Dass Sozialdemokraten und Gewerkschaften - derselben Wurzel entsprungen - aufeinander angewiesen sind und die Partei doch mehr sein muss als der parlamentarische Arm der Arbeiterbewegung, meinen wir uns schon an den Schuhsohlen abgelaufen zu haben!
So sah Willy Brandt 1988 zum 125jährigen Jubiläum der Partei das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie. Doch heute ist die Ehe zerrüttet, in der zweiten Legislaturperiode von Gerhard Schröder hat es Krisensitzungen zuhauf gegeben. Seit Wochen steht der 5. Oktober als Termin fest: Im SPD-Gewerkschaftsrat, dem neben der Parteispitze alle Gewerkschaftsführer mit sozialdemokratischem Parteibuch angehören, soll ein neuer Versöhnungsanlauf unternommen werden. Das ist dringend erforderlich, denn der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes führt weiter eine Front gegen die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung an. Dabei lässt sich Michael Sommer von seiner Zugehörigkeit zur SPD nicht beirren:
Ich habe meine Mitgliedschaft in der SPD immer so verstanden, dass ich als Gewerkschafter in der SPD bin und nicht als SPD-Mann in der Gewerkschaft, das ist offenbar ein Missverständnis, wo einige Leute meinen, sie könnten das umdrehen.
Viele Gewerkschafter haben bereits die Konsequenz gezogen und der Partei den Rücken gekehrt, einige liebäugeln mit einer neuen Linkspartei. Plötzlich sieht sich die alte Arbeiterpartei der Wut der Arbeiter gegenüber, ein sozialdemokratischer Kanzler wird auf Gewerkschaftskundgebungen gnadenlos ausgepfiffen.
Bis jetzt wusste ich nicht, dass Trillerpfeifen zu den gewerkschaftlichen Argumenten gehören.
Ein Blick in die gemeinsame Geschichte zeigt, dass das Verhältnis nie gänzlich spannungsfrei war. Aber diesmal geht es um existenzielle Fragen, darum ob Gewerkschaften und Sozialdemokraten auch weiterhin einen gemeinsamen Weg beschreiten.
Seit den Tagen Ferdinand Lassalles zogen Gewerkschaften und Sozialdemokraten stets an einem Strang, gestärkt aus dem Verbot der Sozialistengesetze hervorgegangen, gemeinsam für demokratische Rechte kämpfend, konnten sie in der Weimarer Republik erste Erfolge beim Aufbau des Sozialstaates feiern. Den Kampf gegen den Faschismus verlieren sie, Gewerkschafter und Sozialdemokraten werden gleichermaßen von den Nationalsozialisten verfolgt.
Dann der Neuanfang, gemeinsames Ringen um die Mitbestimmung in den Betrieben, das Streiten für mehr Arbeitnehmerrechte. Die Erwartungen der Gewerkschaften sind groß, als die SPD erstmals nach dem Krieg Regierungsverantwortung übernimmt, doch sie kann ihnen in der Koalition mit der CDU nicht gerecht werden. 1968 sorgt zudem die Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze für erhebliche Spannungen im Verhältnis von SPD und DGB. Um dem entgegenzuwirken, gründet Willy Brandt als Parteivorsitzender den Gewerkschaftsrat:
Die SPD kann erstens nicht Gewerkschaftspartei sein, weil die Gewerkschaften überparteilich zusammenhören, es sind nicht nur Sozialdemokraten drin, und zweitens, weil die Funktionen unterschiedlich sind, also ich bin für möglichst starke Nähe, aber nicht dafür, dass der eine dem anderen Vorschriften macht!
Doch auch in der sozialliberalen Koalition kommt es zu Differenzen - mit der FDP sind viele gewerkschaftliche Ziele nicht durchsetzbar. Unter Helmut Schmidt fordern die Liberalen Einschnitte am Sozialstaat, die weit über das hinausgehen, was der Kanzler den sozialdemokratischen Gewerkschaftern im eigenen Lager zumuten kann:
Natürlich gibt es auch Grenzen des Zumutbaren, auch für uns Sozialdemokraten, auch für mich, wir wollen nicht die allgemeine Nachfrage und die Volkswirtschaft und das soziale Netz kaputt sparen!
Mit dem Ende der sozialliberalen Ära verlieren die Gewerkschaften auf politischer Ebene weiter an Gewicht: Streichungen bei der Unterstützung für Arbeitslose, Beitragsanhebungen bei der Sozialversicherung, Verschiebung von Rentenanpassungen bedeuten Eingriffe in gewerkschaftliche Errungenschaften. Gemeinsam kämpfen Sozialdemokraten und Gewerkschafter gegen weitere Verschlechterungen - 1996 protestieren in Bonn 350.000 Menschen für "Arbeit und soziale Gerechtigkeit", zugleich das Motto, das der DGB 1998 in eine millionenschwere Kampagne zugunsten der SPD steckt.
Gerhard Schröder: Die neue Mitte hat sich entschieden, sie ist von der SPD zurückgewonnen worden!
Die Wahlkampfhilfe des DGB zahlt sich aus: Unter Gerhard Schröder wird eine Verschlechterung des Kündigungsschutzes zurückgenommen, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wiederhergestellt. Mit der Steuerreform werden Geringverdienende entlastet, das Kindergeld wird erhöht. Schröder vergisst nicht, wem er den Wahlsieg mitzuverdanken hat. Zugleich aber wird ihm immer klarer, dass der Sozialstaat kaum noch zu finanzieren sein wird. Kurskorrekturen in der Sozialpolitik zeichnen sich ab - vor der Wahl 2002 bleibt die große Unterstützung der Gewerkschaften aus - noch aber kommt es auch nicht zu Protesten von Gewerkschaftsseite - im Sog von Irak-Krieg-Ablehnung und Elbe-Flut gelingt der SPD am 22.September 2002 ein Zittersieg.
