Freitag, 03. Mai 2024

Archiv


Was Beduinen, Mongolen und Wanderarbeiter verbindet

Jahrtausende lang trieben Nomaden ihre Viehherden durch Gebiete, die zu schwierig, zu trocken für den Ackerbau waren. Diese Trockengebiete gibt es zwar immer noch, aber das ohnehin schon schwere Leben wurde und wird durch Eingriffe wie Grenzziehungen, Industrialisierung und Bodenspekulationen immer komplizierter. Ist der Nomadismus an seinem Ende angelangt?

Von Christian Forberg | 06.09.2012
    Tausende Quadratkilometer Halbwüste, Steppe und Oasen zwischen Osttibet und Marokko liegen, auf einen Quadratmeter geschrumpft, als Spiel auf dem Tisch. Es ist ein Brettspiel namens "NomadSed", Kurzform von "nomad and sedentary", Nomaden und Sesshafte. Auch so wurde der Sonderforschungsbereich "Differenz und Integration" genannt. - Das Spiel besteht aus gut zwei Dutzend Waben in zwei Grüntönen: sattgrün die "fetten Weiden", olivgrün die trockenen Gebiete. Fünf Spieler können sich für die Spieldauer einer Stunde als Nomaden bewähren.

    "Jeder Spieler bekommt am Anfang vier Schafe, und reihum werden diese auf der Spielfläche verteilt. Ihre Aufgabe ist es, dass die Schafe satt werden, damit sie sich vermehren können und sie am Ende die meisten Schafe züchten können ","

    erklärt Romina Drees vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Leipzig, einem der Kooperationspartner von "NomadSed". Sie hat die wichtigsten Erfahrungen der Feldforscher in diesem Spiel konzentriert.
    Ich setze zwei Schafe auf ein satt-grünes Feld, bekomme zwei Futterkugeln und ein Lämmchen dazu und bin also erfolgreich. Für den Moment zumindest, denn dann gibt es noch Ereigniskarten, die meinen Erfolg schmälern, aber auch steigern können.

    ""Diese Karte sagt Ihnen: Du hast einem Verwandten bei der letzten Dürre mit zusätzlichem Futter ausgeholfen. Als Dank bekommst du jetzt ein Schaf geschenkt."

    Wunderbar, doch vielleicht auch nicht: Noch ein Schaf mehr - da könnte das Futter knapp werden.

    "Da kommt die nächste Runde ins Spiel, wo sie mit Ihrer Arbeitskraft, Ihren Aktionspunkten, die Schafherde versetzen können. Das ist die Aufgabe der Nomaden: mit ihren Schafen umherziehen, damit sie wieder eine Weide finden, auf der Futter ist."

    Womit das ursprüngliche, aus dem Altgriechischen stammende Wort erklärt ist: Nomás. Nomaden im klassischen Sinne sind "die mit Herden herumziehen". Jene, die den Begriff vor rund zwei bis drei Tausend Jahren prägten, waren schon lange sesshaft geworden, philosophierten und schmausten auf Symposien, schauten skeptisch bis verachtend auf die unsteten Nomaden herab. Wobei, sagt Michaela Rücker, Historikerin an der Uni Leipzig, der abfällige Titel "Barbaren" 500 vor Christus noch gar nicht aktuell war. Für Herodot galten die kriegerischen Perser als Barbaren. Nomaden, das waren damals die Skythen:

    "Die Frage, wie weit Herodot selber die Skythen besucht hat, ist ja immer noch sehr umstritten in der Forschung. Es ist ein Bild, so wie er das sieht. Selbst wenn man Kontakte hat und man merkt, dass es auch anders ist und dass es andere Lebensweise gibt, bleiben bestimmte Bilder erhalten, um sich abzugrenzen. Das Andere fungiert dann für das Eigene, das eigene Bewusstsein, die eigene Identität: Wir haben das, und da gibt’s das Andere."

    "Ein Anderer" war der legendäre Skythen-Fürst Anacharsis, der zu Symposien eingeladen, dann zunächst gebadet und gekämmt wurde, bevor er zivilisiert seine Klugheit unter Beweis stellen konnte. Zeitweise zählte er zu den sieben Weisen Griechenlands, und auch die Kyniker stützten sich auf ihn: Sie definierten sich eben nicht über das "Haben", sondern über das "Sein" …

    "... wo es halt immer darum geht, das rechte Maß zu finden. Und was ist überhaupt ‚das rechte Maß’? Und Anacharsis ist sozusagen das Sinnbild dessen, dass ‚einfache Lebensweise’ nicht bedeutet, dass man weniger weise ist, oder dass nur jemand, der aus einem wohlgeordneten, zivilisierten, sesshaften Leben stammt, in der Lage ist, weise zu sein. Sondern dass Anacharsis als Nomade, als Skythe, eine Weisheit vertritt, die durchaus anerkannt wird. "

    Er blieb für eine gebildete Oberschicht ein Exot, wie bis in die Neuzeit der "edle Wilde" als Sehnsuchtsbild eines ursprünglichen und freien Menschen existiert. Fürs Volk dagegen mutierten die Skythen im Laufe der folgenden Jahrhunderte zu Barbaren, sagt Michaela Rücker.

