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Wanderung in den Lechtaler Alpen
Das Tal der Kräuter

Der Lech ist einer der letzten Wildwasserflüsse Europas. Die Natur befindet sich hier noch in einem nahezu unberührten Zustand. Das Tal gilt als Heilpflanzenparadies und ist das Reich der Lechtaler Kräuterhexen.

Von Adama Ulrich |
    Gelber Enzian mit Gipfeln der Alpspitze und des Hochblassen.
    Enzian stärkt das Immunsystem. (Imago / CHROMORANGE)
    "Ein Bauch, der nicht verdaut, beruhigt sich gleich mit Ruprechtskraut."
    Josef Wildanger, auch Jo genannt, spaziert zufrieden durch seinen Heilpflanzengarten – im Schlepptau 15 Frauen.
    "Dass ist ja schon fast furchterregend, so viele Hexen im Tal. Auf der anderen Seite ist es ja recht, wenn möglichst viele Heilkräuter wieder ein bisschen Leben erfahren. Und wer ist da geeigneter als die Heilkräuterhexen."
    Die Rede ist von den Lechtaler Kräuterhexen. Vor ein paar Jahren haben sie eine Ausbildung zu Kräuterpädagoginnen absolviert und den Verein "Lechtaler Kräuterhexen" gegründet. Seit dem dreht sich bei ihnen fast alles um das gesunde Grünzeug. Verena Amann leitet den Verein.
    "Mit den Kräutern ist das wirklich so, wenn man einen Freundeskreis hat, wie ich die Kräuterhexen, den Verein, alle haben die Begeisterung, man stachelt sich da gegenseitig auf. Es wird immer mehr, immer schlimmer. Alles dreht sich um das Thema. Vom Kochen zum Leben, das ist ein Kreis, der sich ewig dreht."
    60.000 Bittereinheiten im Enzian
    Der Heilpflanzengarten von Jo Wildanger befindet sich am Rande von Steeg, einer kleinen Gemeinde mit knapp 700 Einwohnern am oberen Ende des Lechtals. Er liegt verwunschen auf einer Anhöhe, umringt von großen Bäumen. Von Jo Wildanger können selbst die Kräuterhexen noch etwas dazu lernen. Der Schuldirektor bildet auch Kräuterpädagogen aus und weiß schier alles über die hiesigen Pflanzen.
    "Der Enzian ist die bitterste Pflanze unserer Heimat. Mit 60.000 Bittereinheiten eine der bittersten Pflanzen überhaupt. Und wie ihr ja wisst, Enzian ist auch zur Stärkung des Immunsystems. Ich bin ein Vertreter der Stärkung des Immunsystems. Wenn man das Immunsystem stärkt, dann stärkt man die Gesundheit."
    Einer der letzten Wildwasserflüsse Europas
    Das Lechtal liegt im Westen Österreichs nahe der Grenze zu Bayern. Ihren Namen verdankt die Region dem gleichnamigen Fluss. Der Lech fließt durch das gesamte Tal. Der Name "Lech" ist keltischen Ursprungs und bedeutet schnellfließend und steinreich. Dem Gestein der Berge verdankt der Fluss auch seine klare türkis-blaue Farbe.
    Als einer der letzten Wildwasserflüsse Europas prägt er Land und Leute. Zahlreiche Bächlein durchziehen Berghänge und Almwiesen wie kleine Adern. Sie sorgen für eine üppige Vegetation. Das Lechtal wird auch Tal der Kräuter genannt.
    "Das Lechtal ist ein Heilpflanzenparadies. Es ist in den vergangenen Jahren etwas in Vergessenheit geraten, dass wir einen Reichtum an Heilpflanzen haben. Für mich war es auch als Lehrer ungeheuer wichtig, den Jugendlichen zu sagen, was für wunderbare Pflanzen wir haben. Wenn man das weitergeben kann, umso besser ist es für die Leute. Früher war es eine Selbstverständlichkeit und heute ist das Ganze wieder im Kommen."
    Im Heilpflanzengarten von Jo Wildanger geht die Führung weiter.