Kurze Zeit scheint es so, als sei der Wahlsieger nun den Gewerkschaften hörig. Der Spiegel zeigt die Illustration eines Kanzlers, der die Arbeiterfahne hochhält, "Genosse Schröder" steht auf dem Titel - einer, der von Reformen nichts mehr wissen will. Eine Fehleinschätzung - die wahre Auseinandersetzung mit den Arbeitnehmervertretern steht erst bevor:
Wir werden diese vier Jahre nutzen, um den größten Umbau der sozialen Sicherungssysteme in der Geschichte der Bundesrepublik zu bewerkstelligen!
Die Agenda 2010, die Gerhard Schröder am 14. März 2003 im Bundestag vorlegt, kommt einer Kriegserklärung an die Gewerkschaften gleich. Plötzlich geht es nicht mehr darum, Besitzstände der sozial Schwachen zu wahren und zu mehren, plötzlich geht es um tiefe Einschnitte im System. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer sagt dem Kanzler den Kampf an:
Die deutschen Gewerkschaften sind Einheitsgewerkschaften, sie sind nicht der Vorhof irgendeiner politischen Partei, auch nicht der SPD, und dass wir uns natürlich jetzt an einigen Stellen besonders enttäuscht fühlen von der Sozialdemokratie, weil sie auch andere Wahlversprechen gemacht hat, das muss man verstehen, und da bin ich auch der Meinung, da tut es dieser Demokratie gut, wenn wir diesen Konflikt austragen!
Einschnitte beim Kündigungsschutz, Kürzungen bei den Leistungen für Arbeitslose, Verschlechterungen für die Rentner, Wegfall des Arbeitgeberanteils beim Krankengeld. Auch sozialdemokratische Abgeordnete bekommen bei dieser Radikalkur Bauchschmerzen. Ottmar Schreiner, Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen:
Die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer haben sich bei den letzten Bundestagswahlen 1998 und 2002 in meinem Maße wie kaum zuvor in der Geschichte der Republik für eine sozial gerechte Politik eingesetzt, und wenn dann wenige Monate nach den Bundestagswahlen das Wahlprogramm in zentralen Punkten verlassen und verletzt wird, dann muss man sich nicht wundern, wenn Gewerkschaften enttäuscht sind. Es kommt hinzu, dass gerade vor dem aktuellen Hintergrund der Hartz IV-Gesetzgebung es natürlich ans Eingemachte geht: Wenn in Zukunft Arbeit auch dann zumutbar ist, wenn Einkommen unterhalb der Sozialhilfeschwelle ausgezahlt werden, dann führt das zu einem massiven Druck auf das gesamte Lohngefüge nach unten, und damit sind die Gewerkschaften in ihren Kernbereichen gefordert.
Mit der Agenda 2010 bahnt sich ein Wandel im Verhältnis von Sozialdemokraten und Gewerkschaften an. Die Reformen rütteln an den Grundfesten alter Ziele der Arbeiterbewegung. Jahrzehntelang war die Politik davon ausgegangen, dass die hohen Arbeitskosten in Deutschland nur durch besonders hohe Produktivität kompensiert werden könnten, jahrzehntelang war anerkannt, dass Deutschland ein Hochlohnland ist und ein staatlich geförderter Niedriglohnsektor das Gehaltsgefüge generell unter Druck bringen würde. Jetzt erfolgt die Abkehr von diesen Grundsätzen. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik mit staatlichen Beschäftigungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose tritt in den Hintergrund, statt dessen wird versucht, Erwerbslose auch durch Annahme schlecht bezahlter Jobs zurück in eine geregelte Tätigkeit zu bringen. Selbst ältere Arbeitnehmer über 55 Jahre gelten wieder als vermittelbar.
Dahinter steckt eine Erkenntnis: Jahrelang führte die Frühverrentung dazu, dass sich Unternehmer eines Großteils ihrer Arbeitnehmer entledigen konnten - unter Inkaufnahme einer langen Phase der Arbeitslosigkeit, die öffentliche Kassen und Sozialversicherung über Gebühr strapazierte. Statt die Arbeitszeiten weiter zu verkürzen, um auf diesem Wege für mehr Beschäftigung zu sorgen, schlägt Schröder - vehement unterstützt von Arbeitsminister Wolfgang Clement - den umgekehrten Weg ein: Längere Arbeitszeiten und die Streichung von Feiertagen sollen den Unternehmern ermöglichen, Kosten zu senken. Damit könnten sie konkurrenzfähiger werden und am Ende auf diese Weise für zusätzliche Einstellungen sorgen.
Wolfgang Clement: Es wird insgesamt eine Reform des Arbeitsmarktes sein, die zu den tiefgreifendsten gehört, die wir in der Geschichte der Bundesrepublik vorgenommen haben!
Kürzungen bei den Leistungen für Arbeitslose bei gleichzeitiger Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln sorgen vor allem im alten sozialdemokratischen Arbeitermilieu für Unverständnis. Gerade dort müssen die Sozialdemokraten den größten Aderlass verkraften, aber auch den Gewerkschaften laufen die Mitglieder davon. Allein im Jahr 2003 kehren 400.000 Menschen dem Deutschen Gewerkschaftsbund den Rücken. Vergeblich müht sich der DGB-Vorsitzende, der Konfrontation die Schärfe zu nehmen:
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, lieber Gerhard, also Leute, aber Leute, ich werde doch hier keine Komödie spielen und nicht sagen, dass ich den Bundeskanzler normalerweise duze, ich bin doch auch Mitglied der SPD, nur anderer Meinung als er!
Dabei gilt Michael Sommer als moderater Gewerkschaftschef, einer aber auch, der sich in den eigenen Reihen nicht durchsetzen kann, vor allem nicht gegen die Chefs der mitgliederstärksten Einzelgewerkschaften, gegen Jürgen Peters von der IG Metall und gegen Frank Bsirske, Verdi-Vorsitzender mit grünem Parteibuch. Bsirske hatte neben Schröder vor allem Arbeitsminister Wolfgang Clement scharf attackiert:
Wenn Clement erfolgreich sein will, muss er sich nicht mit den Gewerkschaften anlegen, sondern er muss nach gemeinsamen Lösungen suchen!
