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Warum deutsche Politiker einpacken

Wann und warum treten Politiker zurück? Können die Medien Rücktritte erzwingen, oder sind es doch die Fakten, die zur Endstation politischer Karrieren führen? Frank Überall und Pascal Beucker haben untersucht, wie, warum und wann deutsche Politiker einpacken. Volker Wagener hat das Buch gelesen.

Von Volker Wagener |
    Die Autoren starten ihre Recherche mit einem wahrlich eindeutigen Fall. Es geht um die "Causa Palmer" im Oktober 2004. Christoph Palmer, ein Christdemokrat, war zu später Stunde anlässlich der Wiederwahl des Stuttgarter Oberbürgermeisters Wolfgang Schuster mit dem Waiblinger Bundestagsabgeordneten Joachim Pfeiffer in Streit geraten. Augen- und Ohrenzeugen wollen aus dem Munde Palmers so Unmissverständliches wie "Drecksau", "Rädelsführer" und "Verräter" vernommen haben - was erst die Ouvertüre für Rustikaleres war. Danach verpasste er dem MdB Pfeiffer zwei Ohrfeigen - und zwar kräftige -, berichteten seinerzeit die Anwesenden. Palmers Schadensbilanz war schnell gemacht, die Unbeherrschtheit kostete ihn das Amt. Palmer, damals 42 Jahre jung, war immerhin Staatsminister. 24 Stunden nach den ausgeteilten Backpfeiffen trat Palmer mit den Worten zurück, er bitte "die Öffentlichkeit um Verständnis, dass Menschen, auch wenn sie Minister sind, nicht ohne Emotionen sind". Ein Fall der Abteilung schnell und konsequent, urteilen die Autoren Pascal Beucker und Frank Überall.

    Langwieriger und prominenter der Fall Lothar Späths, CDU. Der Ministerpräsident Baden-Württembergs geriet Ende 1990 unter dem Schlagwort "Traumschiff-Affäre" ins Gerede. Er hatte zahlreiche Lustreisen auf Kosten von Unternehmern mitgemacht. Das reine Vergnügen seien die Urlaube in Manila, Hongkong, Mexiko oder Malaysia nicht gewesen, konterte Späth nach anfänglich eher patzigen Reaktionen. Immerhin habe er dabei auch Gespräche über Investitionsprojekte im Ländle geführt - zumindest bei einigen. Dennoch: Am 13. Januar 1991 trat Späth zurück. Er sei Opfer jener geworden, die ihn niedermachen wollten. Es gab auch andere Begründungen.

    " Wenn in einer solchen Art, wie das jetzt läuft, jemand über Monate hinweg gebunden ist durch einen Untersuchungsausschuss, und wenn ich anfangen muss Belege und Buchhaltungen durchzusehen, die ich vorher nie gesehen habe, und dauernd gefragt werde, wie war denn das, wie war denn das mit der Abrechnung und dieser Unterlage? Dies hab ich selbst nie übersehen können, weil ich mich nie damit beschäftigt habe. Und wenn ich das jetzt machen muss, dann ist die Regierungsarbeit gelähmt. "

    An dieser Stelle rückt der Untertitel des Buches in den Blickpunkt. Die Autoren wollen die Begründungen der Rücktritte dokumentieren, um sie sodann zu typologisieren. Lothar Späth rechnen Beucker/Überall zur Kategorie "Die Sünderlein - Rücktritt wegen zu guter Nehmerqualitäten". Hierzu zählen sie unter anderen auch Amigo Max Streibl und Laurenz Meyer.

    Unter dem Kapitel "Der lange Schatten der Vergangenheit" finden wir auf Seite 263 die Geschichte über das plötzliche politische Ende des Philipp Jenninger. Der frühere Bundestagspräsident hatte 1988 anlässlich des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht im alten Bonner Wasserwerk vor dem Bundestag eine Rede gehalten, bei der - noch während er sprach - rund 50 Parlamentarier den Saal verlassen hatten, aus Protest gegenüber einem Vortrag der gut gemeint, aber völlig daneben war, so das einhellige Urteil der Zuhörer. Aussagen wie "die Staunen erregenden Erfolge Hitlers" seien eine "nachträgliche Ohrfeige für das Weimarer System" gewesen, konnten nicht nur, sondern mussten sogar missverstanden werden.

