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War hier Vineta?

Im dunklen Mittelalter, zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert, wurde eine Siedlung an einem seichten Flussufer gegründet. Dieser Ort entwickelte sich zu einer bedeutenden Metropole der mittleren Ostsee, später versank er im Dunkel der Geschichte. Bis heute bringen Wissenschaftler Wollin in Polen mit der sagenhaften Stadt Vineta in Zusammenhang.

Von Joachim Dresdner | 14.11.2010
    "Die sagenhafte, versunkene Stadt lag nahe der Ostseeküste. Das ist unbestritten. Nicht klar ist, ob im heutigen Mecklenburg-Vorpommern, also in Deutschland, oder in Polen, erklärt mir der Historiker Jozef Plucinski in Świnoujście, Swinemünde, an der Pommerschen Bucht. Plucinski leitete hier das Fischereimuseum: "

    "Wo gab es diese Vineta? In Wollin, oder in Koserow, oder irgendwo und Barth, aber nach meiner Meinung Vineta war natürlich Wollin!"

    Wollin, im Süden der Nachbarinsel Usedom, liegt rund 30 Kilometer vom Hafen – und Kurort Świnemünde entfernt:

    "Wissen Sie, das kleine Wollin mit so reicher Geschichte, für mich, als Historiker wirkt das sehr, sehr stark, ja. In Wollin ist Geschichte zu spüren, auf jeden Schritt und als normaler Bürger muss ich sagen, dass auch die neue Generation, die baut dieses neue Wollin, das sind ganz andere, gute Menschen, sind moderne, aber mit Achtung für die Geschichte und das ist vor allem zu sehen in Wollin."

    Jetzt bin ich gespannt! Der Pensionär gibt mir einige Ziele mit auf den Weg:

    "Als Historiker ist es fast Pflicht, Museum und das ist eine Neuigkeit, diese Wikingerinsel in Wollin, ja, das ist historische Zentrum, das war heilige Nikolauskirche, ich habe noch eine Erinnerung, dass da hängte in dieser Kirchenruine eine Tafel zur Ehre von Johann Bugenhagen."

    Bugenhagen, Kirchenreformator und Freund Martin Luthers, der erste Schritt bei dem Zeitspaziergang durch Wollin.

    Unweit des Ufers der Divenow ragen die Nikolauskirche mit dem seit ihrem Wiederaufbau etwas verkürzten Turm heraus und das mit Zinnen und Mittelturm trutzig wirkende, neogotische rote Rathaus, zwischen der früheren Post und dem Museum. Dahinter rücken die beiden hohen Speichertürme am Fluss in mein Blickfeld.
    Die Stadt Wollin mit etwa 5000 Einwohnern vertreten der Bürgermeister, der Museumschef und der Leiter des Zentrums der Slawen und Wikinger, einem Freilichtmuseum am anderen Divenowufer. Die Drei empfangen mich im Büro des Bürgermeisters.

    Wir reden über Vineta: Vineta gleich Wollin? Wojciech Celinski, der Chef des Freilichtmuseums, stellt sich das seit seiner Kindheit so vor und mit einem Lächeln ergänzt der Bürgermeister Eugeniusz Jasiewicz mit heiteren, brauen Augen und keckem Schnauzbart:

    "Wir wollen so reich werden wie damals Vineta und suchen Steuerzahler."

    Dazu sollen neben der wieder aufgebauten Nikolauskirche auch die Häuser am Markt neu entstehen. Die kleine, geschichtsreiche Stadt wurde in den letzten beiden Monaten des Zweiten Weltkrieges zusammengeschossen, schildert Museumsdirektor Ryszard Banaskiewicz:

    "Der Fluß war eine natürliche Grenze, die den Übergang der russischen Armee nach Westen verhindert hat. Während der tragischen Kämpfe, die eigentlich schon am 6. März 1945 begonnen hatten und bis zum 4. Mai dauerten, wurde Wollin fast völlig zerstört. Nur ein einziges Gebäude ist als Ruine stehen geblieben. Das ist die Nikolauskirche, in der Johannes Bugenhagen getauft worden ist. Diese Kirche wurde erst im Jahr 2000 wieder aufgebaut."

    Banaszkiewicz, ein schlanker, grauhaariger Mann, war lange Jahre Konsul in Schweden. Er kümmert sich um das Museum und um die Wolliner Geschichte:

    "Nach dem Potsdamer Vertrag kam Wollin zu Polen, wurde von polnischen Bürgern, die vor allem aus den Ostgebieten umgesiedelt wurden, bewohnt. In den letzten drei Jahren wurde das Zentrum der Stadt teilweise wieder aufgebaut. Unser Traum ist es die Altstadt komplett wieder aufzubauen."