Der Minister wird zur Symbolfigur des Hasses gegen die Arbeitsmarktreformen. Tatsächlich versucht er kompromisslos, die Fusion von Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfe durchzubringen. Vieles, was auf Drängen von Gewerkschaftern bereits entschärft worden war, ist nach den Verhandlungen mit der Union im Vermittlungsausschuss wieder so auf den Tisch gekommen wie von Wolfgang Clement gewünscht. Fritz Schösser, SPD-Abgeordneter und zugleich Vorsitzender des DGB in Bayern, weigert sich allerdings, der rot-grünen Regierung zu folgen:
Die Gewerkschaften sind Einheitsgewerkschaft und sind verpflichtet überparteilich zu sein, sie sehen ja, dass die Gewerkschaften deutlich abrücken, wenn im Grunde sichtbar wird, dass auch die SPD immer weniger bereit ist, gewerkschaftliche Grundpositionen umzusetzen, wobei ich klar und deutlich sagen will: die SPD ist nach wie vor die Partei, wo die Gewerkschaften am ehesten Vertrauen haben können, dass die Grundwerkzeuge nicht in Frage gestellt werden, wie beispielsweise die Tarifautonomie, wie beispielsweise die Mitbestimmung, wie beispielsweise das Betriebsverfassungsgesetz, wie beispielsweise die weitere Aushöhlung des Kündigungsschutzes, wenn die Gewerkschaften über solche Werkzeuge nicht mehr verfügen, dann gnade ihnen Gott!
Anders als Schösser macht sein Fraktions- und Gewerkschaftskollege Klaus Brandner weiter guten Gewissens für die SPD Politik im Bundestag. Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, zugleich IG Metallgeschäftsführer in Gütersloh, mahnt seine Freunde in Partei und Gewerkschaft:
Wir leben in einer Zeit großer Umbrüche, wenn ich allein die demographische Veränderung mir anschaue, sind die so gravierend, dass ein Weiter-so nicht weiter hilft, und dass die Probleme, die wir haben, nicht nur in Verteilungsfragen zu regeln sind. Die strukturellen Veränderungen sind so riesig, denen muss man sich stellen und wenn man selbst unter Druck gerät, möchte man natürlich nicht noch zusätzliche Verunsicherung hinnehmen, das ist auch das Problem der Gewerkschaften, die selbst unter großen Umbruch-Gesichtspunkten arbeiten müssen, und aus diesem Grund heraus klammern sie sich eher an diejenigen, die eigentlich alles so beibehalten möchten wie es ist, eher etwas zusätzlich noch zu verteilen, und das ist zur Zeit nicht machbar!
Auch Franz Müntefering, SPD-Fraktions- und Parteivorsitzender, fordert die Gewerkschaften immer wieder auf, von ihrer ablehnenden Haltung zu den Arbeitsmarktreformen abzuweichen:
Meine Erwartung an die Gewerkschaften ist, dass sie nicht nur sagen, was sie nicht wollen, sondern was sie wollen, wie sie sich denn die Lösung der Probleme, die es ja zweifellos gibt, vorstellen!
Doch zunächst führen die Gewerkschaften einen Eklat herbei. Im Herbst 2003 lassen sie provokativ ein Treffen des SPD-Gewerkschaftsrates platzen, auf Drängen ihrer Hardliner. Eine Entscheidung, die der DGB-Vorsitzende selbst für falsch hält, ebenso wie der Kanzler-Freund Hubertus Schmoldt, Chef der IG Bergbau, Chemie und Energie. Ihm kommt einmal mehr die Rolle des Schlichters zu:
Wer Politik in diesem Lande gestalten will, muss gesprächsfähig sein, auch bleiben, das müssen auch die Gewerkschaften!
Deutlich zeigt sich die Zerstrittenheit der DGB-Einzelorganisationen über die richtige Strategie im Kampf gegen den Sozialabbau. Schmoldt spricht sich für weitere Reformen aus - Verdi und IG Metall hingegen gehen deutlich auf Konfrontation zur Bundesregierung. Frank Bsirske lässt den Kanzler via Zeitungsinterview wissen, seine Politik sei gescheitert. Anfang Juli dieses Jahres kommt es im Gewerkschaftsrat zu einem lautstarken Wutausbruch des Bundeskanzlers. Auch IG Metall Chef Jürgen Peters trifft an diesem Abend dessen ganzer Ärger: Einerseits bei Siemens der 40 Stunden Woche zuzustimmen und ihm gleichzeitig vorzuwerfen, seine Politik sei unsozial, das passt für den Sozialdemokraten nicht zusammen. Ein schlüssiges Argument, meint auch der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler:
Es ist die Aufgabe der Gewerkschafter, für den Besitzstand ihrer Leute zu kämpfen, ich bin selber länger Gewerkschafter als ich Sozialdemokrat bin, also da habe ich überhaupt kein Problem damit, aber ich sehe ja auch, dass die Gewerkschaften wie zum Beispiel jetzt bei Siemens der stolze Jürgen Peters eben fünf Stunden Mehrarbeit ohne Lohnzahlung zugestehen muss, und andere machen das ähnlich, und wer sich auskennt, der weiß, dass die Betriebsräte und die Gewerkschafter in ihrer eigenen Alltagspolitik viel näher an der Wirklichkeit sind als sie es in ihrer politischen Argumentation sind.
Fritz Schösser, den Fraktionskollegen und Gewerkschaftsfunktionär aus Bayern, vermag er damit nicht zu überzeugen. Er ist es leid, sich immer wieder anhören zu müssen, Gewerkschafter seien selbstgerechte unflexible Besitzstandswahrer:
Den Quatsch kann ich nicht mehr hören: Wir haben im Augenblick die Situation, dass Arbeitnehmer von beiden Seiten in die Zange genommen werden. Ich zähle Ihnen mal auf, was nahezu allen Arbeitnehmer über die letzten zwei, drei Jahre passiert ist: Weihnachtsgeld weg oder gekürzt, Urlaubsgeld weg oder gekürzt, Lohnerhöhungen ausgesprochen moderat, Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich. Auf der anderen Seite ist der Gesetzgeber tätig geworden: Weniger Anspruch in der Alterssicherung, mehr Zuzahlung bei der Gesundheitsreform, weniger Anspruch bei der Bundesanstalt für Arbeit, und jetzt erzählen Sie mir mal, wo im Vergleich die Wirtschaft solche Positionen eingebracht hat, den Wirtschaftsstandort Deutschland wieder nach vorne zu bringen.