    "Meisterwurz, wie der Name schon sagt, ist eine meisterliche Pflanze. Man hatte ihn früher als Hausapotheke, als Heilpflanze immer zuhause. Allein die Blätter schon sind zusammenziehend, desinfizierend. Also eine Pflanze, die eine ganz große Wirkung hat. Wenn man eine Wunde hatte, wenn es geblutet hat oder eine eitrige Wunde, dann hat man die Blätter drauf gebunden und hat das mit einem Verband etwas umwickelt. Das hat bewirkt, dass die Wunden schnell verheilt sind. Also eine meisterliche Pflanze."
    Frau: "Beschleunigt die Wundheilung."
    Jo: "Ganz intensiv."
    "Also, wenn ihr mir helft, Spitzwegerich zu sammeln. Ihr kennt ja alle den wunderschönen Spitzwegerich. Er hat eine ganz gute Funktion, wenn es darum geht, Heiserkeit, Verschleimung, Husten zu beseitigen. Da gib es etwas ganz tolles: Wenn man den Spitzwegerich nimmt, dann zupft man ihn in kleine Stückchen und streut auf diesen Spitzwegerich braunen Zucker drauf. Und noch mal Zucker und noch mal Spitzwegerich drauf."
    Frau: "Und das ist vor allem auch eine tolle Medizin für Kinder, weil es lecker schmeckt."
    Ein "Hustensaft" aus Spitzwegerich
    Wenn keine Schichten Zucker und Spitzwegerich mehr in das Einweckglas passen, verschließt es Jo Wildanger und vergräbt es an einer schattigen Stelle in seinem Heilpflanzengarten.
    "Es bleibt dann den ganzen Sommer in der Erde drinnen und im Herbst graben wir diesen Schatz aus. Das gibt dann einen pechschwarzen, süßlichen, zähen Saft."
    Einen Hustensaft.
    Ein Stück unberührte Natur
    Der Lech trennt die Gebirgszüge der Allgäuer Alpen und der Lechtaler Alpen. Er entspringt beim Formarinsee im Lechquellengebirge und beginnt seinen Lauf bei Lech am Arlberg bis er nach über 250 Kilometern Flusslauf in die Donau mündet. Besonders reizvoll ist das Lechtal zwischen den Tiroler Orten Forchach und Steeg. Die Natur befindet sich hier noch in einem nahezu unberührten Zustand, wie in kaum einem anderen Alpental vergleichbarer Größe.
    "Guck mal Simone, da ist toller Holunder."
    "Ja, da können wir einen Sirup ansetzen und einen Likör."
    Die Kräuterhexen organisieren regelmäßig Kräuterwanderungen. Manchmal bleiben sie im Tal, oft gehen sie aber auch hoch auf die malerischen Bergwiesen. Auf dem Weg dorthin überqueren sie eine der längsten Fußgänger-Hängebrücken Österreichs. Die 200 Meter lange Brücke führt auf einer Höhe von 110 Metern über die Höhenbachschlucht. Die Aussicht ist spektakulär – nur Höhenangst sollte man nicht haben.
    "Um so höher, um so mehr müssen die Pflanzen ums Überleben kämpfen, um so mehr sind sie wirkstoffreich, sind sie stark in ihrer Intensität. Das kann man nicht vergleichen: unten eine Pflanze auf einer Wiese und auf einer Alm eine Pflanze. Das sind riesen Unterschiede im Wirkstoffgehalt der Pflanze. Drum liebe ich das so, irgendwo in die Höhe zu steigen fernab von allem."
    Vielfältige Pflanzenwelt auf der Alm
    Verena Amann ist von Beruf Kosmetikerin. Auch dafür kommen ihr ihre Wildkräuterkenntnisse zugute. Sie bereitet daraus entspannende Gesichtsmasken oder erfrischende Fußbäder. Hier oben auf der Alm ist die Pflanzenvielfalt besonders groß.
    "Das ist jetzt eigentlich allerhand verschiedenes: Bergbaldrian, Frauenmantel, Rotklee. Der ist für mich besonders wichtig. Das ist das Soja der Alpen sagt man. Das ist so die Schönheitspflanze, die Anti-Age-Pflanze. Dann haben wir das Günzel, das Blatt vom Frauenmantel, das in keinem Tee fehlen darf, vor allem für die Frauentees. Die wilde Karotte, im Geschmack ganz toll."