    Der Wiederaufbau der Altstadt ist das Feld von Bürgermeister Jasiewicz.

    "Jetzt haben wir die archäologischen Untersuchungen abgeschlossen und ein städtebauliches Konzept für den Wiederaufbau gemacht. Dabei stimmten wir uns bei der Fassadengestaltung ab, mit den Denkmalpflegern und den Fachleuten der Westpommernuniversität Stettin. Der Wiederaufbau wird die "Seele der Stadt" zurück bringen."

    Die Fassadenbeispiele der künftigen Häuser hat Jasiewicz auch im Internet veröffentlicht. Wer will, kann bauen in Wollin. Interessenten kommen auch aus Deutschland.

    "In jedem Jahr kommen ehemalige Einwohner von Wollin, die in Deutschland wohnen. Im vergangenen Jahr hat eine frühere Eigentümerin eine Flasche gefunden, mit der sie große Erinnerungen verbunden hat, deshalb hat sie sich entschlossen, ihr Konto bei unserer an dieser Stelle neu eröffneten Bank zu führen. Mit Ungeduld warten wir auf ihr Kommen in diesem Jahr ... "

    Gute Beispiele für den Wiederaufbau alter Stadtkerne kennt der Bürgermeister von benachbarten deutschen Städten in der Ostseeregion, wie die Städte Usedom und Greifswald. Ich frage, ob ich mir in Wollin auch ein Haus bauen, oder kaufen könnte. Kein Problem, antwortet Jasiewicz:

    "Die Grenzen sind offen. Wir können in Deutschland Immobilien kaufen und umgekehrt. Es ist gar nicht nötig meine Erlaubnis dafür zu geben!"
    Seit dem 11. Jahrhundert hatten Einwanderer das Recht zu bleiben, allerdings durften sie keine Zeichen ihrer Religion zeigen, überlieferte Adam von Bremen.

    Die Wolliner, schrieb der Theologe und Geschichtsschreiber, seien Slawen, Griechen und Barbaren, aber auch zugewanderte Sachsen. Die tolerante Stadt ist jetzt in der EU, freut sich Bürgermeister Jasiewicz.

    Er träumt von Handwerkern, die in die neuen, alten Häuser einziehen, von Juwelieren und Goldschmieden.
    Da ist sie wieder die goldene Stadt Vineta.
    Sie muss groß und schön gewesen sein, die Vorgängerin von Wollin, egal wie sie nun wirklich hieß wer immer hier auch regierte.

    "m archäologischen Workshop wollen wir zeigen wie das Leben hier vor 1.000 Jahren aussah. Beispielweise stellt eine Frau aus Weißrussland Faden her, aus Brennnesseln. Manche Handwerkskünste sind erhalten, manche verloren gegangen, wir versuchen sie wiederzuentdecken. Viele Techniken waren europaweit gleich. Bernsteinwerkstätten aber, die gab es nur im Ostseeraum (!) Ich lade sie ein, sich das anzuschauen."

    Die Einladung nehme ich später gern an, zunächst folge ich Ryszard Banaszkiewicz.
    Der Museumsleiter erzählt seinen Gästen von internationalen Wirrnissen:

    "Bis zum Anfang des 10. Jahrhunderts war Wollin eine unabhängige Handelsrepublik. 1648 wurde die Region zu Schweden geordnet, als Ergebnis des 13-jährigen Krieges. Für 170 Jahre war Wollin schwedisch. Während des Nordkrieges musste Schweden Wollin an Dänemark abgeben. Die Dänen aber waren an dieser Region nicht sehr interessiert und haben Wollin mit Umgebung den Brandenburgern verkauft. Später wurde die Gegend preußisch, gehörte sie - bis 1945 - zu Deutschland. Ein interessanter geschichtlicher Moment sind die napoleonischen Kriege. Von 1806 bis 1812 hat Wollin zu Frankreich gehört, gab es hier eine französische Verwaltung."