Gerhard Schröder dagegen ist überzeugt: Es fehlt den Gewerkschaften am nötigen Realitätssinn. In der von lauten Worten geprägten Sitzung des Gewerkschaftsrates keilt er gegen den ungeliebten Verdi-Vorsitzenden zurück: "Für die deutschen Gewerkschaften stellt sich doch heute die Frage, ob Leute, die inhaltlich nichts anzubieten haben wie Herr Bsirske ihre Strategie bestimmen sollen!" Dass das Kriegsbeil zwischen SPD und Gewerkschaften tatsächlich begraben wird, ist fraglich. Anfang September lädt Gerhard Schröder die Gewerkschaftsvorsitzenden ins Kanzleramt, und wieder gibt es keine Annäherung. Jürgen Peters drängt weiter auf Änderungen an Hartz IV:
Wir wollen, das, was heute ist, korrigieren, denken Sie mal an die Zumutbarkeitsregeln, denken Sie mal an Arbeitlosengeld 2, wo wir sagen, hier sind unbotmäßige Härten, und diese Härten muss man mildern:!
Als Minimalkonsens wird nun herausgegeben, erst einmal zu beobachten, ob die Reformen tatsächlich zu sozialen Ungerechtigkeiten führen. Zudem versuchen die Sozialdemokraten, die Lage an anderen Fronten zu entschärfen: Via Deutschlandfunk stößt SPD-Chef Franz Müntefering eine Debatte über die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes an, gleichsam ein Zuckerbrot, um den Gewerkschaftsprotest gegen Hartz IV zu dämpfen:
Darüber diskutieren wir im Augenblick im Gewerkschaftsrat der SPD mit den Gewerkschaften zusammen, ein Teil der Einzelgewerkschaften des DGB ist für Mindestlohn, ein Teil nicht, und ich möchte gern auch mit den Kollegen darüber sprechen. Eigentlich sagen wir ja, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen miteinander vereinbaren, was denn die Bedingungen für die Löhne und die Arbeitsbedingungen sind, wenn man dann einen Mindestlohn einführt, staatlicherseits, dann ist das natürlich in gewisser Weise eine Begrenzung der Tarifautonomie im unteren Bereich, und die große Frage wäre dann, wie hoch ist der Mindestlohn, für welche Branchen, für welche Zeit, ich möchte jedenfalls, dass wir das zusammen mit den Gewerkschaften organisieren und nicht gegen sie!
Doch die Diskussion über den Mindestlohn offenbart zugleich die Uneinigkeit der Gewerkschaften. Und so dürfte der Müntefering-Vorstoß vor allem taktischer Natur sein - im Grunde weiß der SPD-Vorsitzende allzu gut, dass die Gewerkschaften nicht bereit sein werden, einen Teil ihrer Tarifautonomie abzugeben. Als Instrument, das zerrüttete Verhältnis von SPD und Gewerkschaften wieder ins Lot zu bringen, dürfte der Mindestlohn kaum tauglich sein, und auch das Gerangel um die Ausbildungsplatzabgabe war nicht dazu angetan, die Situation zu entkrampfen. Hatte es zunächst so ausgesehen, als sei Franz Müntefering fest entschlossen, den Gewerkschaften mit einer gesetzlichen Umlage entgegenzukommen, so grenzt das plötzliche Ende dieser Planungen für Gewerkschafter beinahe an Hochverrat. Ist der Bruch zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokraten also unabwendbar? Klaus Brandner:
Nein - ich bin davon überzeugt, dass man ohne Partner, mit dem man in einem überwiegenden gleichen Gedankengut tätig ist, Wahlen nicht gewinnen kann!
Sollten allerdings die unzufriedenen Rebellen zumeist aus dem Lager der IG Metall mit der Drohung ernst machen, eine neue Linkspartei zu gründen, sollten sich gar Oskar Lafontaine und Gregor Gysi zu deren Gallionsfigur machen, wäre das eine ernstzunehmende Gefahr, die zu einer Spaltung von sozialdemokratischem und Gewerkschaftslager führen könnte.
Gerhard Schröder und die SPD hoffen vor allem auf eine wirtschaftliche Erholung. Erst ein konjunktureller Aufschwung mit einem deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit wird dazu führen, dass die Proteste der Arbeitnehmer nachlassen und der Einfluss der Gewerkschaften auf die Politik wieder nachlässt. Viel Neues kann die abendliche Sitzung des Gewerkschaftsrates kaum bringen. Sie ist wohl allenfalls ein neuer Anlauf, wieder etwas gepflegter miteinander umzugehen und den Arbeitnehmervertretern zumindest den Eindruck zu geben, als könnten sie die Politik der rot-grünen Bundesregierung noch mitgestalten. Und SPD-Chef Müntefering setzt ganz darauf, dass der DGB auch im eigenen Interesse den Konflikt mit den Sozialdemokraten nicht ausreizen wird:
Ich glaube, dass Michael Sommer in Person, aber auch die anderen Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften sehr wohl wissen, dass wir da in einer ganz schwierigen Situation sind, dass wir zum Beispiel aufpassen, dass die Fundamentalisten links und rechts nicht das Sagen bekommen!
220.000 der knapp 630.000 SPD-Mitglieder sind gewerkschaftlich organisiert. Die Partei kann auf alte Parteisoldaten mit traditioneller gewerkschaftlicher Bindung kaum verzichten, andererseits würden die Gewerkschaften ohne einen starken parlamentarischen Arm auf politischer Ebene in die Bedeutungslosigkeit rutschen. An einer Scheidung kann somit keiner der beiden Partner interessiert sein. Aus der einstigen Liebesheirat aber ist längst eine Zweckehe geworden.
