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Wandernder Weizen

Biologie. - Tiere rennen durch die Gegend, Pflanzen stehen in der Landschaft herum. Das ist mit der augenfälligste Unterschied zwischen Flora und Fauna. Doch auch Pflanzen bewegen sich - allerdings so langsam, dass unser Auge das kaum je mitbekommt. Wie so ein pflanzlicher Motor funktioniert, haben Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam jetzt im Detail untersucht und dabei gleich Anregungen für die Mikrotechnik gewonnen.

Von Volkart Wildermuth |
    Peter Fratzl kommt aus Österreich. Aus seiner Heimat kennt der Professor für Biomaterialien einfache Wetterwarten: eine geschälte Astgabel biegt sich je nach Luftfeuchte verschieden stark durch und hilft so den Bauern, das Wetter abzuschätzen. Diesem Zusammenhang zwischen pflanzlicher Bewegung und Feuchtigkeit geht Peter Fratzl am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam mit modernsten Methoden nach. Sein Forschungsobjekt: der Samen des wilden Weizens:

    " Was man beobachten kann ist, dass sich die beiden Grannen, das sind die beiden Haare, die man am Weizenkorn sehen kann, das diese Grannen kleine Maschinen sind, die eine Art Schwingbewegung durchführen können, wenn sich die Feuchte im Laufe des Tages ändert. "

    Normalerweise ist diese Bewegung nicht zu sehen, erst der Zeitrafferfilm zeigt, wie die beiden Grannen elegant schwingen, fast wie die Beine eines Froschs. Ein solcher Grannenschlag braucht einen ganzen Tag, in der Nacht liegen die Fäden parallel, in der heißen Sonnen streben sie auseinander, um sich mit dem Abendtau wieder zusammen zu legen. Dann steckt das Samenkorn schon einen Millimeter tief im Boden, am nächsten Tag schiebt es sich weiter vor nach einer Woche ist es ganz im nährenden Erdreich verschwunden. Diese Art der gemächlichen Fortbewegung unterscheidet sich grundsätzlich vom schnellen Zucken der Muskeln.

    " Unsere Muskeln basieren ja auf Proteinen, und wir brauchen aktive Energie, um diese zu bewegen. Interessanterweise sind diese Grannen, die den Samen antreiben, gar nicht mehr am Leben. Das einzige was da lebt, ist der Samen selbst. Diese Grannen sind ein reines Zellulose-basiertes Material. Der Trick ist, dass die Zelluloseanordnung zu einem unterschiedlichen Schwellen führt an der Außenseite der Haare und der Innenseite der Harre. "

    In den Grannen finden sich zwei Materialien. Das eine gleicht Puddingpulver, es kann Wasser aufnehmen und dabei anschwellen. Das zweite Material bildet steife Fasern. Sie geben der Schwellbewegung ihre Richtung. Wenn es abends feucht wird, dehnt sich die Außenseite der Grannen deutlich stärker aus, als die Innenseite, die beiden Haare richten sich auf. Wenn die Grannen in der heißen Sonne trocknen, zieht sich ihre Außenseite stärker zusammen und biegt so das lange Pflanzenhaar. Das also ist der Motor in den Grannen. Damit er das Samenkorn auch wirklich in die Erde treibt, muss seine Bewegung gerichtet werden. Wie das funktioniert, kann man spüren, wenn man zum Beispiel die Grannen der Gerste zwischen den Fingern durchzieht. Sie fühlen sich rau an, weil sie mit winzigen Widerhaken besetzt sind. Diese sorgen dafür, dass das Samenkorn bei dem täglichen Grannenschlag nicht einfach wieder aus der Erde rutscht. Ein faszinierendes Kapitel Biologie, doch warum forscht der Physiker Peter Fratzl am wilden Weizen?

    " Für den Physiker besonders faszinierend ist es einfach, dass diese Grannen kleine Maschinen sind, die in der Lage sind, Sonnenenergie praktisch direkt in Bewegung umzuwandeln. "

    Und das lässt sich mit Hilfe der Computerchiptechnologie nachahmen, mit Fasern aus Siliziumstäbchen und einem wassersaugenden Hydrogel.

    " Durch geschickte Anordnung dieser Stäbchen erreicht man sehr komplexe Bewegungen. Man kann kleine Greifarme aufbauen, man kann pumpen, man kann Ventile bauen und solche Dinge. Im Bereich der Mikrofluidik oder im Bereich von Labordiagnostik kann man sich vorstellen, die einzusetzen. "

    Ein winziges Labor auf dem Chip könnte sich in Zukunft nach dem Vorbild des wilden Weizens betreiben lassen. Bis dahin ist noch viel Forschung nötig. Vorerst können die Wissenschaftler im Rasterelektronenmikroskop nur verfolgen, wie sich ihre künstliches Feld von Siliziumfasern aufrichtet und umlegt, aufrichtet und umlegt, fast als ob der Wind über ein mikroskopisches Weizenfeld hinweg ziehen würde. Aber natürlich bläst hier kein Wind, Fasern und Gel reagieren auf Änderungen der Luftfeuchtigkeit, genauso, wie die Grannen des wilden Weizens.