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Warum Aleksej Politik für eine schmutzige Angelegenheit hält - eine Dorfgeschichte

Erst seit 1991 ist die Ukraine ein unabhängiger Staat. Früher zu Zeiten der Sowjetherrschaft war sie einmal die Kornkammer UDSSR, denn die Böden sind fruchtbar. Der Reaktorunfall von Tschernobyl im Jahre 1986 verstrahlte und entvölkerte weite Landstriche der Ukraine.

Von Andrea Rehmsmeier |
    Heute ist die Republik ein zutiefst gespaltenes Land: der Westen ist pro-europäisch und richtet sich nach Europa aus, der Osten ist pro-russische und in Richtung Moskau orientiert. Folglich gibt es zwei Präsidentschaftskandidaten: die gegensätzlicher nicht sein könnten. Der eine ist Viktor Juschtschenko, er würde gerne mehr Demokratie wagen und die Ukraine an Westeuropa heranführen. Der andere der pro-russische Präsidentschafstkandidat Viktor Janukovitsch war lange Gouverneur im Osten der Ukraine im Kohlerevier Donbass bevor er als Premierminister nach Kiew ging. Jetzt ist er Präsidentschaftskandidat, im Osten gilt er als Favorit.

    Das Landleben beginnt direkt hinter der Stadtgrenze. Gerade noch haben großflächige Werbetafeln, Wohnblocks und Blumenrabatten die frisch asphaltierte Landstraße gesäumt. Jetzt erstreckt sich hinter dem Autofenster nur noch eine flache Steppenlandschaft – mitten drin liegen zwei Ansiedlungen mit den Namen: "Stepnoe" und "Slatkoe" – das "Steppendorf" und das "Süße Dorf". Als ausländische Journalistin erregt man dort sofort Aufmerksamkeit: Sofort radelt eine resolute Dame herbei, die die Ausweispapiere überprüft.

    Dann ist die Verwaltungsbeamtin gerne zu Auskünften bereit: Sie schwärmt von dem gestiegenen Lebensstandard. Den Präsidentschaftskandidaten Janukóvitsch kennt sie persönlich - aus der Zeit, als er noch der Gouverneur von Donezk war.

    FR. STRABOVSKI, DUKTUS: HASTIG, WORTREICH, PLAPPERND: Einmal hat er die Leitungskader der Region zusammengerufen, ich war selbst dabei. Liebe Führungskräfte, hat er gesagt, ich fordere Sie auf, alle ausstehenden Löhne auszuzahlen! Ich persönlich werde das kontrollieren! Seitdem hat es nie wieder eine Verzögerung bei den Gehaltszahlungen gegeben. Er hat ja soviel für unsere Region getan! Jetzt gerade hat er die Renten erhöht! Und sie renovieren unser Kulturzentrum. Morgen wollen sie das Dach der Schule reparieren. Und im Kindergarten gibt es jetzt warmen Mittagstisch: Peleméni, Waréniki, wie schmeckt das den Kindern!

    Die ehemalige Kolchose ist bis heute in Staatshand – wenn auch private Investoren die lukrativen Produktionszweige herausgekauft haben. Äußerlich haben sich die Dörfer kaum verändert: Hinter bunten Zäunen luken Backsteinhäuschen hervor, merkwürdig schief und verschachtelt mit Anbauten und Verschlägen. Im "Steppendorf" wohnt Aleksej mit seiner Familie: Er selbst mit Frau und Sohn, die Eltern und der Großvater. Tagsüber arbeitet der schmächtige junge Mann als Taxifahrer in Donezk – in der Stadt sind die Gehälter besser. Aber er mag das Dorfleben – die Gänse, Hunde und Schweine, die Gartenarbeit und das selbstgezogene Gemüse.

