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Warten auf den Schlaf-Guru

Vom Leben einigermaßen lädierte Figuren treffen in Ulrike Kolbs neuem Roman aufeinander. Allen gemeinsam: Ihnen fehlt der Schlaf. Mit heiterem Ton aber nie oberflächlich führt Kolb ihre Protagonisten durch die Ängste und Faszinationen der Nacht.

Von Claudia Kramatschek | 25.09.2013
    Sie sei eine "Chronistin der Geschichte Westdeutschlands" – bescheinigte die Kritik einmal der in Frankfurt geborenen Autorin Ulrike Kolb, die inzwischen in Berlin Wurzeln geschlagen hat. Jenem Berlin, das Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre zum Zentrum der bundesdeutschen Studentenbewegung wurde, ohne deren linke Ideen Ulrike Kolb vielleicht nicht die Autorin wäre, die sie ist. Von Anfang an war ihr Werk vom Geist dieser Zeit geprägt: Ihr "Roman ohne Held" beispielsweise, 1997 erschienen, ist ein Vaterbuch, das unbequeme Fragen an die Generation der Eltern stellt; "Frühstück mit Max" und "Diese eine Nacht" sind kritische Zeitreisen zurück in die Studentenbewegung selbst; zuletzt erschien 2006 der Roman "Yoram" über die "amour fou" zwischen einer Deutschen und einem Juden, die naturgemäß im Schatten des einstigen Holocaust steht. Geschichte und Zeitgeschichte sind also stets präsent in Kolbs Werk – wobei das sich Erinnern und damit die Konstruktion von Geschichte für Kolb immer auch eine Arbeit am Sinn des menschlichen Lebens darstellt. Nun liegt aus der Feder der 1942 geborenen Autorin ein neuer Roman vor: "Die Schlaflosen". Erschienen ist er – wie bereits "Yoram" – im Wallstein Verlag. Claudia Kramatschek hat den Roman gelesen und sich mit Ulrike Kolb in Berlin über dieses Buch unterhalten.

    "Sie reißt die Augen auf, als könnte sie so die grafische Wirrnis auf der Straße, in die sie hineingleitet, unter ihre Kontrolle zwingen. Die weiße Linie teilt sich, strebt in spitzem Winkel auseinander, jagende helle Striche, als sie die am Lenkrad klebende Hand löst und mit der Fingerspitze Kontakt zur Brille sucht, um sie höher zu schieben."

    Das erste, was einem sofort ins Auge sticht, nein besser im Ohr klingt, ist der Ton, der im neuen Roman von Ulrike Kolb herrscht: ein dynamischer und doch heiterer Ton, mit dem uns die Erzählerin von der ersten temporeichen Zeile an beschwingt mitnimmt.

    "Ja stimmt, es hat mir Spaß gemacht, den Roman zu schreiben, obwohl es ein Thema ist, was nicht so spaßig ist. Und ich bin darauf gekommen natürlich, weil ich selbst seit vielen Jahren ... oft sehr schlecht schlafen kann. "

    Als Schlaflose entpuppen sich auch die Handvoll Menschen, die sich nach und nach für ein Wochenendseminar mit einem berühmten Schlafpapst auf Gut Sezkow einfinden, einem alten Gutshaus im Umland von Berlin. Dieses ist – wir sind im Jahr 2011 – inzwischen zu einem charmant verwitterten Hotel umgebaut worden.

    "Zwei Torpfosten, der linke von einem Steinlöwen gekrönt, dessen Kopf auf der einen Seite schräg abgeschlagen ist, was komisch und zugleich trotzig aussieht, wie bei einem, der seine Beschädigungen mit Lächeln trägt, ja, der Löwe lächelt, und es sieht aus, als lächle er über die Anmaßung der Natur."

    Vom Leben einigermaßen lädiert sind auch Kolbs Figuren, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Da ist etwa Margot, eine exzentrische ältere Dame mit Kappe auf dem Kopf, das Gesicht wie einem Gemälde von Nolde entsprungen; da ist Rottmann, ein gescheiterter Künstler, der sich als Gebrauchsgraphiker durchs Leben geschlagen hat; da ist Moll, eine eher beleibte, aber nur nach außen hin tough wirkende Immobilienhändlerin. Denn nicht nur Moll wird im Lauf der einen Nacht, in der Kolbs wieder einmal kammerartig angelegter Roman spielt, die Hüllen fallen lassen.

    "In diesem Fall trifft das Wort Kammerspiel jetzt vielleicht besonders zu, weil ich mir tatsächlich die Geschichte wie auf einer Bühne vorgestellt habe oder vielleicht noch besser wie in einem Film. ... In Wirklichkeit gibt es dieses Haus nicht so. Ich habe es mir wirklich vorgestellt und ich dachte dabei auch an französische Filme, die zum Teil in alten kleinen Chateaus spielen."

    Tatsächlich verstrahlt der Roman stellenweise die Atmosphäre eines Lustspiels. Denn der Mann, der die Schlaflosen von ihrer Schlaflosigkeit womöglich heilen soll, kommt nicht. Um die verprellten Seminarteilnehmer bei Laune zu halten, wird Wein und Essen serviert. Grüppchen finden sich zusammen; Blicke und Worte fliegen hin und her in diesem literarischen Nocturne – so etwa zwischen Moll und Peter Mulik, einem ranghohen Versicherungsvertreter, die sich beide am Ufer des nahe gelegenen Sees eingefunden haben.