So sah Willy Brandt 1988 zum 125jährigen Jubiläum der Partei das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie. Doch heute ist die Ehe zerrüttet, in der zweiten Legislaturperiode von Gerhard Schröder hat es Krisensitzungen zuhauf gegeben. Seit Wochen steht der 5. Oktober als Termin fest: Im SPD-Gewerkschaftsrat, dem neben der Parteispitze alle Gewerkschaftsführer mit sozialdemokratischem Parteibuch angehören, soll ein neuer Versöhnungsanlauf unternommen werden. Das ist dringend erforderlich, denn der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes führt weiter eine Front gegen die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung an. Dabei lässt sich Michael Sommer von seiner Zugehörigkeit zur SPD nicht beirren:
Ich habe meine Mitgliedschaft in der SPD immer so verstanden, dass ich als Gewerkschafter in der SPD bin und nicht als SPD-Mann in der Gewerkschaft, das ist offenbar ein Missverständnis, wo einige Leute meinen, sie könnten das umdrehen.
Viele Gewerkschafter haben bereits die Konsequenz gezogen und der Partei den Rücken gekehrt, einige liebäugeln mit einer neuen Linkspartei. Plötzlich sieht sich die alte Arbeiterpartei der Wut der Arbeiter gegenüber, ein sozialdemokratischer Kanzler wird auf Gewerkschaftskundgebungen gnadenlos ausgepfiffen.
Bis jetzt wusste ich nicht, dass Trillerpfeifen zu den gewerkschaftlichen Argumenten gehören.
Ein Blick in die gemeinsame Geschichte zeigt, dass das Verhältnis nie gänzlich spannungsfrei war. Aber diesmal geht es um existenzielle Fragen, darum ob Gewerkschaften und Sozialdemokraten auch weiterhin einen gemeinsamen Weg beschreiten.
Seit den Tagen Ferdinand Lassalles zogen Gewerkschaften und Sozialdemokraten stets an einem Strang, gestärkt aus dem Verbot der Sozialistengesetze hervorgegangen, gemeinsam für demokratische Rechte kämpfend, konnten sie in der Weimarer Republik erste Erfolge beim Aufbau des Sozialstaates feiern. Den Kampf gegen den Faschismus verlieren sie, Gewerkschafter und Sozialdemokraten werden gleichermaßen von den Nationalsozialisten verfolgt.
Dann der Neuanfang, gemeinsames Ringen um die Mitbestimmung in den Betrieben, das Streiten für mehr Arbeitnehmerrechte. Die Erwartungen der Gewerkschaften sind groß, als die SPD erstmals nach dem Krieg Regierungsverantwortung übernimmt, doch sie kann ihnen in der Koalition mit der CDU nicht gerecht werden. 1968 sorgt zudem die Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze für erhebliche Spannungen im Verhältnis von SPD und DGB. Um dem entgegenzuwirken, gründet Willy Brandt als Parteivorsitzender den Gewerkschaftsrat:
Die SPD kann erstens nicht Gewerkschaftspartei sein, weil die Gewerkschaften überparteilich zusammenhören, es sind nicht nur Sozialdemokraten drin, und zweitens, weil die Funktionen unterschiedlich sind, also ich bin für möglichst starke Nähe, aber nicht dafür, dass der eine dem anderen Vorschriften macht!
Doch auch in der sozialliberalen Koalition kommt es zu Differenzen - mit der FDP sind viele gewerkschaftliche Ziele nicht durchsetzbar. Unter Helmut Schmidt fordern die Liberalen Einschnitte am Sozialstaat, die weit über das hinausgehen, was der Kanzler den sozialdemokratischen Gewerkschaftern im eigenen Lager zumuten kann:
Natürlich gibt es auch Grenzen des Zumutbaren, auch für uns Sozialdemokraten, auch für mich, wir wollen nicht die allgemeine Nachfrage und die Volkswirtschaft und das soziale Netz kaputt sparen!
Mit dem Ende der sozialliberalen Ära verlieren die Gewerkschaften auf politischer Ebene weiter an Gewicht: Streichungen bei der Unterstützung für Arbeitslose, Beitragsanhebungen bei der Sozialversicherung, Verschiebung von Rentenanpassungen bedeuten Eingriffe in gewerkschaftliche Errungenschaften. Gemeinsam kämpfen Sozialdemokraten und Gewerkschafter gegen weitere Verschlechterungen - 1996 protestieren in Bonn 350.000 Menschen für "Arbeit und soziale Gerechtigkeit", zugleich das Motto, das der DGB 1998 in eine millionenschwere Kampagne zugunsten der SPD steckt.
Gerhard Schröder: Die neue Mitte hat sich entschieden, sie ist von der SPD zurückgewonnen worden!
Die Wahlkampfhilfe des DGB zahlt sich aus: Unter Gerhard Schröder wird eine Verschlechterung des Kündigungsschutzes zurückgenommen, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wiederhergestellt. Mit der Steuerreform werden Geringverdienende entlastet, das Kindergeld wird erhöht. Schröder vergisst nicht, wem er den Wahlsieg mitzuverdanken hat. Zugleich aber wird ihm immer klarer, dass der Sozialstaat kaum noch zu finanzieren sein wird. Kurskorrekturen in der Sozialpolitik zeichnen sich ab - vor der Wahl 2002 bleibt die große Unterstützung der Gewerkschaften aus - noch aber kommt es auch nicht zu Protesten von Gewerkschaftsseite - im Sog von Irak-Krieg-Ablehnung und Elbe-Flut gelingt der SPD am 22.September 2002 ein Zittersieg.
Kurze Zeit scheint es so, als sei der Wahlsieger nun den Gewerkschaften hörig. Der Spiegel zeigt die Illustration eines Kanzlers, der die Arbeiterfahne hochhält, "Genosse Schröder" steht auf dem Titel - einer, der von Reformen nichts mehr wissen will. Eine Fehleinschätzung - die wahre Auseinandersetzung mit den Arbeitnehmervertretern steht erst bevor:
Wir werden diese vier Jahre nutzen, um den größten Umbau der sozialen Sicherungssysteme in der Geschichte der Bundesrepublik zu bewerkstelligen!
