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Warten auf das Wunder vom Rollberg

Die Gegend rund um den Rollberg im Berliner Stadtteil Neukölln ist ein Ballungszentrum sozialer Probleme. Seit einigen Jahren bemüht sich der Verein Morus 14, ein Anlaufpunkt für die Bewohner zu sein. Doch weil öffentliche Fördergelder fehlen und private Sponsoren in der Krise wegbrechen, könnten im Vereinshaus bald die Lichter ausgehen.

Von Dorothea Jung |
    Im Herzen des Rollbergviertels, in der Morusstraße 14, versteckt zwischen Beton und struppigem Grün, liegt das Gemeinschaftshaus des Vereins - eine Begegnungsstätte mit Veranstaltungssaal, Empore und - einer kleinen Küche. Michael Bögershausen, gelernter Drogist, ist heute hier freiwillig Koch. Es dampft ordentlich, als er die Deckel der Riesentöpfe auf dem Herd lüftet:

    "Heute gibt es als Vorspeise einen grünen Salat mit roten Zwiebeln und Balsamico-Dressing. Dann haben wir als Hauptspeise einen Rindergulasch mit Rotkohl und Salzkartoffeln und als Nachspeise einen Schmandquark mit Orangen mit Spekulatius."

    Jeden Mittwochmittag lautet hier die Vereins-Devise "Mieter kochen für Mieter". Ehrenamtliche Helfer aus dem Viertel haben die Tische im Saal mit farbigen Servietten liebevoll dekoriert. Und während Michael Bögershausen sein Gulasch abschmeckt, nehmen die ersten Nachbarn Platz.

    Frau: "Wir freuen uns schon jedes Mal, wenn wir mittwochs zusammenkommen hier."
    Mann: "Zu Hause müssen wir den Schrank aufmachen und reinquatschen, damit uns einer zuhört, und hier wird mal gelacht, hier wird auch mal ein bisschen dämlich gequatscht und so weiter, ja."
    Frau: "Schön gedeckte Tische, man wird bedient, das gute Essen.
    Mann: Und das macht uns Spaß."

    Der Mittagstisch ist besonders für die Rentner im Rollbergviertel das Highlight der Woche. Regelmäßige Besucher sind aber auch die Vertreter von Migrantenvereinen in der Nachbarschaft, die Beamten des Polizeiabschnittes sowie eine Gruppe von Einwanderern, die hier ihre Kochkünste zeigt. Und wenn Araber oder Türken im Gemeinschaftshaus kochen, dann kommt es schon mal vor, dass der Neuköllner Horst mit dem Neuköllner Abdul ein paar Worte wechselt. Was sonst im Rollbergviertel eher selten ist.

    "Ich meine, die kochen ja auch hier. Solange, wie ich mich mit denen unterhalten kann, ist doch alles in Ordnung. Der will bloß leben und ich auch."

    "Das Gemeinschaftshaus dient dem Verein als Brücke zum Kiez", erklärt der Leiter des Hauses, Frank Bourgett:

    "Wir lernen hier viele Menschen kennen, die zu uns kommen mit ihren Problemen. Hier kommen auch viele Leute her, die danach Schülerhelfer werden, die ehrenamtlich in diesem Verein arbeiten möchten. Dieses Haus ist praktisch Kiez-Mittelpunkt und auch Sprachrohr in die Richtung des Kiezes."

    Die wöchentliche Aktion "Mieter kochen für Mieter" ist aber nur eine Aktivität des Vereins. Das Team veranstaltet auch Stummfilmabende, lädt im Ramadan zum Fastenbrechen und organisiert Ausflüge für alle, die mal über ihren Kiez hinausblicken wollen. Herzstück der Arbeit von Morus 14 ist jedoch das Netzwerk Schülerhilfe Rollberg. Ein Bildungspatenprojekt, bei dem rund 80 freiwillige Mentoren im Einsatz sind, um etwa 100 Kindern bei Bildungs- und Alltagsproblemen zu helfen. Hier engagiert sich die Rentnerin Renate Lübke an zwei Nachmittagen der Woche:

    "Ich habe zurzeit ein zehnjähriges Mädchen, das ich betreue. Die kommt aus Bulgarien, lebt seit drei Jahren hier mit ihren Eltern, und wir üben lesen, rechnen, schreiben. Das sind so die Grundlagen erst einmal, ja. Und wenn es geht, auch reden, was ein bisschen schwierig ist, weil das Mädchen nicht so gut deutsch spricht."

    Die Mutter ihres Schützlings spricht kein Deutsch, der Vater ist als Fernfahrer berufsbedingt selten zu Haus - und die Klassenkameraden reden in der Freizeit arabisch oder türkisch. Da sei es ohne Hilfe schwer, sich in die deutsche Gesellschaft einzufinden, sagt die einstige Sozialarbeiterin. Vereinskollegin Marianne Johannsen nickt:

    "Die Schülerhelfer helfen nicht nur mit Schularbeiten, sondern die versuchen auch, den Kindern die Stadt näher zu bringen, unsere Verhaltensweisen zu erläutern, unsere Werte und Normen zu vermitteln. Ich glaube, es ist ein ziemlich breites Band."

    Marianne Johannsen war vor ihrer Pensionierung Lehrerin im Kiez. Jetzt ist sie die Schatzmeisterin von Morus 14. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Vereinsvorstandes schreibt sie in diesen Tagen Bettelbriefe an Unternehmen, Stiftungen, betuchte Persönlichkeiten und ganz normale Bürger. Denn dem Verein sind Sponsoren weggebrochen, die im Rahmen der Finanzkrise selbst in Geldnöte geraten sind, klagt Marianne Johannsen:

    "Wenn kein Wunder geschieht, das Wunder vom Rollberg, müssen wir den Verein schließen sozusagen."

    Um laufende Kosten zu sparen und dem Verein Zeit zu geben, die drohende Insolvenz abzuwenden, hat Gilles Duhem, der Geschäftsführer von Morus 14, zum 1. Oktober gekündigt. Der gebürtige Franzose hatte den Verein 2003 gegründet und mit Bedacht ohne staatliche Finanzierung aufgebaut. Denn öffentliche Fördergelder für gemeinnützige Vereine werden in Deutschland immer nur befristet gewährt. Wer Folgeanträge stellt, muss seine Projektziele neu fassen. "Uns ging es aber um eine gleichmäßige, nachhaltige Arbeit", sagt der gelernte Volkswirt. "Deswegen haben wir versucht, unsere Mittel selbst zu erwirtschaften".

    "Wir vermieten das Gemeinschaftshaus an private Menschen, wir haben Vereinsmitgliedsbeiträge, wir organisieren Veranstaltungen, die alle durch kleine Spenden immer eine kleine Marge erwirtschaften. Der Großteil kommt aus Spenden von privaten Menschen, von Stiftungen, die natürlich nie planbar sind. Das ist das ewige Schnappen nach der Wurst."

    Morus 14 gilt als Vorzeige-Verein. Seine Arbeit wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Ganz bewusst haben Gilles Duhem und seine Mitstreiter auf das Engagement der Zivilgesellschaft gesetzt. Sie haben Integration als eine Aufgabe definiert, die nicht allein in die öffentliche Hand gehört, sondern auch den Bürger und die Bürgerin von nebenan fordert. Sei es durch ehrenamtliche Vereinsarbeit oder durch Spenden. In den nächsten Wochen muss sich weisen, ob diese Auffassung von sozialer Vereinsarbeit Zukunft hat.