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Was allen Menschen gemeinsam ist

Ein Buch wie den Koran müsste er schreiben. Natürlich nicht den Koran selbst, Gott bewahre. Aber doch so etwas in der Richtung, etwas Frommes. Denn dann würde man ihn akzeptieren, dann wäre er auch in Marokko - und nicht nur in Europa - als großer Schriftsteller endlich anerkannt.

Von Kersten Knipp | 20.12.2007
    Es sind Ratschläge der eigenen Art die die Mutter des Schriftstellers Tahar Ben Jelloun ihrem Sohn macht. 90 Jahre ist sie alt, leidet an fortgeschrittener Alzheimer-Krankheit und hat nicht mehr lange zu leben. So besucht sie der Sohn an ihrem Bett, führt, soweit die Krankheit es zulässt, Unterhaltungen mit ihr.

    Seine Mutter, berichtet Tahar Ben Jelloun, sei keine sehr gebildete Frau, könne weder lesen noch schreiben, kenne zwar ein paar Koranverse und Lieder, habe darüber hinaus aber mit der Literatur keine Bekanntschaft gemacht. Aber kommt es darauf an? Natürlich nicht, jedenfalls nicht in erster Linie. Seinem Elternhaus, berichtet Tahar Ben Jelloun, verdanke er ganz andere Erfahrung.

    "Ich hatte das Glück in einer sehr bescheidenen, sehr armen Familie aufzuwachsen. Das hat mir einen ganz eigenen Blick auf die Welt eröffnet. Wenn ich in anderen, leichteren Umständen groß geworden wäre, sähe ich die Welt heute bestimmt ganz anders. So haben mir meine Eltern ein paar grundlegende Werte vermittelt: die Toleranz, den Respekt für den Anderen. Sie lehrten mich auch, Gewalt und Hass abzulehnen. All das verlief auf ganz natürliche Art, es war nicht so, als hätten wir dafür eigens pädagogischen Unterrichtsstunden erhalten. Mein Vater pflegte im Umgang mit uns und den Nachbarn einen ganz natürliches Verhalten, und das war unser Ideal. Genau das versuche ich jetzt meinen eigenen Kindern vorzuleben, die natürlich in einer ganz anderen Umgebung aufwachsen. Ich will ihnen klar machen, dass es weniger um vergängliche materielle Dinge geht als um Menschen und Werte. "

    Traditionen und Werte, weitergereicht von einer Generation an die nächste. Gut möglich, dass das Bewusstsein, Teil der Kette des Lebens zu sein, der einzige Trost für den am Bett der Mutter wachenden Erzähler ist. Denn was er sieht, ist deprimierend: Eine greise Frau, physisch bereits völlig verfallen, geistig zu Teilen. Der Gedächtnisverlust verläuft in Schüben, neben wirren durchlebt die Mutter immer wieder auch helle Momente, in denen sie sich dann für ihre Krankheit entschuldigt. Die Frau erwartet den Tod, dem sie ergeben entgegensieht. Noch aber ist es nicht soweit, und so bleiben, neben all den Kümmernissen um Inkontinenz, Vergesslichkeit und Verdunkelung des Verstandes, die Gespräche.

    Worte, die von vergangenen Zeiten handeln, der lange zurückliegenden Jugend und Hochzeit der Mutter, die Tahar Ben Jelloun in dem Buch zu rekonstruieren versucht.

    "In der traditionellen marokkanischen Gesellschaft ist das Verhältnis zwischen Mutter und Kind so sehr von Scham bestimmt, dass mir meine Mutter ihr Leben niemals erzählt hat. Anlässlich der Erinnerung, die ich an sie hatte, habe ich einen Teil ihrer Kindheit rekonstruieren können. So ist das eigentlich als Bericht angelegte Buch doch noch zu einem Roman geworden. Ich habe mir das Leben dieser Frau im Fes der 1930er, 40er Jahre vorzustellen versucht, der Geburtsstadt meiner Mutter und auch von mir selbst. Ich habe mir ihre Vergangenheit vorzustellen versucht, wobei ich auf die Aussagen ihrer noch lebenden Mitmenschen zurückgriff. Immer ging ich dabei von ihrer gegenwärtigen Krankheit aus. Ich wollte zeigen, wie sie Schritt für Schritt jene biographische Architektur verloren hat, in der sie sich Zeit ihres Lebens eingerichtet hatte."

    Es gibt Gefühle und Empfindungen, die nehmen alle Grenzen. Die Mutter Tahar Ben Jellouns wurde in einer der europäischen Kultur doch relativ fremden Region groß. Doch so, wie der Autor es schildert, wird das Sterben der Mutter zu einem Bild vom Menschen schlechthin: der schleichende Rückgang aller Lebensfunktionen; der unaufhaltsame Verlust des Gedächtnisse, der Zerfall aller Lebenskraft, schließlich der tote Körper mit dem leicht geöffneten Mund - für Ben Jelloun das Loch, durch das der Tod die Menschen in sein Reich zieht. Bedrückend liest sich das, der kleine Körper der Mutter zeigt, wie vergänglich das Leben ist.

    Ben Jelloun selbst verbringt seit einiger Zeit einen Teil seines Lebens in Marokko. Nicht aus sentimentalen Gründen allerdings. Sondern weil er so besser die Entwicklung einer Gesellschaft beobachten kann, die sich enorm gewandelt hat, die ganz anders ist als zu Zeiten seiner Mutter. Ganz anders auch als zur Zeit der Diktatur, in der er selbst groß wurde.
    "Ich lebe jetzt seit anderthalb Jahren zu Teilen wieder in Marokko. Denn das Marokko von König Mohammed VI ist ein neues, interessantes Marokko. Ich will sehen, wie es sich bewegt, wie es lebt. Es gibt etwas grundlegende Neues, und das ist ganz und gar außergewöhnlich für die arabische Welt: Es ist das erste demokratische Land der Region. Die Wahlen im Herbst dieses Jahres hatten zwar noch keine allzu hohe Beteiligung, da die Leute der Demokratie immer noch nicht recht trauen. Aber insgesamt verliefen die Wahlen sauber, Mohammed VI. tut sehr viel dafür, dass sich das Land in Richtung Moderne bewegt, der Standards der europäischen Länder. Das macht natürlich sehr viel Arbeit."

    Politisch ist Marokko auf dem Weg in Richtung Europa. Ben Jellouns Buch zeigt, wie eine Annäherung, ein Verständnis auch auf anderer Ebene möglich ist, gerade im Hinblick auf die grundlegenden Erfahrungen. Auch europäische Leser, meint er, würden sich in dem Buch wieder finden. Recht hat er. Eindrucksvoll zeigt der Roman, was allen Menschen gemeinsam ist: Das Leben, aber auch das Sterben, der Tod.

    Tahar Ben Jelloun , "Yemma - meine Mutter, mein Kind". Aus dem Französischen von Christine Kayser, Berlin Verlag, 2007, 206 S., EUR 13,50