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Was als Märchen begann...

Ein tunesischer Vater erzieht seine Kinder modern und gleichberechtigt und setzt durch, dass seine Tochter eine gute Ausbildung erhält. Doch Yamina, die Tochter will nicht nur unabhängig sein, sie will heiraten. Der Roman beschreibt das Leben zwischen Moderne und islamischer Tradition.

Von Martin Grzimek | 24.06.2011
    Idi Ben Saids Tochter Yamina war das erste Mädchen in Kalâa Kebira, das zur Schule geschickt wurde. Idi Ben Saids Frau Miriam zog ihren gelben Schleier über den Kopf und las kopfschüttelnd den Koran. Der Hausangestellten trug sie auf, im ganzen Haus metallene Fatma-Hände über den Türrahmen anzubringen, damit das Glück ihnen hold bleibe. Regelmäßig nahm Idi Ben Said, wenn er nach Hause kam, seiner Frau den Schleier ab und entfernte die Metallhände über den Türen, und regelmäßig legte seine Frau ihren Schleier wieder über und ließ die Fatma-Hände erneut anbringen.

    Yamina, die Hauptfigur in Angelica Ammars Tunesien-Roman "Die Zeit der grünen Mandeln", lebt seit ihrer Kindheit in zwei verschiedenen Welten. Ihr Vater, im Im- und Exportgeschäft tätig, kämpfte 1956 an der Seite Bourguibas für die Unabhängigkeit Tunesiens von der französischen Kolonialmacht. Er hat eine moderne Auffassung darüber, was die Chancengleichheit der Frauen anbelangt. Die Mutter hingegen, aus einer alten Familie stammend, bleibt den arabischen Stammestraditionen verhaftet und ihrem muslimischen Glauben. Da aber Idi Ben Said die Familie ernährt und zu Wohlstand führt, bestimmt er den Weg, den seine fünf Kinder einmal gehen sollen. Bildung und Offenheit gegenüber fortschrittlichen westlichen Werten gehören zu seinen Lebensprinzipien ebenso wie das Ideal einer unzertrennbaren Familie. Yamina geht also als erstes Mädchen in der Stadt Kalâa Kebira in die Schule, macht in Sousse, wohin die Familie umgezogen ist, ihr Abitur und studiert danach in Tunis Ökonomie. Dort, in der Hauptstadt, besucht sie die Straßencafés, liest französische Modezeitschriften und lackiert sich die Fingernägel.

    Der Nagellack musste vor den Wochenendbesuchen in Sousse natürlich entfernt werden, auch die mit einem Hauch Rouge versehenen Wangen durfte die Mutter nicht sehen, aber in der Hauptstadt kümmerte das niemanden. Selbst die Tante, bei der Yamina und ihre Schwester wohnten, monierte nicht die über dem Knie endenden Röcke, die in den schicken Vierteln der Stadt zur Schau getragen wurden und nur in den einfacheren Gegenden Pfiffe ernteten.