    "Jetzt ist es die Frau, die tröstend ihre Hand auflegt, die die Wade des Manns tätschelt, auf dessen Schoß sie den Kopf liegen hat, ein Tätscheln, das einen Vertrauensfluss in Gang setzt, warm, zuversichtlich, sodass dem Mann von den Lippen fließt, was er bis dahin in einem gut verschlossenen inneren Tresor eingelagert hatte."

    "Das hat mich überhaupt interessiert: Diese flirrende Stimmung, in die man gerät, wenn man lange nicht oder schlecht schlafen kann. Dann verändert sich die Wahrnehmung und man fängt an, an den Dingen zu zweifeln, so wie man sie sonst wahrgenommen hat in gut ausgeschlafenem, wachen Zustand."

    Mulik wird Moll gestehen, dass er sich nach dem Tod seiner Frau plötzlich in den Armen seiner erwachsenen Tochter wiederfand. Sprich: Auch ihm lockert die Nacht ¬ – die hier schützt und enthüllt zugleich – gehörig die Zunge. Denn der Roman inszeniert zugleich eine einzige intime Redekur; heraus kommen die Geheimnisse und Abgründe, die jeder mit sich trägt: Die Bilder seines schreienden Sohnes etwa, die der Vater seit einem schweren Autounfall nicht mehr vergessen kann; die rasende Eifersucht, die Bühlow, den Hotelbesitzer, plagt – dabei hat seine Frau Miriam, eine äthiopische Schönheit, ihr Herz doch schon längst an den italienischen Zauberer verloren, einen Hotel-Stammgast, der in dieser Nacht ebenfalls seine Kunst zum Besten geben darf.

    "Ich wollte so das ganze Spektrum von Empfindung darstellen können. Also nicht nur das Lustige oder das Lustvolle, wie zum Beispiel hier beim Trinken oder Essen, die Scherze, die da gemacht werden, sondern ich wollte auch das Traurige und das Düstere darstellen. Ich wollte diese Mischung darstellen, die unser Leben so komisch macht."

    Keine der unterschiedlichen Empfindungen ist daher allzu dick aufgetragen. Alles wird nur wie im Vorbeigehen gestreift – und wirkt dennoch nicht oberflächlich. Das liegt nicht zuletzt an der wunderbaren, eben filmischen Art und Weise, mit der Kolb ¬ihre Geschichte erzählt: Immer wieder wechselt sie die Perspektiven; immer wieder überrascht sie mit neuen Blickwinkeln, Szenenwechseln, Bildern. Brüche also auch hier. Schließlich geht es Kolb wie in vielen ihrer Romane erneut um die Brüche in den Fassaden, um das Dunkle, das im Keller jeder Existenz lagert –- und das für Kolb letztlich das Insignium unserer menschlichen Existenz darstellt:

    "Ein Splitter Irrsinn in der Intelligenz vielleicht, der erst das schöne Schillern eines Menschen ausmacht und seine Klugheit aufblühen lässt."

    Deshalb auch mag Rottmann Margots vom Alter gezeichnetes Gesicht; deshalb auch betont Kolb den eigentümlichen Reiz der Narben und Wunden, mit denen das Leben ihre Figuren, ja eigentlich uns alle "beschädigt".

    "Ich würde es nicht unbedingt Beschädigung nennen. Natürlich, wenn man nicht schlafen kann, ist das eine Beschädigung – eine tiefgehende, verstörende Beschädigung. Aber was ich ja aufzeige in diesem Buch, ist, dass man oft gar nicht genau weiß, woher das kommt. Und die Leute, die sich da treffen, sind im Grunde ganz normale Leute, wie alle, wie die meisten, die unter einem bestimmten Aspekt als Gescheiterte bezeichnet würden. Aber sie sind nicht besonders gescheitert. Sie sind wie die Meisten: Sie haben manches erreicht, manches nicht erreicht."

    Man kann "Die Schlaflosen" also auch als ein philosophisches Nachtstück verstehen:

    "Ja, und es ist ja auch ein Zitat dazu: 'Das trunkene Lied' von Nietzsche aus dem ‚Zarathustra’. Das zitiert da einer dieser Schlaflosen – zwar falsch – statt Welt sagt er Weib – also diese philosophische Ebene kommt auch drin vor. Zumal: Die Schlaflosen, die da auftauchen, sind – zum Teil jedenfalls – leidenschaftliche Leser. Denn was soll man machen nachts, wenn man nicht schlafen kann."

    Mehrfach sind übrigens Verweise auf andere Schlaflose sowohl in der Literatur als auch in der Malerei spielerisch in den Roman eingeflochten – sprich: Kolb spiegelt ihr Thema noch einmal in der Kunst selbst. Wenn Rottmann sich im Zuge dessen Gedanken macht, wie eine Kunst beschaffen sein müsse, die radikal und doch sublim zugleich sei: Dann darf man auch diesen Roman in Gänze als eine mittels der Kunst gebrochene Reflexion darüber verstehen, ob und wie man das Schwere und Dunkle in etwas Leichtes und Lichtes verwandeln kann. Ulrike Kolb ist dies mit "Die Schlaflosen" durch und durch gelungen. Alles schwebt – so lautet zu Recht der letzte Satz dieses Romans. Er zeugt von einer luftigen und neu anmutenden Gelassenheit, die der nunmehr 71-jährigen Autorin äußerst gut zu Gesicht steht.

    Literaturhinweis: Ulrike Kolb: Die Schlaflosen. Roman. Wallstein Verlag 2013. 200 Seiten, 19,90 Euro