Die Agenda 2010, die Gerhard Schröder am 14. März 2003 im Bundestag vorlegt, kommt einer Kriegserklärung an die Gewerkschaften gleich. Plötzlich geht es nicht mehr darum, Besitzstände der sozial Schwachen zu wahren und zu mehren, plötzlich geht es um tiefe Einschnitte im System. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer sagt dem Kanzler den Kampf an:
Die deutschen Gewerkschaften sind Einheitsgewerkschaften, sie sind nicht der Vorhof irgendeiner politischen Partei, auch nicht der SPD, und dass wir uns natürlich jetzt an einigen Stellen besonders enttäuscht fühlen von der Sozialdemokratie, weil sie auch andere Wahlversprechen gemacht hat, das muss man verstehen, und da bin ich auch der Meinung, da tut es dieser Demokratie gut, wenn wir diesen Konflikt austragen!
Einschnitte beim Kündigungsschutz, Kürzungen bei den Leistungen für Arbeitslose, Verschlechterungen für die Rentner, Wegfall des Arbeitgeberanteils beim Krankengeld. Auch sozialdemokratische Abgeordnete bekommen bei dieser Radikalkur Bauchschmerzen. Ottmar Schreiner, Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen:
Die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer haben sich bei den letzten Bundestagswahlen 1998 und 2002 in meinem Maße wie kaum zuvor in der Geschichte der Republik für eine sozial gerechte Politik eingesetzt, und wenn dann wenige Monate nach den Bundestagswahlen das Wahlprogramm in zentralen Punkten verlassen und verletzt wird, dann muss man sich nicht wundern, wenn Gewerkschaften enttäuscht sind. Es kommt hinzu, dass gerade vor dem aktuellen Hintergrund der Hartz IV-Gesetzgebung es natürlich ans Eingemachte geht: Wenn in Zukunft Arbeit auch dann zumutbar ist, wenn Einkommen unterhalb der Sozialhilfeschwelle ausgezahlt werden, dann führt das zu einem massiven Druck auf das gesamte Lohngefüge nach unten, und damit sind die Gewerkschaften in ihren Kernbereichen gefordert.
Mit der Agenda 2010 bahnt sich ein Wandel im Verhältnis von Sozialdemokraten und Gewerkschaften an. Die Reformen rütteln an den Grundfesten alter Ziele der Arbeiterbewegung. Jahrzehntelang war die Politik davon ausgegangen, dass die hohen Arbeitskosten in Deutschland nur durch besonders hohe Produktivität kompensiert werden könnten, jahrzehntelang war anerkannt, dass Deutschland ein Hochlohnland ist und ein staatlich geförderter Niedriglohnsektor das Gehaltsgefüge generell unter Druck bringen würde. Jetzt erfolgt die Abkehr von diesen Grundsätzen. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik mit staatlichen Beschäftigungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose tritt in den Hintergrund, statt dessen wird versucht, Erwerbslose auch durch Annahme schlecht bezahlter Jobs zurück in eine geregelte Tätigkeit zu bringen. Selbst ältere Arbeitnehmer über 55 Jahre gelten wieder als vermittelbar.
Dahinter steckt eine Erkenntnis: Jahrelang führte die Frühverrentung dazu, dass sich Unternehmer eines Großteils ihrer Arbeitnehmer entledigen konnten - unter Inkaufnahme einer langen Phase der Arbeitslosigkeit, die öffentliche Kassen und Sozialversicherung über Gebühr strapazierte. Statt die Arbeitszeiten weiter zu verkürzen, um auf diesem Wege für mehr Beschäftigung zu sorgen, schlägt Schröder - vehement unterstützt von Arbeitsminister Wolfgang Clement - den umgekehrten Weg ein: Längere Arbeitszeiten und die Streichung von Feiertagen sollen den Unternehmern ermöglichen, Kosten zu senken. Damit könnten sie konkurrenzfähiger werden und am Ende auf diese Weise für zusätzliche Einstellungen sorgen.
Wolfgang Clement: Es wird insgesamt eine Reform des Arbeitsmarktes sein, die zu den tiefgreifendsten gehört, die wir in der Geschichte der Bundesrepublik vorgenommen haben!
Kürzungen bei den Leistungen für Arbeitslose bei gleichzeitiger Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln sorgen vor allem im alten sozialdemokratischen Arbeitermilieu für Unverständnis. Gerade dort müssen die Sozialdemokraten den größten Aderlass verkraften, aber auch den Gewerkschaften laufen die Mitglieder davon. Allein im Jahr 2003 kehren 400.000 Menschen dem Deutschen Gewerkschaftsbund den Rücken. Vergeblich müht sich der DGB-Vorsitzende, der Konfrontation die Schärfe zu nehmen:
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, lieber Gerhard, also Leute, aber Leute, ich werde doch hier keine Komödie spielen und nicht sagen, dass ich den Bundeskanzler normalerweise duze, ich bin doch auch Mitglied der SPD, nur anderer Meinung als er!
Dabei gilt Michael Sommer als moderater Gewerkschaftschef, einer aber auch, der sich in den eigenen Reihen nicht durchsetzen kann, vor allem nicht gegen die Chefs der mitgliederstärksten Einzelgewerkschaften, gegen Jürgen Peters von der IG Metall und gegen Frank Bsirske, Verdi-Vorsitzender mit grünem Parteibuch. Bsirske hatte neben Schröder vor allem Arbeitsminister Wolfgang Clement scharf attackiert:
Wenn Clement erfolgreich sein will, muss er sich nicht mit den Gewerkschaften anlegen, sondern er muss nach gemeinsamen Lösungen suchen!