    Während die Mutter zu Hause sitzt und sich um die Aussteuer der Töchter kümmert, "Tischdecken mit Goldrändern einfasst(e), Nachthemden aus feinen Seidenstoffen näht(e) und sich Schmuckhändler in Haus kommen" lässt, nimmt sich Yamina die Freiheit, mit Männern zu flirten und sich ihren Verlobten selbst auszusuchen. Youssef kommt aus der städtischen Mittelschicht, ist eine vielversprechende Partie und wird somit gleich von Yaminas Vater akzeptiert, denn "die neue Mode, sich seinen Ehepartner selbst auszusuchen, leuchtet ihm ein". Doch zu einer Heirat kommt es erst einmal nicht, da Youssef als Doktorand für ein Jahr nach Frankreich geht. Die Zeit wird Yamina lang, und sie trifft auf Said, einen Medizinstudenten, der aus Sfax im Süden Tunesiens stammt, einer Stadt, deren Familien für ihre "Großspurigkeit" bekannt sind und dafür, dass sie ihre Kinder untereinander verheiraten. Yamina, in ihrer freien Denkungsart, stört das nicht, sie sieht sich schon als Frau an der Seite eines bedeutenden Arztes mit eigener Praxis, wird sich immer sicherer, dass es zu einer Heirat kommen wird, und schreibt daher nach Frankreich an Youssef einen Brief, mit dem sie ihre Verlobung auflöst. Von da an erfährt der knappe Roman von Angelica Ammar eine entscheidende Wendung. Denn Youssef kann Yaminas Entschluss nicht tolerieren. Er ist grenzenlos enttäuscht, nennt sie in seiner Antwort ein "liederliches Frauenzimmer", will sich nie mehr in die "launischen Fänge einer Frau begeben", verflucht sie und wünscht ihr, dass sie niemals heiraten werde. Als der Medizinstudent Said von einem Besuch bei seinen Eltern zurückkehrt und Yamina ebenfalls eine Absage erteilt, gerät die junge Frau ganz allmählich in Panik. Sie begibt sich nun mehr oder weniger verzweifelt auf die Suche nach einem standesgemäßen Mann und erlebt eine Enttäuschung nach der anderen. Etwa die Hälfte des Romans ist diesen vergeblichen Versuchen Yaminas gewidmet und zeigt vor allem, wie sie immer mehr in Rituale zurückfällt, die sich überkommenen Traditionen verdanken. Da sich keine Liebe zwischen ihr und den neu anvisierten Männern einstellen will, bedarf es okkulter Mittel und mit Magie zubereiteter Tees, um die Auserwählten für sich zu gewinnen. Immer öfter besucht Yamina die Altstadtviertel von Sousse oder Tunis, um sich im Schatten der Bazare von Kräuterfrauen die Ingredienzien für Beschwörungstees zusammenstellen zu lassen, wie zum Beispiel nach einem Rezept einer der Magierinnen.

    Ich gebe euch etwas Seesternpuder mit, das regt die Sinne an, und dazu ein Prise geriebene Mondfischgalle und - hier unterbrach sie sich, beugte sich wieder vor und zupfte Yamina mit einer raschen Handbewegung eines ihrer schulterlangen Haare aus - ein Hauch von Yamina. Sie wickelte das Haar um einen Finger zu einem kleinen Knötchen und ließ es in einen Mörser fallen.

    Doch keines der mit solchem Pulver hergestellten Getränke, gereicht mit Jasminblüten und grünen Mandeln, vermag seine Zauberkraft zu entwickeln. Youssefs Fluch erfüllt sich. Am Ende bleibt Yamina unverheiratet, fristet ihr Leben als Bankangestellte und zieht sich immer mehr in ihre kleine, mit Tinnef vollgestellte Wohnung zurück. Und mit dem todkranken Vater, dessen medizinische Behandlung sein Vermögen auffrisst, zerfällt nicht nur das Erbe, sondern die gesamte Familie der Ben Saids. Des Vaters Vision einer fortschrittlichen, emanzipierten Kultur des Zusammenlebens lässt sich nicht verwirklichen, was als Märchen begann, endet als böser Traum. Angelica Ammars schnörkellos geschriebener Roman lässt sich durchaus als Parabel auf eine Gesellschaft lesen, deren Freiheitsdrang von den dunklen Schatten althergebrachter Konventionen und Rituale immer noch gelähmt wird. Trotz des glücklosen Ausgangs hinterlässt er am Ende keinen bitteren Nachgeschmack, weil in ihm der Mut und die Freude einer jungen Generation vorherrscht, die sich trotz aller Widerstände und Einschränkungen am Aufbruch in eine sich verändernde Zeit zu beteiligen beginnt.

    Angelica Ammar: Die Zeit der grünen Mandeln. Roman. Nagel & Kimche im Hanser Verlag, München 2010. 128 S., Euro 14,90