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Warum wir krank werden

Es ist wieder soweit. Die Nase läuft, der Hals kratzt, der Kopf platzt, man fühlt sich schlapp und müde, Fieberschübe lassen einen am ganzen Körper in Schweiß ausbrechen - die herbstlichen Erkältungsviren sind auf dem Vormarsch. Und jedesmal trifft es einen genauso unvorbereitet wie letztes Jahr. Der Körper verweigert seine normale Funktion. Seine Abwehrkräfte kämpfen heftig gegen den Eindringling an und brauchen Tage, bis sie ihn endlich besiegt haben. Der Arzt kann kaum helfen, mit Medikamenten höchstens die Symptome unterdrücken und lindern. Ein höchst ärgerlicher Zustand, den alle Anstrengungen der medizinischen Forschung bis heute nicht haben beenden können. Wahrscheinlich wird es auch auf absehbare Zeit keine wirksame Hilfe geben, denn die Medizin stellt die falschen Fragen. Das jedenfalls behaupten die beiden amerikanischen Wissenschaftler Randolph Nesse, Mediziner, und George Williams, Ökologe und Evolutionstheoretiker in ihrem Buch "Warum wir krank werden".

Johannes Kaiser |
    Ihrer Ansicht nach denkt die Medizin bei der Bekämpfung vieler Krankheiten, und das gilt insbesondere auch für alle Infektionen, zu kurz. Sie beschränkt sich darauf, die Erreger zu isolieren und dann ein Medikament zu entwickeln, das mit ihnen fertig wird oder sie sucht nach einer genetischen Vorbestimmung, vererbten Defekten. Die Forschung sollte aber nach Ansicht der Autoren weiter gehen und danach fragen, warum der Mensch denn überhaupt für bestimmte Krankheiten so anfällig ist, während sein Körper doch mit anderen Bedrohungen der Gesundheit phantastisch fertig wird. Nesse und Williams schlagen vor, in der Vergangenheit der Menschheit, in ihrer Entwicklungsgeschichte nach Lösungen zu suchen, denn so wie jedes andere Lebewesen hat sich auch der menschliche Körper ständig den sich wandelnden Umweltbedingungen angepaßt. Die Evolution hat ihn geformt. Sein augenblickliches Erscheinungsbild entspricht den Gefahren, denen er jahrtausendelang ausgesetzt war. Überlebt haben die genetischen Eigenschaften, die ihn am besten geschätzt haben. Die Körperpolizei, das Immunsystem hat gelernt, Gifte zu entschärfen, Viren und Bakterien zu vernichten, Verletzungen zu heilen. Doch alle Perfektion, die es dabei entwickelt hat, konnte nicht verhindern, daß auch die Angreifer, die zahlreichen Parasiten, die den menschlichen Körper naturgemäß als Wirt, also als nahrungsreiche Beute betrachten, sich angepaßt, ihrerseits Strategien entwickelt haben, sich unbemerkt einzuschleichen, sich zu tarnen oder Körperzellen so zu manipulieren, daß das Immunsystem den Einringling nicht erkennt, übersieht. Die HIV-Viren sind dafür ein gutes Beispiel. Die Evolution hat ihnen dabei massiv geholfen, denn während sich der Mensch nur sehr langsam ändert, vermehren sich Viren und Bakterien explosionsartig. Das menschliche Immunsystem kann sich gar nicht so rasch umstellen, wie völlig neuartige Mutationen bislang bekannter Erreger auftauchen. Als Ausgleich für seine evolutionäre Langsamkeit hat es allerdings einige Basisabwehrmechnismen entworfen, mit denen es den Angreifer unschädlich zu machen sucht. So kann es zwar nicht verhindern, daß sich die neuartige Variante des letztjährigen Grippevirus im Körper ausbreitet, aber zumindest versuchen, seiner Vermehrung Grenzen zu setzen. Dazu gehört z.B. der so quälende Husten. Er dient dazu, Fremdkörper aus der Lunge zu entfernen, bevor sie sich dort einnisten und Schäden anrichten können. Die Nase läuft, um eingedrungene Viren und Bakterien aus den empfindlichen Schleimhäuten zu spülen, bevor sie sich dort explosionsartig vermehren können. Fieber, also eine erhöhte Körpertemperatur führt zur erhöhten Mobilisierung der körpereigenen Abwehr und somit zur Abtötung der Angreifer.

    Nimmt man jetzt fiebersenkende Schmerzmittel, wie dies viele Ärzte empfehlen, verzögert sich die Heilung. Dasselbe gilt für Nasensprays, die die schleimhäute abschwellen lassen und damit den Ausfluß stoppen oder für Hustenmittel, die den Hustenreiz unterdrücken. Alle diese Körperreaktionen, so unangenehm und lästig sie auch sein mögen, sind notwendige und nützliche Abwehrmechanismen. Trickst man sie aus, schadet man sich damit selbst, denn der Gesundungsprozeß wird damit verzögert.

