Nimmt man jetzt fiebersenkende Schmerzmittel, wie dies viele Ärzte empfehlen, verzögert sich die Heilung. Dasselbe gilt für Nasensprays, die die schleimhäute abschwellen lassen und damit den Ausfluß stoppen oder für Hustenmittel, die den Hustenreiz unterdrücken. Alle diese Körperreaktionen, so unangenehm und lästig sie auch sein mögen, sind notwendige und nützliche Abwehrmechanismen. Trickst man sie aus, schadet man sich damit selbst, denn der Gesundungsprozeß wird damit verzögert.
Natürlich empfinden wir die Reaktionen unseres Körpers als unangenehm, denn die Mobilisierung der Abwehr schwächt uns. Die Evolution hat sich hier auf einen Kompromiß eingelassen. sie aktiviert den Körper nur, wenn es unumgänglich ist. So läuft die Nase nicht ständig, hustet man nicht prophylaktisch. Auch erzeugt der menschliche Körper nur bei Infekten eine höhere Temperatur, weil Fieber massive Nachteile hat. Es baut z.B. die Nährstoffreserven bis zu 20 Prozent rascher ab und führt beim Mann zu vorübergehender Sterilität. Sehr hohes Fieber kann Gewebeschäden verursachen, zu Krämpfen und zum Delirium führen.
Bei einer ganzen Reihe von Menschen scheint die Gefahrenabwehr des Körpers allerdings Ubers Ziel hinauszuschieben. Allergien sind dafur ein gutes Beispiel. Das Immunsystem spielt bei manchen verrückt, sobald bestimmte Blumen und Gräser blühen. Warum? Die Medizinforschung weiß darauf keine Antwort. Sie reagiert mit Desensibilisierung und starken Medikamenten, den Antihistaminen, sie bekämpft also die Symptome, ohne zu fragen, wovor diese eigentlich schützen sollen, denn daß es ein Schutzmechanismus ist, steht außer Frage. Wozu also ist die Allergie nützlich, auf welche Gefahren reagiert der Körper so heftig? Bislang versucht man Allergien einfach mit Überempfindlichkeit zu erklären. Für die beiden Buchautoren ist das keine sehr überzeugende Erklärung für ein immer häufiger auftauchendes Phänomen und sie schlagen vor, doch einmal in der menschlichen Evolution nachzuschauen, wozu die allergische Reaktion des Immunsystems gedient haben könnte.
Manche Krankheit, so vermuten die Autoren, ist vielleicht gar keine richtige Erkrankung, sondern nur ein zuviel des Guten. Das könnte möglicherweise bei der Gicht so sein. Eine erhöhte Harnsäureproduktion führt oftmals dazu, daß sich überschüssige Harnsäurekristalle in den Gelenken ablagern und dort starke Schmerzen auslösen. Man weiß aber, daß Harnsäure die Zellen vor Schäden schützt, die durch Oxidationen entstehen können. Damit wird wahrscheinlich der Alterungsprozeß hinausgeschoben. Man könnte nun vermuten, daß Menschen mit hohem Harnsäurespiegel länger leben als andere. Nur untersucht hat noch niemand diese Zusammenhänge. Die Evolutionsmedizin steckt noch in den Kinderschuhen. Das gilt auch für den gesamten Bereich der psychischen Störungen. Übermässige sinnlose Angst schadet bekanntlich, nicht nur weil sie das psychische Wohlbefinden extrem einschränkt, ein normales Leben mit anderen erschwert, sondern auch weil sie den Körper unter enormen Streß setzt, auf längere Dauer sein Gewebe schädigt und so ernsthaft körperlich krank machen kann. Doch niemand wird abstreiten, daß Angst eine sehr nützliche Eigenschaft ist, denn sie bewahrt vor schlimmen Fehlern, Leichtsinn, risikanten Handlungen. Die Evolution hat sie herausgebildet, um vor Gefahren zu schützen. Wer beim Knacken eines Zweiges im Dschungel stets nur Affen vermutete, wird viel eher einem Tiger zum Opfer gefallen sein als sein ängstlicher Kumpan, der jedesmal das Schlimmste fürchtete und Reißaus nahm. Überlebt haben die Ängstlichen, nicht die leichtsinnig Mutigen.
Allerdings geben die beiden Autoren zu, daß gerade im Bereich der geistigen Störungen evolutionstheoretische Erklärungen sehr schwer fallen, weil jedes psychische Phänomen zahlreiche Auslöser und Ursachen haben kann. Es läßt sich schwer auf einzelne biologische Gründe reduzieren. Allerdings könnte es auch hier helfen, nach Vor- und Nachteilen zu fragen, bevor man anfängt, Gene für Depressionen, Schlafstörungen, Schizophrenie zu isolieren und zu manipulieren. Die Psychiatrie, so fordern Nesse und Williams, sollte sich mehr mit der Evolutionsbiologie befassen, bevor sie für emotionale Störungen Gendefekte verantwortlich macht und diese zu reparieren versucht. Genauso schwer fällt allerdings auch die Vorstellung, die darwinsche Evolutionsmedizin könnte die schwierige Gefühlswelt des Menschen entschlüsseln, denn was den Menschen auszeichnet ist ja gerade die Unabhängigkeit seines Denkens und Fühlens. Er ist kein Hampelmann, der an den Strippen seiner Gene hängt. Das ändert allerdings nichts an der grundlegend richtigen Erkenntnis, daß die Evolutionsmedizin manches Krankheitsrätsel lüften könnte. Man mußte sie nur lassen.