    " War er nicht wirklich von der Vorsehung auserwählt, ein Führer wie er einem Volk nur einmal in tausend Jahren geschenkt wird? Sicher, meine Damen und Herren, in freien Wahlen hatte Hitler niemals eine Mehrheit der Deutschen hinter sich gebracht. Aber wer wollte bezweifeln, dass 1938 eine große Mehrheit der Deutschen hinter ihm stand, sich mit ihm und seiner Politik identifizierte? "

    Hier marschierte einer mit geistigen Knobelbechern durch die Geschichte, befand der FDP-Abgeordnete Wolfgang Lüder. Einen Tag später reichte Jenninger seinen Rücktritt ein. SPD-Partei-und Fraktionschef Hans-Jochen Vogel traf den Kern des Scheiterns Philipp Jenningers am besten.

    " Philipp Jenninger hat damit eine angemessene Konsequenz aus der Tatsache gezogen, dass er in einem Zusammenhang, der an das gedankliche und sprachliche Einfühlungsvermögen und die Sorgfalt der Darstellung besondere Anforderungen stellte, diesen Anforderungen nicht gerecht geworden ist. "

    Der Rhetorik-Professor Walter Jens urteilte kurz und zutreffend: "Eine völlig missratene Rollenprosa". Jenninger hatte es nicht verstanden, Zitate als Zitat kenntlich zu machen, und er gebrauchte Formulierungen, die als Rechtfertigung des Nationalsozialismus missdeutet werden konnten, schreiben die Autoren. Ein Jahr später wurde Jenninger ausgerechnet von Ignatz Bubis, damals zweiter Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, in Teilen rehabilitiert. Bubis verwandte in zweien seiner Ansprachen zum Holocaust-Gedenktag wörtliche Passagen aus Jenningers Ansprache und erntete Applaus dafür. Ein Experiment, das belegt, dass die Rede in weiten Teilen hervorragend war, sagte Bubis wenig später in einem Zeitungsinterview. Nur wurde sie rhetorisch miserabel gehalten, ergänzte er.

    Der wohl aufsehen erregenste Rücktritt in der bundesdeutschen Politik war unzweifelhaft der von Willy Brandt 1974. Er schlug auch international Wellen und hinterließ Spuren. Die Autoren belegen das. Es gebe nicht viele Theaterstücke, die sich mit der Amtszeit eines deutschen Bundeskanzlers beschäftigen, schreiben sie. Michael Frayn, einer der renommiertesten Schriftsteller Großbritanniens hat genau das aber getan und die Amtszeit Brandts auf die Bühne gebracht. "Democracy" heißt das Stück, es sei fesselnd wie ein Thriller von John Le Carré, schrieb seinerzeit der Guardian.

    Auslöser der Demission Brandts, die er am 8. Mai im Fernsehen begründete, war Günter Guillaume. Brandt war vom seinerzeitigen Innenminister Hans-Dietrich Genscher schon im Mai 1973 darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass Guillaume unter dem Verdacht der Spionage stehe. Um gerichtsverwertbare Beweise zu gewinnen, wurde Guillaume zunächst nur observiert. So hatte es Günther Nollau, Chef des Verfassungsschutzamtes, Genscher vorgeschlagen, der es wiederum Brandt mitteilte. Brandt akzeptierte das und ließ Guillaume sogar im Juli während eines Norwegen-Urlaubs Einblick in geheime Dokumente nehmen. Ein Fehler, den Brandt bei seiner Rücktrittsbegründung auf seine Kappe nahm.

    " Was immer mir an Ratschlägen gegeben worden war, ich hätte nicht zulassen dürfen, dass während meines Urlaubs in Norwegen im Sommer vergangenen Jahres, auch geheime Papiere durch die Hände des Agenten gegangen sind. Es ist und bleibt grotesk, einen deutschen Bundeskanzler für erpressbar zu halten. Ich bin es jedenfalls nicht. "

    Sechs Seiten über aufregende und historische Tage vor mehr als 30 Jahren. Über die Ära Brandt gibt es mittlerweile eigene Bibliothekszimmer. Doch der Vorzug des Buches von Pascal Beucker und Frank Überall besteht vor allem in seinem Überblick. Ein wichtiges Nachschlagewerk für alle Journalisten, Politiker, Studenten und allgemein politisch Interessierte.

    Frank Überall/Pascal Beucker: Endstation Rücktritt
    Warum deutsche Politiker einpacken
    Econ, Berlin 2006
    352 S., € 18,00