    "Also dass man die Skythen eher als relativ grausam und wild klassifiziert und dass dieses Bild transportiert wird über die Jahrhunderte hinweg und man später die Bulgaren oder die Mongolen als Skythen bezeichnet hat, weil es dieses Bild noch gab. Das ist ein ganz anderes Volk, aber die Eigenschaften des Volkes sind dieselben."

    Das Bild von Nomaden ist die eine Seite, der tatsächliche Umgang mit ihnen die andere. Alexander der Große behandelte sie als Feinde und scheiterte nicht zuletzt an der Reaktion der Nomaden auf diese Feindschaft: Er wurde auch ihr Feind. Die Römer dagegen trennten das Bild von der Realpolitik. Zwar, sagt Thomas Brüggemann, Historiker an der Uni Halle, habe es im Römischen Reich immer wieder Übergriffe von Nomaden auf sesshafte Bauern gegeben. Aber:

    "Die Römer haben irgendwann erkannt: Die Nomaden brauchen das, die machen das regelmäßig. Die stellen aber unsere Herrschaft nicht in Frage, die ziehen sich auch wieder zurück. Die wollen unser Gebiet nicht territorial in Besitz nehmen, sondern nur in Form der Früchte, die darauf angebaut sind. Das schöpfen die ab, und dann gehen sie wieder. Und damit können wir leben. "

    Statt massiver Militärpräsenz reagierten die Römer mit Polizeiaktionen zur Befriedung und agierten als Schiedsrichter. Mehr noch: Sie bezogen Nomaden aktiv in die Verwaltung ein.

    "In Syrien ist das der ‚Strategos nomadon’, also der Stratege für die Nomaden, und in Nordafrika ist das der ‚Präfectos gentis’, also der Präfekt, der extra für Stämme eingerichtet worden ist. Beides Ämter, die regional begrenzt vorkommen; die gibt es sonst im Römischen Reich nirgendwo. Und da stellt sich immer in der Forschung die Frage, weil die Inschriften auch da nicht eindeutig sind, wer diese Ämter bekleidet hat."

    Waren es römische Beamte oder loyale Nomadenführer? Thomas Brüggemann meint, dass es zunächst Beamte waren, die nach Jahrzehnten des Aneinander-Gewöhnens durch loyale, anerkannte Nomadenführer ersetzt wurden. Gewöhnungsbedürftig, sagt Andreas Mehl, emeritierter Geschichtsprofessor der Uni Halle, sei für die Römer das Verhältnis der Nomaden zum Land als Besitz gewesen.

    "... dass Land für eine gewisse Zeit A zur Verfügung stehen soll und eine andere Zeit B. Für die Römer war klar: Vom 1. Januar bis 31. Dezember und im nächsten Jahr auch. Die Römer mussten also schon dazulernen, dass Land keine feste Größe ist, sondern irgendwie zeitabhängig, wer da jeweils ist."

    Bestehen blieb aber ihre grundsätzliche Haltung:

    "Richtige Staatsbildung in unserem Sinne natürlich, sprich griechisch-römisch, haben wir nur bei uns. Die anderen können das allenfalls von uns annehmen und lernen. Und dazu sind wir – verflucht noch mal! – auch verpflichtet."

    Was sich wie ein roter Faden durch die folgenden Epochen zieht: Der mobile Mensch muss sesshaft und verwaltbar gemacht, muss zivilisiert werden. Dachte zum Beispiel auch Karl Marx,

    "der als Reporter in London für eine in New York erscheinende Zeitung die englische Kolonialpolitik hoch gelobt hat und sogar das Umbringen von Indern damit gerechtfertigt hat, dass die Engländer es fertigbringen, die Inder in Richtung Westen – was die Zivilisationsstufe anbelangt – zu ziehen, hochzubringen."