    Die schwedischen Bernadottes waren hier. Und die deutschen Familie von Below. Der Bürgermeister und Museumschef führen mich hinter das Rathaus. Dorthin, wo die Wolliner Stadtgrenze war. Hinter der Stadtmauer gab es einen Wassergraben. Davor ein flacher, unverputzter Altbau. Neue, rote Dachziegel umrahmen zwei geschwungene Dachgauben. Über der Eingangstür in der Mitte ein Fensterbogen. Noch fehlt Glas, fehlen die Fenstereinsätze. Zusammengezimmerte, breite Bohlen führen in das Innere der Baustelle:

    "Hier möchten wir ein internationales Zentrum für Geschichte und Kultur einrichten. Nach den Überlieferungen haben hier die Witwen der pommerschen Herzöge gelebt und das waren keine armen Frauen ! Aus diesem Grund werden wir diese Ausgrabungen auf jeden Fall fortsetzen

    Fünf Meter unter der Erde befinden sich die Reste von dem Gutshaus des wolliner Herzogs aus dem 10. / 11. Jahrhundert. Unter dieser Erde wo wir jetzt stehen, da sind die Überreste von dem Schloss der pommerschen Herzöge. Nach ihrem Niedergang brannte dieses Schloss ab. An seiner Stelle entstand das Gutshaus der Familie von Below."

    An der Wand, die zur Stadtmauer gehörte, sind drei Kreuzbögen zu erkennen. Der Museumsdirektor schätzt, dass die zur Schlosskapelle gehörten.

    Mir scheint, Vineta kommt näher.

    Wir kraxeln hinunter in die Kellergewölbe, um die massiven Steinsäulen aus gotischer Zeit herum.

    "Als die Restaurierung begann, entschied ich die ganzen Trümmer abzutragen. Eine Krönung der Ausgrabungen war die Erkenntnis, dass sich unter uns ungefähr das Jahr 960 befindet."

    Über kurze Holztreppen steigen wir hinauf in die Gegenwart, verlassen die Baustelle, gehen am Museum vorbei, überqueren vor dem Rathaus die Straße und stehen nun genau in der früheren Stadtmitte.

    Vor einem braunen Stein auf einer Rasenfläche im Schatten grüner Linden. Der Gedenkstein weist auf das 10. Jahrhundert:


    "Im Jahr 986 ist in Wollin der dänische König Harald Blauzahn gestorben. Blauzahn ist eine tragische Gestalt. Ein König, der aus Dänemark flüchten musste, weil sein Sohn nicht auf seinen Tod warten wollte. Blauzahn, während der Kämpfe in Dänemark verwundet, hat hier Unterschlupf gefunden und ist hier gestorben."

    Einer der Prominenten dieser Stadt: Harald Blauzahn. Ein anderer war Johannes Bugenhagen.

    "Die ehemaligen deutschen Bewohner Wollins, die zu Besuch gekommen sind, haben eine Liste mit 18 bedeutenden Persönlichkeiten mitgebracht, die Wolliner waren und die als bedeutend anerkannt wurden. Wir haben von uns aus zu den 18 noch 20 (!)dazugeschrieben."

    Aus Wollin kamen große Wissenschaftler, Entdecker, Biologen, Mediziner und ... .?

    "Aus Wollin kommt auch die Miss Polen."''

    Bevor wir uns verabschieden, erzählt mir Ryszard Banaszkiewicz von einem über 1000 Jahre alten Sonnenkompass, der hier gefunden wurde. Ein weiterer sei in Grönland gefunden worden, von dem wäre nur eine Hälfte geblieben. Die Slawen und Wikinger hätten ihn zur Navigation benutzt, als sie – weit vor Columbus - bis nach Amerika vordrangen. Und umgekehrt?

    ""Im letzten Jahr waren wir in dem ältesten archäologischen Museum in Lund in Schweden und da hat man einen menschlichen Schädel gezeigt, der eine Markierung auf den Zähnen hatte. Eine solche Kennzeichnung auf den Zähnen haben die Völker gehabt, die auf dem Gebiet des heutigen Mittelamerika gewohnt haben. Dieser Fund beweist den Austausch zwischen den Völkern in der damaligen Zeit."

    Auch vom Austausch in heutiger Zeit ist Banaszkiewicz begeistert. Zum Abschied schüttelt er mir die Hand und sagt dabei, dass er sich als älterer Mensch freue, dass es keine Grenzen mehr gebe und wir uns einfach – ohne Barrieren - unterhalten können.
    Am anderen Ufer der Divenow habe ich Gelegenheit die Kultur und die Traditionen des frühen Mittelalters kennenzulernen, im "Zentrum der Slawen und Wikinger", einem lebendigen Freilichtmuseum.

    Auf der Wiese zwischen kleinen schilfgedeckten Hütten tanzen vier Mädchen mit blonden Zöpfen in hellen Hemdblusen und karierten Kleidern einen Reigen. Sie halten zwei sich kreuzende Stoffbänder über ihren Köpfen. Die Musik macht ein Dudelsackspieler mit langem, hellen Bauernhemd und hellgrauer Stoffkappe.