Der Minister wird zur Symbolfigur des Hasses gegen die Arbeitsmarktreformen. Tatsächlich versucht er kompromisslos, die Fusion von Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfe durchzubringen. Vieles, was auf Drängen von Gewerkschaftern bereits entschärft worden war, ist nach den Verhandlungen mit der Union im Vermittlungsausschuss wieder so auf den Tisch gekommen wie von Wolfgang Clement gewünscht. Fritz Schösser, SPD-Abgeordneter und zugleich Vorsitzender des DGB in Bayern, weigert sich allerdings, der rot-grünen Regierung zu folgen:
Die Gewerkschaften sind Einheitsgewerkschaft und sind verpflichtet überparteilich zu sein, sie sehen ja, dass die Gewerkschaften deutlich abrücken, wenn im Grunde sichtbar wird, dass auch die SPD immer weniger bereit ist, gewerkschaftliche Grundpositionen umzusetzen, wobei ich klar und deutlich sagen will: die SPD ist nach wie vor die Partei, wo die Gewerkschaften am ehesten Vertrauen haben können, dass die Grundwerkzeuge nicht in Frage gestellt werden, wie beispielsweise die Tarifautonomie, wie beispielsweise die Mitbestimmung, wie beispielsweise das Betriebsverfassungsgesetz, wie beispielsweise die weitere Aushöhlung des Kündigungsschutzes, wenn die Gewerkschaften über solche Werkzeuge nicht mehr verfügen, dann gnade ihnen Gott!
Anders als Schösser macht sein Fraktions- und Gewerkschaftskollege Klaus Brandner weiter guten Gewissens für die SPD Politik im Bundestag. Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, zugleich IG Metallgeschäftsführer in Gütersloh, mahnt seine Freunde in Partei und Gewerkschaft:
Wir leben in einer Zeit großer Umbrüche, wenn ich allein die demographische Veränderung mir anschaue, sind die so gravierend, dass ein Weiter-so nicht weiter hilft, und dass die Probleme, die wir haben, nicht nur in Verteilungsfragen zu regeln sind. Die strukturellen Veränderungen sind so riesig, denen muss man sich stellen und wenn man selbst unter Druck gerät, möchte man natürlich nicht noch zusätzliche Verunsicherung hinnehmen, das ist auch das Problem der Gewerkschaften, die selbst unter großen Umbruch-Gesichtspunkten arbeiten müssen, und aus diesem Grund heraus klammern sie sich eher an diejenigen, die eigentlich alles so beibehalten möchten wie es ist, eher etwas zusätzlich noch zu verteilen, und das ist zur Zeit nicht machbar!
Auch Franz Müntefering, SPD-Fraktions- und Parteivorsitzender, fordert die Gewerkschaften immer wieder auf, von ihrer ablehnenden Haltung zu den Arbeitsmarktreformen abzuweichen:
Meine Erwartung an die Gewerkschaften ist, dass sie nicht nur sagen, was sie nicht wollen, sondern was sie wollen, wie sie sich denn die Lösung der Probleme, die es ja zweifellos gibt, vorstellen!
Doch zunächst führen die Gewerkschaften einen Eklat herbei. Im Herbst 2003 lassen sie provokativ ein Treffen des SPD-Gewerkschaftsrates platzen, auf Drängen ihrer Hardliner. Eine Entscheidung, die der DGB-Vorsitzende selbst für falsch hält, ebenso wie der Kanzler-Freund Hubertus Schmoldt, Chef der IG Bergbau, Chemie und Energie. Ihm kommt einmal mehr die Rolle des Schlichters zu:
Wer Politik in diesem Lande gestalten will, muss gesprächsfähig sein, auch bleiben, das müssen auch die Gewerkschaften!
Deutlich zeigt sich die Zerstrittenheit der DGB-Einzelorganisationen über die richtige Strategie im Kampf gegen den Sozialabbau. Schmoldt spricht sich für weitere Reformen aus - Verdi und IG Metall hingegen gehen deutlich auf Konfrontation zur Bundesregierung. Frank Bsirske lässt den Kanzler via Zeitungsinterview wissen, seine Politik sei gescheitert. Anfang Juli dieses Jahres kommt es im Gewerkschaftsrat zu einem lautstarken Wutausbruch des Bundeskanzlers. Auch IG Metall Chef Jürgen Peters trifft an diesem Abend dessen ganzer Ärger: Einerseits bei Siemens der 40 Stunden Woche zuzustimmen und ihm gleichzeitig vorzuwerfen, seine Politik sei unsozial, das passt für den Sozialdemokraten nicht zusammen. Ein schlüssiges Argument, meint auch der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler:
Es ist die Aufgabe der Gewerkschafter, für den Besitzstand ihrer Leute zu kämpfen, ich bin selber länger Gewerkschafter als ich Sozialdemokrat bin, also da habe ich überhaupt kein Problem damit, aber ich sehe ja auch, dass die Gewerkschaften wie zum Beispiel jetzt bei Siemens der stolze Jürgen Peters eben fünf Stunden Mehrarbeit ohne Lohnzahlung zugestehen muss, und andere machen das ähnlich, und wer sich auskennt, der weiß, dass die Betriebsräte und die Gewerkschafter in ihrer eigenen Alltagspolitik viel näher an der Wirklichkeit sind als sie es in ihrer politischen Argumentation sind.
Fritz Schösser, den Fraktionskollegen und Gewerkschaftsfunktionär aus Bayern, vermag er damit nicht zu überzeugen. Er ist es leid, sich immer wieder anhören zu müssen, Gewerkschafter seien selbstgerechte unflexible Besitzstandswahrer:
Den Quatsch kann ich nicht mehr hören: Wir haben im Augenblick die Situation, dass Arbeitnehmer von beiden Seiten in die Zange genommen werden. Ich zähle Ihnen mal auf, was nahezu allen Arbeitnehmer über die letzten zwei, drei Jahre passiert ist: Weihnachtsgeld weg oder gekürzt, Urlaubsgeld weg oder gekürzt, Lohnerhöhungen ausgesprochen moderat, Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich. Auf der anderen Seite ist der Gesetzgeber tätig geworden: Weniger Anspruch in der Alterssicherung, mehr Zuzahlung bei der Gesundheitsreform, weniger Anspruch bei der Bundesanstalt für Arbeit, und jetzt erzählen Sie mir mal, wo im Vergleich die Wirtschaft solche Positionen eingebracht hat, den Wirtschaftsstandort Deutschland wieder nach vorne zu bringen.