    Natürlich empfinden wir die Reaktionen unseres Körpers als unangenehm, denn die Mobilisierung der Abwehr schwächt uns. Die Evolution hat sich hier auf einen Kompromiß eingelassen. sie aktiviert den Körper nur, wenn es unumgänglich ist. So läuft die Nase nicht ständig, hustet man nicht prophylaktisch. Auch erzeugt der menschliche Körper nur bei Infekten eine höhere Temperatur, weil Fieber massive Nachteile hat. Es baut z.B. die Nährstoffreserven bis zu 20 Prozent rascher ab und führt beim Mann zu vorübergehender Sterilität. Sehr hohes Fieber kann Gewebeschäden verursachen, zu Krämpfen und zum Delirium führen.

    Bei einer ganzen Reihe von Menschen scheint die Gefahrenabwehr des Körpers allerdings Ubers Ziel hinauszuschieben. Allergien sind dafur ein gutes Beispiel. Das Immunsystem spielt bei manchen verrückt, sobald bestimmte Blumen und Gräser blühen. Warum? Die Medizinforschung weiß darauf keine Antwort. Sie reagiert mit Desensibilisierung und starken Medikamenten, den Antihistaminen, sie bekämpft also die Symptome, ohne zu fragen, wovor diese eigentlich schützen sollen, denn daß es ein Schutzmechanismus ist, steht außer Frage. Wozu also ist die Allergie nützlich, auf welche Gefahren reagiert der Körper so heftig? Bislang versucht man Allergien einfach mit Überempfindlichkeit zu erklären. Für die beiden Buchautoren ist das keine sehr überzeugende Erklärung für ein immer häufiger auftauchendes Phänomen und sie schlagen vor, doch einmal in der menschlichen Evolution nachzuschauen, wozu die allergische Reaktion des Immunsystems gedient haben könnte.

    Manche Krankheit, so vermuten die Autoren, ist vielleicht gar keine richtige Erkrankung, sondern nur ein zuviel des Guten. Das könnte möglicherweise bei der Gicht so sein. Eine erhöhte Harnsäureproduktion führt oftmals dazu, daß sich überschüssige Harnsäurekristalle in den Gelenken ablagern und dort starke Schmerzen auslösen. Man weiß aber, daß Harnsäure die Zellen vor Schäden schützt, die durch Oxidationen entstehen können. Damit wird wahrscheinlich der Alterungsprozeß hinausgeschoben. Man könnte nun vermuten, daß Menschen mit hohem Harnsäurespiegel länger leben als andere. Nur untersucht hat noch niemand diese Zusammenhänge. Die Evolutionsmedizin steckt noch in den Kinderschuhen. Das gilt auch für den gesamten Bereich der psychischen Störungen. Übermässige sinnlose Angst schadet bekanntlich, nicht nur weil sie das psychische Wohlbefinden extrem einschränkt, ein normales Leben mit anderen erschwert, sondern auch weil sie den Körper unter enormen Streß setzt, auf längere Dauer sein Gewebe schädigt und so ernsthaft körperlich krank machen kann. Doch niemand wird abstreiten, daß Angst eine sehr nützliche Eigenschaft ist, denn sie bewahrt vor schlimmen Fehlern, Leichtsinn, risikanten Handlungen. Die Evolution hat sie herausgebildet, um vor Gefahren zu schützen. Wer beim Knacken eines Zweiges im Dschungel stets nur Affen vermutete, wird viel eher einem Tiger zum Opfer gefallen sein als sein ängstlicher Kumpan, der jedesmal das Schlimmste fürchtete und Reißaus nahm. Überlebt haben die Ängstlichen, nicht die leichtsinnig Mutigen.

    Allerdings geben die beiden Autoren zu, daß gerade im Bereich der geistigen Störungen evolutionstheoretische Erklärungen sehr schwer fallen, weil jedes psychische Phänomen zahlreiche Auslöser und Ursachen haben kann. Es läßt sich schwer auf einzelne biologische Gründe reduzieren. Allerdings könnte es auch hier helfen, nach Vor- und Nachteilen zu fragen, bevor man anfängt, Gene für Depressionen, Schlafstörungen, Schizophrenie zu isolieren und zu manipulieren. Die Psychiatrie, so fordern Nesse und Williams, sollte sich mehr mit der Evolutionsbiologie befassen, bevor sie für emotionale Störungen Gendefekte verantwortlich macht und diese zu reparieren versucht. Genauso schwer fällt allerdings auch die Vorstellung, die darwinsche Evolutionsmedizin könnte die schwierige Gefühlswelt des Menschen entschlüsseln, denn was den Menschen auszeichnet ist ja gerade die Unabhängigkeit seines Denkens und Fühlens. Er ist kein Hampelmann, der an den Strippen seiner Gene hängt. Das ändert allerdings nichts an der grundlegend richtigen Erkenntnis, daß die Evolutionsmedizin manches Krankheitsrätsel lüften könnte. Man mußte sie nur lassen.