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"Wandernutten" von Theresia Walser

Mit den sexuellen Phantasien ist es so eine Sache: Man möchte sie doch lieber für sich behalten; und wer dennoch darüber spricht, macht sich fast immer lächerlich. Aber nicht alle Menschen wissen das: Sie reden sich in Talkshows um Kopf und Kragen, statt den geschützten Raum einer Therapie aufzusuchen.

Von Christian Gampert |
    Die Peinlichkeit wird noch verschärft, wenn Männer sich zu Männergesprächen treffen oder die Weiber mal so richtig von Frau zu Frau herumzicken. Hier wird dann nicht nur falsche Vertraulichkeit, sondern alsbald auch der Konkurrenzdruck sich dominant bemerkbar machen. Welch wunderbare Situation für ein Theaterstück! Die Dramatikerin Theresia Walser hat das erkannt: sie setzt vier Männer um einen Tisch und, gleich nebenan, vier Geschäfts-Frauen auf Barhocker - und fährt mit ihnen, teils mitfühlend, teils sehr sarkastisch, tief ein in den Schacht bundesdeutscher Befindlichkeits-Idiotie und Wunsch-Melancholie. Außerdem gibt es draußen im Walde, wo es schon immer etwas wilder herging, ein altgewordenes Pornodarsteller-Pärchen, pensionsreife Sex-Turner, desillusionierte Gestalten, deren Geschäft ironischerweise ja das Herstellen der Illusion, das Spiel mit der Phantasie der anderen ist. Eine einzige Gestalt nur will so etwas wie Wahrhaftigkeit für sich reklamieren: sie heißt "die Verliebte" und fragt dummerweise ausgerechnet die Pornoprofis um Rat - eine Märchenfigur, eine Suchende, die (schon Brecht hat das so gesagt) den Weg ihres Geliebten beschützen möchte und ihm (und sich) vielleicht gerade dadurch ein Bein stellt.

    Man muss nicht jedes Sprachspiel in diesem Stück für sakrosankt halten - aber der Text besticht dadurch, dass er einen eigenen, absurden Kosmos herstellt. Die Sprache, die sich in die Niederungen der Erotik begibt, hat durch ihren poetischen Rhythmus einen ganz traurigen Unterton. Aus dieser Ambivalenz - über die Dummheit der Figuren zu lachen und gleichzeitig ihre innere Traurigkeit mitzuvollziehen - gewinnt das Stück seine Stärke. Es ist eine Komödie, über die man, besonders in den Männer-Szenen, schon beim Lesen laut lachen kann wie bei Horváth - lauter sexuell aufgeladene Kleinbürger, deren verbal abgeleiteter Triebstau nicht nur Reaktionäres, sondern auch Anarchisch-Verrücktes ans Tageslicht lässt.

    Es ist freilich auch eine Komödie, die in der Katastrophe, in der Perversion endet, in der einer seine Zunge, seine Sprache verliert und den Glauben an seine Frau. Und es ist ein eher bescheiden daherkommendes, ein kleines Stück, das seine Größe erst aus der genauen Beobachtung der Personen erhält.

    Von einer Uraufführung sollte man erwarten können, dass sie das Stück tatsächlich in seiner Substanz vom Blatt spielt und für das Publikum, dem die Vorlage ja unbekannt ist, nicht ein zweites Stück hinzuerfindet. Der Regisseurin Jacqueline Kornmüller ist derlei Bescheidenheit fremd. Auf der Basis einer gerade mal unterstufentauglichen Stückanalyse hat sie fast alle ihre bisherigen Inszenierungen künstlich aufgeplustert, indem sie die Staatstheater-Bühnenmaschine groß in Gang setzte - bunte, weite Bilder ohne Hirn, Theater aus der Boutique. Fassbinders altbackene "Bremer Freiheit" wurde so allen Ernstes zum mörderischen Emanzipationsdrama der unterdrückten Frau, und Horváths Sprachwitz ersoff in der schönen blauen Donau.

    Theresia Walsers "Wandernutten" nun, die alle verschämte, lächerliche, sich selbst entfremdete Glückssucher sind, sitzen bei Kornmüller nicht am Tisch, sondern sie fahren mit Lieferwagen und Cabrio in eine staubige Beckett-Landschaft irgendwo auf dem Mond. Die Geschäftsfrauen sitzen nicht auf Barhockern, sondern auf dem Klo. Sie trinken mit drei Meter langen Strohhalmen - so weit ist die Regie vom Stück entfernt. Die Männer sind eine nudistisch aufgeblähte Mischung aus Halbstarken-Gang, Saunabesuchern und Vatertags-Ausflug. Die Verliebte ist eine wirre Clownin, die Porno-Darsteller sind verwitterte Reptile.

    Alles atmet antikische Größe und spießiges Staatstheater-Pathos und Pseudo-Bedeutsamkeit oder geht in Gebrüll oder Partytalk unter; jedes sprachliche Bild muss noch einmal herbeigestikuliert und ins Schaufenster choreographiert werden, seichte Musik suppt als jede Szene zu. Der tendenziell Schwule unter den Männern lässt die Hose runter und steht in Strapsen da, die Mannequin-ähnlichen Managerinnen kopulieren die Fusion mit einer anderen Firma pantomimisch herbei. Die Poesie des Textes wird gekillt, sein Witz ist beim Teufel, und das Erstaunliche ist, dass dieses Stuttgarter Zeigefinger-Hysteriker-Theater, diese Stückzerstörung, diese Autorinnenvernichtung ausgerechnet von einer Frau ins Werk gesetzt ist, von einer unterklassigen Regisseurin, über die freilich der Intendant Friedel Schirmer seine schützende Hand hält. Er gräbt sich damit sein eigenes Grab.