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Warum die Politik nicht macht, was das Volk will

Oftmals herrscht Frust, weil die politischen Eliten zu wenig auf "Volkes Stimme" zu achten scheinen, was sich in geringer Wahlbeteiligung widerspiegelt oder handfestem Aufbegehren wie in Griechenland. Eine Tagung der Jenaer Universität hat das Zusammenspiel zwischen Elite und Volk näher untersucht.

Von Christian Forberg | 03.11.2011
    Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland, Erweiterung der Europäischen Union, Globalisierung und Bangen um den Wohlfahrtsstaat - die letzten Jahre haben Soziologen und Politikwissenschaftlern Forschungsfelder in Hülle und Fülle beschert. Nicht zu vergessen das ambivalente Verhältnis von Wählern und Gewählten, von Bevölkerung und politischen Eliten. Auch hierzu gibt es inzwischen eine Menge Forschungsmaterial, über das sich Wissenschaftler auf einer Tagung austauschten.

    "Hausherr" war Heinrich Best, Professor für Empirische Sozialforschung an der Jenaer Uni. Er leitet in einem Sonderforschungsbereich den Abschnitt Elitenforschung und folgert aus der jüngsten Befragung, dass die Kluft zwischen Ost und West geringer sei, als jene zwischen politischer Elite und Bevölkerung:

    "Was wir festgestellt haben ist, dass es auf der Ebene der Eliten eine Integration gegeben hat, die aber dazu geführt hat, dass es durchaus und vor allem im Osten eine Vergrößerung der Kluft zwischen Elite und Bevölkerung gegeben hat. "

    Hier wie dort erwarten die Menschen von ihren Repräsentanten, dass ihre Stimme Gehör, Respekt und bestenfalls spürbare Anregung findet; im Osten wollen das mehr, im Westen etwas weniger als 80 Prozent der Befragten. Die Abgeordneten sehen das anders: Anregungen aufzunehmen ist für sie ähnlich wichtig wie politische Orientierung geben. Was eigentlich normal sei, meint Heinrich Best:

    "Die repräsentative Demokratie ist ja eine Veranstaltung, die genau das bewirkt und in gewisser Weise auch bewirken soll, nämlich eine Führung der Gesellschaft durch die Eliten mit einer Rückbindung an die Bevölkerung. "

    Die mit ihrer Wahl entscheidet, welche Teile der Eliten sie weiterhin vertreten sollen. Allerdings: Nur etwa jeder zehnte Bürger erwartet eine politische Orientierung.
    Ein etwas anderes Bild ergab eine Befragung im Projekt "Bürger und Repräsentanten in Deutschland und Frankreich", die von den Universitäten Stuttgart, Halle und Bordeaux getragen wird. Die Befragten seien weit mehr als der Durchschnittsbürger politisch interessiert gewesen, meint der Stuttgarter Sozialwissenschaftler Florian Rabuza. Er und Kollegen stellten fest, dass mehr Leute an der "Responsibility", einer verantwortungsbewussten Tätigkeit von Abgeordneten zweifelten, als an sie glaubten. Sie fühlten sich jedoch dann vom Abgeordneten repräsentiert, wenn sie Kontakt zu ihm fanden, und dieser zu ihrer Zufriedenheit ausfiel.

    Waren die Deutschen mit ihrem Abgeordneten zufrieden, waren sie es auch mit dem Parlament. Bei den Franzosen fiel das auseinander: Das Parlament schnitt schlechter ab. Als wahrscheinliche Ursache nennt Florian Rabuza:

    "Es ist wohl so, dass 90 Prozent der französischen Abgeordneten gleichzeitig noch andere Mandate inne haben auf kommunaler Ebene. Sehr viele sind Bürgermeister. Da kann es natürlich sein, dass die Zufriedenheit mit der Arbeit des Abgeordneten daher rührt, dass sie den Abgeordneten primär als Vertreter ihrer Community ansehen, und davon das Parlament abgrenzen. "

    Was wiederum mit der Jenaer Befragung korrespondiert: Nähe ist eine Voraussetzung für Vertrauen, aber eben nur eine. In Deutschland stellt sich Nähe über den Wahlkreis her. Weshalb alte Volksparteien noch immer im Vorteil seien, sagt Lars Vogel, Soziologe und Organisator der Jenaer Tagung. Er machte Defizite bei der Linken gegenüber der CDU aus.

