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"Warum wir einander nicht verstehen"

China und der Westen waren bis vor Kurzem zwei weitgehend voneinander abgeschottete Welten. Das führt zu Missverständnissen und Irritationen im gegenseitigen Dialog. Dass Verständnisprobleme und Wertekonflikte auch eine lebendige Kommunikation in Gang setzen können, zeigte eine Tagung des Goethe-Instituts auf Schloss Neuhardenberg.

Von Cornelius Wüllenkemper | 23.09.2012
    Nach dem Zerfall des Blocksystems ist die Volksrepublik innerhalb nur weniger Jahre zur Drehscheibe der Globalisierung geworden. Die Einführung des Staatskapitalismus und die vorsichtige Öffnung des Regimes zu sozialstaatlichen, demokratischen und liberalen Reformen, hat die chinesische Gesellschaft dabei in eine Mentalitätskrise geführt.

    "Natürlich profitieren die westlichen Unternehmen in hohem Maße von der Politik der Kommunistischen Partei, von mangelnden Arbeiterrechten und Dumping-Löhnen. Das liegt in der Natur des Kapitalismus. Der Kapitalismus in China ist zynisch und widersprüchlich, und das geschieht sogar auf einer rechtlich gesicherten Grundlage. Nun müssen die chinesischen Intellektuellen, die sich mit den Missständen innerhalb Chinas beschäftigen, erkennen, dass es sich vor allem um ein globales Problem handelt."

    Der Lyriker und Regimekritiker Yang Lian ist ein Exempel der neuen liberalen Intellektuellen-Schicht Chinas: kritisch gegenüber den grundlegenden wirtschaftlichen und kulturellen Umwälzungen, die das Land in den vergangenen drei Jahrzehnten durchlebte. Und ebenso kritisch gegenüber dem Westen als leuchtendes Beispiel für das ostasiatische Milliarden-Reich.
    Ein gutes Dutzend Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler aus Deutschland, China, Frankreich und den USA versuchten sich auf der Tagung des Goethe Instituts im Schloss Neuhardenberg an der schwierigen Frage, wieso wir, also der Westen und China, einander nicht verstehen. In China, so scheint es, wiederholt sich derzeit die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts: eine rasante Industrialisierung und Kapitalisierung hat ein Heer an Niedriglohnarbeitern hervorgebracht. Die Landflucht in die neuen Industriezentren wird nur ungenügend durch zögerliche soziale und politische Reformen aufgefangen.

    Die Entwicklung, die China nach Maos Tod 1976 erlebte, durchläuft ein Jahrhundert europäischer Wirtschafts- und Sozialgeschichte in nur drei Jahrzehnten. Wang Hui, Professor an der Tsinghua Universität in Peking und Kopf der Gruppe der "Neuen Linken" setzt sich gegenüber der kommunistischen Führung seit zehn Jahren erfolgreich für die Rechte der 300 Millionen Wanderarbeiter ein. Er gilt außerdem als Initiator der umweltpolitischen Reformen, die das Regime seit 2004 umsetzt. Defizite in der Demokratisierung und den Menschenrechten, im Minderheitenschutz und der sozialen Balance benennt Wang offen. Wenngleich Europa in mancher Hinsicht als Vorbild diene, sehe man auch in den regimekritischen Reihen Chinas die Gefahren der liberalen Gesellschaften im Westen, betont Wang:

    "Es ist offensichtlich, dass wir in China unter einer Zensur leben. Aber gleichzeitig leiden wir unter einem anderen Phänomen: die ungebremste Machtausbreitung der Medien. Wenn eine politische Frage nicht in den Medien transportiert wird, ist es so, als wäre sie gar nicht existent. Wir kennen es aus Europa, dass hier die Staaten deswegen mehr und mehr wie Unternehmen geführt werden. Auch die Parteien funktionieren nicht mehr wie noch die politischen Zusammenschlüsse im 19. Jahrhundert, sondern eher wie ein Organ innerhalb der Staatsstruktur."

    Der Philosoph und renommierte französische Sinologe François Jullien wiederum beschäftigte sich mit Abwehrreflexen zwischen unterschiedlichen Kulturen. Er wies auf die "Abweichung" der chinesischen Kulturtradition gegenüber der westlichen Wertegemeinschaft hin. Wo hier Freiheit als Entscheidungsmöglichkeit und Emanzipation verstanden werde, sehe man Freiheit in der chinesische Kultur vielmehr als das "über sich selbst Triumphieren". Statt der Werteabgrenzung gegenüber China plädiert Jullien für eine Öffnung der westlichen Welt und erhofft sich dadurch nicht weniger als einen neuen Universalismus:

    "Wir müssen alte Kategorien aufbrechen und neue erschaffen. Wir dürfen unser Konzept von Freiheit nicht als etwas Universelles begreifen. Wir müssen unseren Freiheitsbegriff anderen Freiheitsvorstellungen gegenüber öffnen. Universalismus ist kein Kopfkissen, auf dem wir uns ausruhen können, sondern das Ergebnis einer Re-Kategorisierung unseres Denkens."

    Die Unterschiedlichkeit zweier Welten, die bis vor wenigen Jahren noch weitgehend voneinander abgeschottet waren, könne statt Abgrenzung eine produktive Spannung erzeugen, so François Jullien. Und dass Verständnisprobleme und Wertekonflikte im besten Falle eine lebendige Kommunikation in Gang setzen können, war auf der Tagung in Neuhardenberg zu erleben. Dass trotz eklatanter demokratischer und sozialer Defizite, trotz Menschrechtsverletzungen und Staatswillkür das eurozentristische Weltbild nicht als Maßstab dienen kann, liegt auf der Hand.

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