans pointiert zusammenfassen, bilden seit ihrer gemeinsamen Geburt um 1915 eine Symbiose. Man darf annehmen, daß Højholt, der selbst ein entschiedener Sachwalter der klassischen Moderne ist, in seinem Roman eben ihr, der Moderne und ihren, seinen Heroen, Joyce, Kafka, Satie und Duchamp ein Denkmal setzen will. Manchmal liest sich sein Roman tatsächlich so, als seien die Ohren nichts weiter als die Statthalter seines eigenen literarischen Programms und Willens, treue Soldaten des Modernismus wie er selbst. Man kann das für eine Schwäche dieses Romans halten: wandernde Ohren mit einem Faible für Kopulation und Typographie, zugleich aber unfähig zur Begattung und zur Kommunikation (und damit auch zum Hören!) taugen als Romanfiguren nur bedingt. Da sie nicht sprechen können, gibt es in diesem Roman nur einen, der spricht und nicht aufhören kann zu sprechen: den Erzähler, den Verwalter all des kuriosen und fiktiven Wissens, das dieser Roman mit nimmermüdem Elan ausbreitet.

    Trotzdem: Højholts Kopplung von literarischer Moderne und Ohrenzeugenschaft, seine gleichsam akustische Theorie der Avantgarde, hat etwas Bestechendes. War das akustische Signal am Beginn der Avantgarde der große Knall, so ist das Signal an ihrem Ende das ‚Fading’ und schließlich die Stille. Die Nicht-Musik von John Cage oder Marcel Duchamps Langzeitarbeit am bedeutungsleeren Stilleben können das bezeugen. Wovon also handelt Per Højholts knifflig-komischer Roman-Traktat? Von der Aussaat der Stille in der modernistischen Kunst, bezeugt von niemandem als von lüsternen Ohren, die nicht einmal hören können. Aber wozu auch?

    Per Højholt
    Auricula. Roman
    Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle.
    Eichborn, 412 S., EUR 27, 50