    "Weil die CDU schon immer eine Partei war, die als 'catch all party' bezeichnet wurde, die als Volkspartei sehr viele Interessen integrieren musste. Das Einfache ist, auch noch den Interessen eines Wahlkreises mit gerecht zu werden, dass es besser gelingt, das in den Diskussionsprozessen der Partei einzubringen, während die Linke das noch lernen muss."

    Allerdings gebe es mit dieser besonderen Nähe zum Wahlkreis und damit verbunden den Direktmandaten ein Problem, das Thomas Zittel, Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Frankfurter Uni, polemisch als "Büchse der Pandora" bezeichnete:

    "Weil parlamentarische Demokratien auf Parteidisziplin beruhen, als auf der Möglichkeit von Parteien, diszipliniert im Parlament zu agieren. Und das sind Momente, die wir immer wieder sehen - wir haben gerade eine Abstimmung über den europäischen Rettungsschirm im Bundestag, wo es eine ganze Reihe von Abweichlern gab - und weil eine zu starke Nähe von Abgeordneten zum Wahlkreis auch gewisse Konflikte hervorrufen kann, die es Parteien schwieriger machen, diszipliniert zu agieren. "

    Das gilt erst recht in Zeiten von Massenmedien, Talkshows und Internet. Überhaupt entwickele sich der Parlamentarismus seit geraumer Zeit von der formellen Ebene der Debatten und Beschlüsse hin zu einer informellen Ebene, in der Meinungen und Meinungsstreit dominierten, meint Annette Knaut, Politikwissenschaftlerin an der Uni Koblenz-Landau. Aber das hänge auch von der Persönlichkeit des Parlamentariers ab. In ihrem vor kurzem erschienenen Buch "Abgeordnete als Politikvermittler" hat sie vier Typen beschrieben: den Selbstdarsteller, den Experten oder Seiteneinsteiger, den "Hirten", also Seelsorger-Typ, und den Netzwerker. Letzterer hätte zwar häufig einen Universitätsabschluss, aber wenig Lebenserfahrung:

    "Das ist ein Punkt, der übrigens von Lobbyisten oder Gewerkschaftern beklagt wird, dass Abgeordnete nicht mehr wissen, wie ein Firma funktioniert oder wie es ist, wenn das Kind in den Kindergarten kommt usw. Von dieser Warte aus ist das ein Problem, dass wir immer mehr Netzwerker bekommen. Vor allem ist das eine männliche Gruppe - das sehe ich als Gender-Forscherin problematisch, und das sind sehr karriereorientierte Personen, und ich glaube, dass die Responsibilität, also wie Angeordnete Interessen aus der Bürgerschaft aufnehmen, dass das die Netzwerker nicht optimal gewährleisten können. Die Seelsorger vielleicht auch nicht mehr so sehr. "

    Die hätten zwar den besseren direkten Draht zum Wähler, hingen aber in der Nutzung der neuen Medien hinterher und erreichten weniger junge Leute. Martin Emmer, Professor für Mediennutzung an der Freien Universität Berlin, stellte fest, dass insbesondere ab dem Jahrgang 1975 die Nutzung von Internet, Blogs und sozialer Netzwerke stark ansteigt. Die Quellen für politische Orientierung seien aber noch die alten:

    "Wenn wir mal gucken, wo informieren sich die Leute, dann ist es so, dass nicht die Blogs die Hauptinformationsquelle sind, sondern Spiegel-online, FAZ-online - die gleichen Quellen, die man auch außerhalb hat. Das führt dann dazu, dass es doch eine überraschende Übereinstimmung angibt, was die Inhalte angeht, über die online und offline diskutiert wird. "

    Aber das werde sich ändern, wenn die Generationen, die nicht in die Kulturtechniken der virtuellen Kommunikation hineingewachsen sind, allmählich wegsterben. Die "Ara-bellion", wie Martin Emmer das Aufbegehren junger Menschen im arabischen Raum nennt, sei Beleg.

    "Wenn wir in 20, 30 Jahren es mit kompletten Bevölkerungen zu tun haben, die bis in hohe Altersgruppen sich solche digitalen Kommunikationsformen angewöhnt haben, muss man im Staatswesen darauf reagieren. Ich glaube, dass der politische Prozess, so wie wir ihn kennen, auch etwas öffnen muss. Mit diesen klassischen Repräsentationsverfahren, die vor allem in Deutschland auf Erfahrungen des frühen 20. Jh. gründen, mit denen wird man für das 21./22. Jh. dauerhaft nicht mehr so weitermachen können. "