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Warum läuft Herr R. Amok?

Es gibt den Michael Thalheimer der "Emilia Galotti" und der "Liebelei", die vor kurzem beim Theatertreffen zu sehen war; den Thalheimer also, der die klassischen Stücke um jede historische, politische oder sprachliche Dimension verkürzt, um zum Kern vorzudringen - und der jenen Kern, also die inneren Konflikte als vor allem inneren Druck von seinen Schauspielern, unterstützt von bedeutungsschwerer lauter Musik, in gestisch-mimisch-körperlichen Zuckungen ausagieren lässt. Und es gibt den "anderen" Thalheimer, der sich an die Oberflächen von Texten hält, das ist der analytisch noch kältere Thalheimer, der abspielt, ausstellt und der Gesellschaft damit vielleicht sogar den kritischeren Spiegel vorhält. In seiner Geburtsstadt Frankfurt, wo Thalheimer jetzt zum ersten Mal inszeniert, hat er das nun wieder exemplarisch durchexerziert. Für das Bühnenbild von Olaf Altmann gilt diesmal: quer statt tief. Die Spielorte des Fassbinder-Films hat er durch ein flaches, aber dickes, bühnenhohes Gitterwerk ersetzt, das sechs völlig gleiche Räume schafft: Lebensschachteln mit Oberlicht für einen szenischen Minimalismus, der die dramatische Verweigerungshaltung des Films kongenial umsetzt. (Fassbinder hatte selbst kein Drehbuch, sondern filmte hauptsächlich improvisierte Dialoge zwischen Sitzgarnitur und Betriebsfeier.) In diesen modernen, kalten Schau-Fenstern bürgerlicher Alltags-Tristesse wird einmal mehr die Kunst des unauthentischen Sprechens geübt, und das auf gleich mehreren Ebenen: Fassbinders Improvisationen vom Ende der 60er Jahre wurden quasi wörtlich abgeschrieben und erlangen als Kopie und Kunst-Sprache auf der Bühne fast poetische Qualität. Der Protagonist sagt sowieso wenig, und wenn, dann immer ins Publikum. Er steht buchstäblich mit dem Rücken zur Gesellschaftswand. Hinzu kommen sprachliche Vignetten - die Schauspieler sprechen "wie aufgezogen", sozusagen bulimisch, um dann wieder rauchend ungute Schweigelöcher zu stopfen -, mit denen Thalheimer signalisiert: hier stottert sich das Leben einen Lauf zurecht, den niemand gewollt haben kann. Und: vor den Menschen läuft die Sprache Amok, wie im Dialog zwischen Mutter und Lehrerin, die sich auf eine Distanz von nur wenigen Zentimetern floskelhaft anschreien.

Von Karin Fischer |
    Während oben der Druck der gesellschaftlichen Verabredungen entäußert wird, schneidet Kurt unten stumm Grimassen. Aber "Warum läuft Herr R. Amok" ? Nicht, dass Rainer Werner Fassbinder und Michael Fengler mit ihrem Film irgendeine Antwort auf diese Frage gegeben hätten; denn natürlich war das Leben zwischen Kleinfamilie, Großeltern und Arbeit mit bescheidener Beförderungshoffnung damals ubiquitär und lieferte keine wirkliche Begründung für den dreifachen Mord. Mit der Banalität des Bösen kommt man hier nicht weiter. Es ist der kalte Hauch des Nihilismus, der einen aus dem Film anweht, und die Geschichte auch ins 21. Jahrhundert zu retten imstande ist - trotz 60er Jahre-Sprache (man siezt sich) und politisch unkorrektem Dauerrauchen auf der Bühne. Die tödliche Leere in den Figuren, im Film mit langen Einstellungen auf den Gesichtern verdeutlicht, ist im Stück noch spürbar. Doch Thalheimer beantwortet die Fassbindersche Frage neu, indem er die Szenen umstellt und sie in eine Erregungsachse montiert, die das Stück zielgenau zur Klimax führt - in der Kurt Raab dann gerade nicht mordet, sondern die Worte Wilhelm Müllers aus Schuberts "Winterreise" stumm mitspricht: "Ich bin zu Ende mit allen Träumen". Es gilt also, wach zu bleiben. Denn die Hunde bellen wieder. Großer Applaus für ein kleines Stück Gesellschaftsdiagnose.

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