    HR. SCHEPMANN (DUKTUS: STOLZ, GESCHMEICHELT LACHEND): Kommen Sie bitte durch. Vorsicht, es ist etwas schmutzig hier! Sehen sie, dieses ist unser Garten: Wir haben Apfel-, Kirsch- und Pflaumenbäume. Dort gibt es Kohl, Tomaten, wir hatten in diesem Jahr sogar ein paar Wassermelonen. Und da hinten ist unser Kartoffelacker.

    Hier, wo sich die Apfelbäume unter der Last der Früchte biegen und die Frauen wie eh und je auf den Feldern helfen, scheint die Tagespolitik weit weg zu sein. Auf einem Bänkchen vor dem Haus hält der Großvater einen Plausch mit dem Nachbarn. Es geht um die Ernte, um die Rente, aber nicht um Politik Der Nachbar hat Angst.

    Hr. Schepmann: Ja, rede du nur über die Wahlen! Aber sei bloß vorsichtig: Die Zeiten sind wieder gefährlich geworden! (VERLEGENES LACHEN) Jetzt erschießen sie doch schon wieder Leute! Neinnein, das ist kein Witz! Man hört doch so viel! Leute verschwinden, und sie werden nie wieder gesehen!

    HR. LÖW: Ach, du meinst diese Auftragsmorde?

    Hr. Schepmann: Jaja, gedungene Mörder machen das! Der Journalist Gongadse, die Korrespondentin Alexandrovna, wieviele Mordopfer gibt es schon! Na gut, ich will jetzt mal gehen ...

    Dem Großvater sind seine Alltagssorgen näher als wilde Großstadtgerüchte: Die Inflation hat seine Lebensersparnisse aufgefressen. Aleksejs Eltern, die früher Kolchosbauern waren, schlagen sich heute als Tagelöhner durch. Und seit die Lebensmittelpreise sinken, ist auch mit der Gartenernte nichts mehr zu verdienen. Seitdem drehen sich alle Gespräche nur noch um Geld. Krank werden darf keiner: Eine Operation würde die Familie ruinieren. Während die anderen arbeiten gehen, versorgt der Großvater die Tiere. Er erntet das Ost, macht das Gemüse für den Winter ein und bemuttert die Familienmitglieder, wenn sie todmüde von der Arbeit kommen. Aleksej stellt er einen dampfenden Teller mit Borschtsch hin.

    HR. LÖW: Hier hast du noch Eier, Butter, und Zucker für den Tee! Hast du gehört? Fast alle Traktoren sind kaputt, und nun fürchten sie, dass sie das Saatgut nicht mehr rechtzeitig in die Erde kriegen! Sowas hätte früher nicht passieren können. Damals gab es an die 100 Kfz-Mechaniker auf der Kolchose. Jetzt haben wir gerade noch 14, und die können die Ersatzteile nicht auftreiben! Seit zwei Wochen sind sie nun schon beim Einsäen, und es nimmt einfach kein Ende!

    Aleksej löffelt seine Suppe und schweigt. Zu den schleichenden Veränderungen im Dorf hat er seine eigene Meinung - aber die posaunt er lieber nicht hinaus.

    Aber wenn man mit ihm im Wagen sitzt, kann man ihn lästern und fluchen hören. Dann nämlich, wenn er an den Neubauten vorbeifährt, die sich jetzt wie ein Wohlstandsgürtel um das Dorf ziehen. Meist sind es hohe Staatsbeamte aus Donezk, die sich hier ihre Sommerhäuschen hinbauen, mit Fassaden voller neureichem Protz und einem Pool im Garten. Es sind dieselben, die den Dorfleuten erklären, dass das Budget für Traktor-Ersatzteile leider ausgeschöpft ist. An einer solchen Verlogenheit, glaubt Aleksej, wird auch die Präsidentschaftswahl nichts ändern. Denn wie da getrickst wird, hat er am eigenen Leib erlebt.