Gerhard Schröder dagegen ist überzeugt: Es fehlt den Gewerkschaften am nötigen Realitätssinn. In der von lauten Worten geprägten Sitzung des Gewerkschaftsrates keilt er gegen den ungeliebten Verdi-Vorsitzenden zurück: "Für die deutschen Gewerkschaften stellt sich doch heute die Frage, ob Leute, die inhaltlich nichts anzubieten haben wie Herr Bsirske ihre Strategie bestimmen sollen!" Dass das Kriegsbeil zwischen SPD und Gewerkschaften tatsächlich begraben wird, ist fraglich. Anfang September lädt Gerhard Schröder die Gewerkschaftsvorsitzenden ins Kanzleramt, und wieder gibt es keine Annäherung. Jürgen Peters drängt weiter auf Änderungen an Hartz IV:
Wir wollen, das, was heute ist, korrigieren, denken Sie mal an die Zumutbarkeitsregeln, denken Sie mal an Arbeitlosengeld 2, wo wir sagen, hier sind unbotmäßige Härten, und diese Härten muss man mildern:!
Als Minimalkonsens wird nun herausgegeben, erst einmal zu beobachten, ob die Reformen tatsächlich zu sozialen Ungerechtigkeiten führen. Zudem versuchen die Sozialdemokraten, die Lage an anderen Fronten zu entschärfen: Via Deutschlandfunk stößt SPD-Chef Franz Müntefering eine Debatte über die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes an, gleichsam ein Zuckerbrot, um den Gewerkschaftsprotest gegen Hartz IV zu dämpfen:
Darüber diskutieren wir im Augenblick im Gewerkschaftsrat der SPD mit den Gewerkschaften zusammen, ein Teil der Einzelgewerkschaften des DGB ist für Mindestlohn, ein Teil nicht, und ich möchte gern auch mit den Kollegen darüber sprechen. Eigentlich sagen wir ja, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen miteinander vereinbaren, was denn die Bedingungen für die Löhne und die Arbeitsbedingungen sind, wenn man dann einen Mindestlohn einführt, staatlicherseits, dann ist das natürlich in gewisser Weise eine Begrenzung der Tarifautonomie im unteren Bereich, und die große Frage wäre dann, wie hoch ist der Mindestlohn, für welche Branchen, für welche Zeit, ich möchte jedenfalls, dass wir das zusammen mit den Gewerkschaften organisieren und nicht gegen sie!
Doch die Diskussion über den Mindestlohn offenbart zugleich die Uneinigkeit der Gewerkschaften. Und so dürfte der Müntefering-Vorstoß vor allem taktischer Natur sein - im Grunde weiß der SPD-Vorsitzende allzu gut, dass die Gewerkschaften nicht bereit sein werden, einen Teil ihrer Tarifautonomie abzugeben. Als Instrument, das zerrüttete Verhältnis von SPD und Gewerkschaften wieder ins Lot zu bringen, dürfte der Mindestlohn kaum tauglich sein, und auch das Gerangel um die Ausbildungsplatzabgabe war nicht dazu angetan, die Situation zu entkrampfen. Hatte es zunächst so ausgesehen, als sei Franz Müntefering fest entschlossen, den Gewerkschaften mit einer gesetzlichen Umlage entgegenzukommen, so grenzt das plötzliche Ende dieser Planungen für Gewerkschafter beinahe an Hochverrat. Ist der Bruch zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokraten also unabwendbar? Klaus Brandner:
Nein - ich bin davon überzeugt, dass man ohne Partner, mit dem man in einem überwiegenden gleichen Gedankengut tätig ist, Wahlen nicht gewinnen kann!
Sollten allerdings die unzufriedenen Rebellen zumeist aus dem Lager der IG Metall mit der Drohung ernst machen, eine neue Linkspartei zu gründen, sollten sich gar Oskar Lafontaine und Gregor Gysi zu deren Gallionsfigur machen, wäre das eine ernstzunehmende Gefahr, die zu einer Spaltung von sozialdemokratischem und Gewerkschaftslager führen könnte.
Gerhard Schröder und die SPD hoffen vor allem auf eine wirtschaftliche Erholung. Erst ein konjunktureller Aufschwung mit einem deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit wird dazu führen, dass die Proteste der Arbeitnehmer nachlassen und der Einfluss der Gewerkschaften auf die Politik wieder nachlässt. Viel Neues kann die abendliche Sitzung des Gewerkschaftsrates kaum bringen. Sie ist wohl allenfalls ein neuer Anlauf, wieder etwas gepflegter miteinander umzugehen und den Arbeitnehmervertretern zumindest den Eindruck zu geben, als könnten sie die Politik der rot-grünen Bundesregierung noch mitgestalten. Und SPD-Chef Müntefering setzt ganz darauf, dass der DGB auch im eigenen Interesse den Konflikt mit den Sozialdemokraten nicht ausreizen wird:
Ich glaube, dass Michael Sommer in Person, aber auch die anderen Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften sehr wohl wissen, dass wir da in einer ganz schwierigen Situation sind, dass wir zum Beispiel aufpassen, dass die Fundamentalisten links und rechts nicht das Sagen bekommen!
220.000 der knapp 630.000 SPD-Mitglieder sind gewerkschaftlich organisiert. Die Partei kann auf alte Parteisoldaten mit traditioneller gewerkschaftlicher Bindung kaum verzichten, andererseits würden die Gewerkschaften ohne einen starken parlamentarischen Arm auf politischer Ebene in die Bedeutungslosigkeit rutschen. An einer Scheidung kann somit keiner der beiden Partner interessiert sein. Aus der einstigen Liebesheirat aber ist längst eine Zweckehe geworden.