    Abgesehen vom "Umbringen" ist diese Idee erhalten geblieben – nicht zuletzt in der Hoffnung auf permanentes Wirtschaftswachstum für den Westen. Sie hat aber bereits zu Marx’ Zeiten eine entscheidende Änderung erfahren: Kolonial- und Nationalstaaten entstanden, die durch Territorialbesitz und Grenzziehungen, schließlich Erdölfunde und Industrialisierung das Nomadentum mal weniger, meist aber mehr einschränkten. Am Ende des vorigen Jahrhunderts resignierte selbst der Berliner Geograf Fred Scholz nach jahrzehntelangen Forschungen zum Thema und titelte: "Der Nomadismus ist tot".
    Tatsächlich? Die These gehörte zu den Ausgangsüberlegungen des Sonderforschungsbereiches, war neben der ausgedehnten historischen Forschung zum Nomadentum das Stichwort, aktuelle Entwicklungen im Fernen Osten, also in Sibirien und Tibet, im arabischen Raum sowie im Norden Afrikas zu untersuchen. Und zwar nicht mehr isoliert an sich.

    "Eine der Forschungsfragen war zu zeigen: Wie notwendig und wichtig und prägend ist die Beziehung Nomaden und Sesshafte?"

    Annegret Nippa ist Professorin für Ethnologie an der Uni Leipzig:

    "Bis dato sind nomadische Gesellschaften sehr oft als autonome, vereinzelt lebende Gesellschaften untersucht worden. Es wurde immer deutlicher, dass eine nomadische Gesellschaft aus sich selbst heraus grundsätzlich im Kontakt mit sesshaften Gesellschaften existiert. Ohne den Kontakt zu sesshaften Gesellschaften gäbe es die nomadischen Gesellschaften gar nicht. Sie sind nicht autonom, sondern es ist eine lebensnotwendige Beziehung."

    Annegret Nippa hat schon als Studentin bei einem kleinen Beduinenstamm in Syrien geforscht, bei den Welde am Euphrat. Sie hat viel über ihre Denkweise erfahren, ihr Geschichtsbewusstsein, das die Erfahrungen von etwa fünf Generationen, also etwa 100 Jahre speichert. Daraus konnte die Ethnologin rekonstruieren, an welchen Vorhaben sie beteiligt waren, gemeinsam mit Sesshaften. Was wiederum Historiker angeregt hat, überlieferte Texte erneut zu lesen.

    "Wonach können denn jetzt auch mal die Historiker suchen? Waren vielleicht auch nomadische Gesellschaften am Oasenbau beteiligt? Oder bauten sie Plantagen auf? Was auf der Oberfläche aussieht wie eine sesshafte Arbeit. Auf der nomadischen Seite steht auf jeden Fall ein Prinzip dahinter, das eher kurzfristig ist und sehr viel Spontaneität hat. Was von den sesshaften Gesellschaften nicht so gedacht ist. Es gibt viel Provisorisches im Nomadischen bis zu dem Moment, wo deutlich wird, daraus kann ich was Stabiles machen. Aber ich verlass mich nicht darauf."

    Kern ihrer Geschichtsauffassung ist die Praktikabilität, die Weitergabe von Lebensnotwendigem: Was muss ich tun, wenn Schlimmes wie Krieg oder anhaltende Dürre kommen? Aber auch: Wie reagiere ich, wenn etwa Eisenbahnen gebaut oder Baumwollplantagen angelegt werden?

    "Als die großen Plantagen dort aufgebaut wurden, war das tolle Schwemmland vom Euphrat – was immer gut war für die Nomaden, denn für die Tiere gab es dort immer was zu fressen – das war plötzlich weg. Ärgerlich. Wie reagiert man darauf? Was würde der deutsche Bundesbürger machen? Er würde einen Verein gründen und mit Plakaten dastehen und sagen: Verschwindet hier, das ist unser Land! So eine Reaktion hat es nie gegeben. Das war kein großes Entsetzen, sondern: Was machen die da? Und: Können wir was davon haben? Wenn wir dort arbeiten, bekommen wir vielleicht Geld. Können unsere Schafe und Ziegen das nach der Ernte essen? Also immer gucken: Wie kann ich was benutzen? Wie kann ich etwas in meinen Haushalt integrieren?"

    Schließlich die Selbstprüfung: Können wir das nicht auch? Und wenn das in der Familie oder im Stamm zusammengelegte Geld reicht, wird angefangen. Dieses flexible Balancieren am Rande der Existenz hat auch Ingo Breuer in Nordafrika, in Marokko festgestellt. Der Geograf an der Uni Leipzig leitete im Sonderforschungsbereich den Abschnitt "Nomaden ohne Weide?".

    "Mit dem Titel, der sich durch alle Forschungsphasen durchzieht, ging es uns nicht darum zu sagen: Nomaden haben heute keine Weide mehr. Es ging uns darum zu fragen: Wo spielt Weide noch eine Rolle bei den Nomaden und wo vielleicht nicht? Wo sind die sogenannten Nomaden, von denen wir eine bestimmte Vorstellung haben, nicht mehr das, was wir uns darunter vorstellen? Und wo ist das Leben dieser Menschen letztendlich von ganz anderen Faktoren bestimmt?"