    Wollin war in vorchristlicher Zeit eines der großen Fernhandelszentren des Ostseeraums. Heute führt hier die Europastraße 65 vorbei. Wie in alter Zeit reicht die Straße von Schweden bis nach Griechenland. Der zweite kreuzende Handelsweg, verband Orte an der Ostseeküste von Gdańsk,Danzig, bis Hamburg.

    Die Stadt zog sich über nahezu vier Kilometer am Ufer der Dievenow entlang.Ausgrabungen weisen ein vielfältiges Handwerk nach. Gehandelt wurde mit Bernstein, mit Werkzeugen aus Metall, mit Pech.

    Wojciech Celinski, der Chef des Freilichtmuseums zeigt auf die weite Anlage an der Divenow und meint:

    "Die Besucher "beamen" sich 1000 Jahre zurück, sie treffen einen Bettler, einen Mann der Birkenpech herstellt, und da ist ein Schmied."

    Der betreibt unter einem strohgedeckten Dach seinen Schmelzofen.
    Einfache Blasebälge heizen ihn an. Die Temperatur erreicht circa 1400 Grad Celsius. Stahl mit unterschiedlichem Kohlenstoffgehalt geschmiedet und mehrfach gefaltet, ergibt den seit mehreren Tausend Jahren viel gefragten Damaszener Stahl, berichtet mir der junge Mann aus Wielko Polska.

    Vor einer Hütte nahe dem Tanzplatz singen drei Frauen bei Nadelarbeiten. Sie sitzen auf einer schmalen Holzbank vor der Kate, die - wie die Anderen - durch breite, hölzerne Laufbohlen erreichbar ist.

    Der Birkenpechhersteller kommt aus dem Museumsdorf Düppel an der Stadtgrenze von Berlin.

    "Birkenteer, ist ein Holzteer, der aus Birkenrinde gewonnen wird, es war der Heißkleber des Mittelalters. Die ganze Seefahrt wäre ohne Teer und Pech nicht möglich gewesen. Birkenteer für medizinische Anwendungen: bei Neurodermitis, ein altes Wundermittel gegen alles sozusagen."#

    Gleich nebenan wird geschnitzt, gebohrt, geglättet, mit einem heute seltenen Material: Bernstein.

    ""Bernstein war das Gold des Nordens! Wollin war die Hauptstadt, hier ist der Bernstein angekommen, wurde er weiterverarbeitet und exportiert, nach Frankreich oder überall in die Welt geliefert. In Wollin wurde Bernstein gehandelt, veredelt, bearbeitet."

    Kaufleute nahmen Bernstein mit nach Byzanz, dem heutigen Istanbul, und weiter nach Arabien und China.

    "Die Araber haben es für Heilzwecke verwendet. Bei Magenproblemen wurde es zerrieben, dann wahrscheinlich mit Bier oder mit Wasser vermischt und aufgetragen."

    ... erzählt der Mann aus Torun an der Weichsel, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. In China sollte Bernstein negative Einflüsse zurückhalten, trug man ihn als Talisman.

    "Ich bohre mit einem Werkzeug das in meiner Heimat Drell, Dremel, und hier in dieser Region, Dreilach genannt wird. Auf diese Art und Weise hat man Öffnungen in Bernsteine gebohrt."

    Durch eine Schnur an einem kleinen Bogen wird eine scharfe Spitze immer hin und her gedreht. So lassen sich die Steine bearbeiten, ohne zu zerspringen. Die Slawen maßen Bernstein vor tausend Jahren keine große Bedeutung bei, sie tauschten ihn in Byzanz ein gegen Gefäße ein.

    Frühes Mittelalter in Wollin, einem Ort mit großer Geschichte und vielen Namen: Jomsburg, Jumne, Jumneta, Vineta. Auf einer Liste der Lübecker Gründungsräte von 1158 steht ein Cord Strale "van Wineta gekamen".

    Im 10. oder 11. Jahrhundert soll Vineta bei einer Sturmflut untergegangen sein. Wahrscheinlicher ist, dass die Stadt durch die Lage an einem flachen Meeresarm der Ostsee zu ungünstig für größere Schiffe lag und daher in der Bedeutungslosigkeit versank.

    Der Ort wird nach 1170 nirgendwo mehr erwähnt. Im 16. Jahrhundert tauchten Sagen, Geschichten über die wohllebende, goldene Stadt mit gottlosen und hochmütigen Bewohnern auf.

    Noch heute, heißt es, könne man abends bei Windstille silberhelles Läuten hören und tief unten im Wasser sogar die Gassen und Giebel der vor tausend Jahren versunkenen Wunderstadt sehen.