    HR. SCHEPMANN: Damals, als ich mich um den Arbeitsplatz als Taxifahrer beworben habe, musste ich als allererstes meine Mitgliedschaft in Janukóvitschs "Partei der Regionen" beantragen. Und erst danach durfte ich meine Bewerbung abgeben. Ist das etwa demokratisch? Noch ein Beispiel: Kurz vor den letzten Präsidentschaftswahlen hatte ich zufällig mit der Gebietspolizei zu tun. Dabei habe ich mitgekriegt, dass die gesamte Führungsriege eine Erklärung darüber unterschrieben hat, dass sie freiwillig kündigen werden, wenn Kutschma nicht wiedergewählt wird. Die Polizei hat sich quasi selbst verpflichtet, die Leute so bearbeiten, dass sie für Kutschma stimmen! Und sowas nennt sich Demokratie!

    Im Nachbardorf - dem "Süßen" – wird jetzt die rentablere Viehwirtschaft betrieben. Hier kreisen riesige Spatzenschwärme über den Rinderkoppeln und zeichnen bizarre Formen in den strahlenden Herbsthimmel. Es ist später Nachmittag, und über den Feldweg nähern sich mit großen Milchkannen die Melkerinnen. Kurz darauf bremst ein schmutziger Mercedes am Melkstand: Der Kolchosendirektor ist alarmiert worden, dass eine ausländische Journalistin im Dorf unterwegs ist.
    DIREKTOR, VOICE OVER: HR. LÖW: Mädchen! Kommt mal rüber! Hier will man eure Meinung zu den Präsidentschaftswahlen wissen!

    Eine ältere Melkerin lässt vor Schreck ihren Melkeimer sinken.

    O-TON MELKERIN 1, FR. MISCHKE : Was wollen diese Journalisten denn auf einmal unsere Meinung wissen? Wollen die uns aushorchen, damit wir hinterher leichter dranzukriegen sind?

    Die anderen sehen das Interview gelassener.

    O-TON MELKERIN 2, VOICE OVER: FR. STRABOVSKI: Bei uns im Donbass wählen wir Janukóvitsch, heißt es, und in der Westukraine werden sie für Júschtschenko stimmen. Aber ich habe neulich gehört, dass letztendlich wohl eher Júschtschenko das Rennen machen wird!

    O-TON DIREKTOR, VOICE OVER: HR. LÖW: Ach rede doch keinen Unsinn! Hör dich um, überall wählen sie nur Janukóvitsch! Weil er gute Regierungsarbeit leistet. Hat er nicht die Renten erhöht? Und die Löhne? Das wird das Volk begreifen. Janukóvitsch ist klug, und er greift hart durch. Er ist jetzt genau der Richtige! Júschtschenko, da bin ich 100-prozentig sicher, hat keine Chance. Wer braucht denn hier Nationalismus und Bürgerkrieg? Damit die Westukrainer über die Ostukrainer herfallen? Júschtschenko wird das Volk nur zu einem Aufstand aufhetzen!

    O-TON MELKERIN 1, FR. MISCHKE (DUKTUS: SCHRILL): Zwölf Jahre haben wir uns geschunden, dass wir hier keinen Nationalismus kriegen! Wir brauchen keinen Bürgerkrieg! Und nach der Wahl werden sie uns dran kriegen dafür, dass wir hier öffentlich unsere Meinung gesagt haben! Dann schickt Júschtschenko seine Schergen, damit sie unter uns aufräumen! Und wohin sollen wir dann fliehen? Nach Russland etwa? Deutschland nimmt uns doch nicht!

    Auf dem Rückweg ist Aleksej schweigsam. Links von der Straße rumpelt ein Traktor über den Acker, am Wegesrand entlang schlendern zwei Mädchen mit Schulranzen. Rechter Hand versperren Bäume den Blick auf das dahinterliegende Gelände. Als sich eine Lücke zwischen den Baumwipfeln auftut, verlangsamt Aleksej die Fahrt: Da stehen eine Menge Baugerüste, dann erkennt man zwei mehrstöckige Rohbauten.
    HR. SCHEPMANN: Dieses Haus hier baut unser Direktor übrigens gerade für seinen Sohn. – Und dieses baut der stellvertretende Direktor für seine Tochter ... (lacht).