    Von der globalen Wirtschaft zum Beispiel, dem "land grab": Land wird großflächig an Investoren und Spekulanten verpachtet, Nomaden bleiben außen vor. Inzwischen, so Ingo Breuer, müssten in manchen Gebieten acht von zehn Menschen als Dienstleistungsnomaden leben: Sie verkaufen ihre Arbeitskraft für Gelegenheitsarbeiten und wenig Geld. Für viele Familien werde die Situation immer prekärer, werde zum Balancieren am Rande des Abgrunds:

    "Das sind Familien, die sind extrem diversifiziert. Die haben alle zwei, drei, vier, manchmal fünf verschiedene Einkommensquellen. Das heißt, ein Teil der Familie befindet sich im Zelt, zieht mit der Herde rum, ein Teil der Familie wohnt vielleicht im Haus, im Dorf, betreibt Ackerbau, und ein weiterer Teil der Familie, insbesondere junge Männer, sind vielleicht in der Stadt unterwegs, als Tagelöhner. Trotzdem versteht man sich als ökonomische Einheit. Man wird zusammengehalten durch einen Patriarchen oder älteren Bruder, das Budget wird zusammen gemanagt usw. Man ist auch in ständiger Kommunikation miteinander, weshalb die einzelnen Mitglieder mobil sein müssen. Aber alles läuft im Dorf zusammen, immer wieder."

    Waren die Forscher aus dem "Westen" willkommen? Mehr als 30 Jahre nach ihren Forschungen bei den Welde, dem kleinen syrischen Beduinen-Stamm, gab Annegret Nippa ihre Fotos Andreea Bretan, einer jungen Kollegin, die mehrere Monate lang in Syrien forschte – vor den jetzigen, mörderischen Auseinandersetzungen. Die Fotos erwiesen sich als Türöffner – bei den Beduinen, weniger bei den Behörden.

    "Wenn ich den Behörden erzählt habe, dass ich teilnehmende Beobachtungen mache, dass ich mit den Beduinen lebe, dass ich Arbeiten mache, die zum Tagesablauf dazugehören, um auch zu verstehen: Was bedeutet das für den Körper? Wie viel Kraft braucht man, wie müde wird man danach, wie krank wird man? Diese ganzen Faktoren wollte ich einfach verstehen. Da wurde mir gesagt: Was willst du herausfinden, was wir nicht schon wissen? Wir leben seit Hunderten oder Tausenden von Jahren mit den Beduinen zusammen, wir kennen sie in- und auswendig, da müssen keine ausländischen Forscher kommen und uns erzählen, was Beduinen sind! Beduinen halten Tiere, sind dreckig und sagen dir nie die Wahrheit!"

    Anscheinend hat sich über die Jahrtausende gar nicht so viel geändert an der Haltung von Sesshaften gegenüber Nomaden, wo das anspruchslosere, aber freie und – mit heutigem Begriff - nachhaltige Leben von Anacharsis & Co. maximal als exotischer Urlaub Gefallen findet. Warum? Weil Sesshafte nur in allerhöchster Not und Bedrängnis zu temporären Nomaden werden, wie unsere germanischen Vorfahren zur Völkerwanderungszeit oder als Vertriebene nach Weltkriegen? Sind wir wirklich noch so sicher, dass wir das Prinzip nomadischen Lebens ignorieren können? Nein, sagt Annegret Nippa.
    Unsere, die Idee der Sesshaften von Wirtschaft und Leben, sei das Beharren.

    "Aber ich habe doch immer schon... Und die nomadische Idee ist eben anders: Das, was man tut, muss man können, und man sollte mehr können, als man gerade tut. Was haben denn die Nomaden mehr als wir? Zeit. Freiheit. Feiraum. Real existierende Nomaden sind angstfreier als normal existierende Sesshafte. Sie müssen angstfreier sein, sonst könnten sie ihr Leben nicht führen. Sonst könnten sie sich nicht jeden Morgen auf eine neue Situation einlassen. Deswegen schwärme ich so für nomadische Gesellschaften, weil sie einen lehren können, angstfrei zu sein. Keine Angst, sondern: wie handle ich jetzt."

    Weiterführende Literaturempfehlungen:
    Annegret Nippa (Hg.): Kleines ABC des Nomadismus. ISBN 978-3-9812566-5-9. Das Buch entstand ebenso wie das Brettspiel "NomadSed" für die Ausstellung "Brisante Begegnungen" im Hamburger Museum für Völkerkunde, die bis Mai 2012 zu sehen war.

    Obwohl der Sonderforschungsbereich (SFB) 586 "Differenz und Integration" zum 30. Juni 2012 beendet wurde, finden Sie die Übersichten über Forschungsbereiche, Mitarbeiter und ihre Texte nach wie vor unter www.nomadsed.de.