    Verena Amann stammt aus der gut 600 Einwohner zählenden Gemeinde Bach im oberen Lechtal. Sie lebt hier mit ihrer Mutter, ihrem Mann und vier Kindern.
    Viele Menschen verlassen das Lechtal, und ziehen in die umliegenden Städte. Dort gibt es mehr Arbeit, mehr Läden, mehr Kinos, mehr von allem. Für Verena Amann käme das trotzdem nicht infrage.
    "Die Natur, die Ruhe, wenn ein Bach rauscht und sonst nichts, ein Vogel pfeift und man hört nur seine Schritte durchs Gras, das ist ein unheimlich tolles Gefühl, mit nichts zu vergleichen."
    "Das ist roter?"
    "Ja roter Holunder."
    "Der ist für alles gut, ganz was Gesundes und ein ausgezeichneter Saft."
    "Was ist das?"
    "Schafgarbe, die Augenbraue der Venus auch genannt."
    "Und das?"
    "Wiesensalbei."
    "Salbei, genau. Mir fiel es gerade nicht ein."
    Die Kräuterhexen sind zurück im Tal, genauer in Holzgau, einem 430-Seelen-Dorf. Viele Häuser haben hier kunstvoll bemalte Fassaden – bekannt als "Lüftlmalerei". In der Zeit von 1780 bis etwa 1840 kehrten die vor allem in den Niederlanden tätigen Händler in ihre Heimatdörfer zurück und entschlossen sich, ihre Häuser neu zu gestalten. Diese besondere Art der Fassadenmalerei mit Anleihen aus der Schlossarchitektur und der Kirchenmalerei war ein besonders eindrucksvolles Mittel, um Reichtum und Erfolg zu demonstrieren.
    In Holzgau befindet sich auch die Kräuterwerkstatt von Simone Knitel. Die gebürtige Sächsin hat es vor mehr als 20 Jahren ins Lechtal verschlagen. Zuerst hat sie sich in die Blumenwiesen verliebt und dann in einen Mann.
    "Ich habe mich eigentlich schon als Kind für Pflanzen und Kräuter interessiert. Als ich in Holzgau gelandet bin, war ich total positiv überrascht von der Artenvielfalt. Ich habe mir eine Enzyklopädie gekauft und bin auf Suche gegangen ..."
    Tinkturen, Salben, Tees, Blütenzucker und Kräutersalzen
    Vor einigen Jahren hat Simone Knitel dann eine Ausbildung zur Kräuterpädagogin absolviert. In der Kräuterwerkstatt im Souterrain ihres Wohnhauses duftet es wie auf einer Blumenwiese. Hier werden die gesammelten Kräuter zu Tinkturen, Salben, Tees, Blütenzucker und Kräutersalzen verarbeitet. Die Frauen sitzen auf Bierbänken an einem langen Tisch, die Wildkräuter vor sich ausgebreitet, und fachsimpeln.
    "Löwenzahn ist eine ganz wichtige Pflanze. Man kann alles verwenden. Von der Wurzel, die Stengel, die Blüte. Die Stengel kann man essen, sie sind ein gutes Allheilmittel. Die kann man sogar in Essig einlegen. Die Knospen kann man einlegen. Aus den Blüten kann man Sirup machen und die Blätter kann man ins Kräutersalz oder auch in den Salat tun oder wenn man spazieren geht, einfach essen. Sehr gesund."
    Die Kräuterhexen und ihre Gäste können die fertigen Wildkräuterprodukte mit nach Hause nehmen. Bis zur nächsten Wanderung entlang des Lech’s oder über die höher gelegenen Bergwiesen sind die Tees, Salze und Salben sicherlich aufgebraucht. Für so manche Kräuterhexe ist die Suche nach Wildkräutern und Heilpflanzen schon fast zu einer Obsession geworden.
    "Mein Mann sagt, mit mir kann man nicht mehr wandern gehen, weil, ich schaue nur, was neben dem Weg wächst. Aber er fragt schon immer, was ist das. Also er ist schon dabei."