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Was das Meer anspült

Texel, 60 Kilometer nördlich von Amsterdam, ist eine herbe Nordseeinsel, mit langen Stränden, windzerzausten Dünen und vielen Schafen. Knapp 14.000 Menschen leben hier - und rund ein Dutzend Strandräuber, die an der Meeresküste nach brauchbarem Strandgut suchen.

Von Alois Berger | 10.11.2013
    Die frische Morgenluft schmeckt nach Salz und ein bisschen auch nach Ginster. Es ist noch fast dunkel, ein steifer Westwind wühlt das graugrüne Meer auf. Immer wieder schwappen einzelne Wellen bis an die Stiefel von Maarten Brugge und an die Reifen von seinem Fahrrad. Es ist ein sehr großes und sehr robustes Fahrrad, das Maarten Brugge den Strand entlang schiebt.

    Maarten geht genau die Wasserlinie entlang, dort, wo die Wellen der zurückweichenden Flut die Schaumränder hinterlassen. Um diese Zeit ist Maarten noch allein am Strand. Das ist wichtig, so wichtig wie sein schwarzes Fahrrad. Das braucht er, um die Beute nach Hause zu bringen.

    Denn Maarten ist Strandräuber, Jutter, wie sie hier sagen. Er sucht, was das Meer in der Nacht an den Strand geworfen hat, und das nimmt er sich dann, obwohl es ihm nicht gehört. Zwei lange Holzbalken hat er heute Morgen schon aus dem Sand geholt und mit zwei Stricken der Länge nach an sein Fahrrad gebunden.

    "Zum Strandräubern nehmen wir hier auf Texel immer das Fahrrad. Der einzige, der mit dem Auto ans Wasser fahren darf, das ist der Strandvogt. Der Strandvogt ist ein Angestellter des Bürgermeisters und soll alles aufsammeln, was angespült wird und einen gewissen Wert hat. Wenn er so eine Holzplanke findet, wie die hier, dann nimmt er die mit. Deshalb müssen wir schauen, dass wir vor ihm da sind. Heute zum Beispiel sind keine Spuren von Autoreifen im Sand, er war also noch nicht da. Wir können also noch mehr Holz finden."

    Maarten Brugge ist Anfang 30, ein großgewachsener, schlanker Mann mit lustigen Augen. Jeder kennt ihn hier, als den jungen Brugge, der sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der staatlichen Vogelschutzwarte um die Zukunft von Meer und Insel sorgt. Tagsüber. Aber in der Morgendämmerung, bevor er seine kleine Tochter zur Schule bringt, da treibt es ihn immer wieder raus zum Jüttern, zum Strandräubern. Das war immer so, sagt er:

    "Seit ich laufen kann. Jutten, das hat man im Blut. Ich bin hier geboren, mein Opa war ein Jutter, mein Vater ist ein Jutter. Die ersten Fotos, die es von mir am Strand gibt, zeigen, wie ich am Wasser lang laufe, um zu schauen, was angespült ist. Jutten, das ist im Blut, damit wird man geboren."

    Texel ist so etwas wie die Urheimat der niederländischen Strandräuber. Früher haben sie hier bei Sturm kleine Feuer in den Dünen gemacht. Die Schiffskapitäne glaubten dann, dass sie die Leuchtfeuer vom nahen Hafen Den Helder vor sich hätten und sind mit voller Geschwindigkeit auf Sand gelaufen. Die Strandräuberei hatte auf den westfriesischen Inseln schreckliche Ausmaße angenommen. Vielleicht ist sie deshalb noch immer verboten. Dabei geht es schon lange nicht mehr um Raub, höchstens noch um ein kleines Zusatzgeschäft.

    "Es ist immer noch verboten, auch wenn man dafür nicht mehr ins Gefängnis kommt. Aber wenn ich hier mit einem Holzbalken am Fahrrad erwischt werde, dann wird der sicher beschlagnahmt. Das ist die Spannung, kommt der Strandvogt oder die Polizei?"

    Die Balken, die Maarten heute Morgen aufgesammelt hat, waren gestern drei Kilometer vor der Küste über Bord gegangen. Ein ganzer Stapel soll sich bei leichtem Sturm losgerissen haben. So etwas passiert häufig, und wenn ein Bewohner von Texel dann rein zufällig den Schiffsfunk abhört, dann kann es sein, dass Maarten oder ein anderer Strandräuber einen Tipp kriegt. Den Jutterinstinkt, den haben sie auf Texel noch alle, selbst wenn es nur noch ein paar sind, die regelmäßig losziehen.

    Später Vormittag am Stadtrand von Den Burg, der Inselhauptstadt von Texel. Es regnet, auch das kommt öfter vor. Maarten und sein Vater Henk haben sich in ihre Holzhütte hinter Maartens Haus zurückgezogen. Es ist eine sehr bunte Hütte, rundum behängt mit gelben Boyen, roten Rettungsreifen, grellen Hemden und Plastikspielzeug aus China, was das Meer halt so anliefert. Solche Hütten sieht man oft auf Texel. Vor Kurzem ist ein Container mit Turnschuhen über Bord gegangen. Gut 20 Schuhe haben Henk und Maarten eingesammelt, leider kein einziges Paar, das zusammengepasst hätte. Das letzte große Geschäft haben die Texeler Strandräuber mit Zigaretten gemacht. Die Fähre vom Festland auf die Insel war nachts über einen Container gefahren, der im Wasser trieb und beim Zusammenstoß mit der Fähre aufplatzte. Mein Schiff schwimmt in einem Meer von Filterzigaretten, funkte der Kapitän an die Hafenbehörde, und holte damit praktisch alle Strandräuber der Insel aus dem Bett. Drei Jahre lang wurden auf Texel nur Zigaretten der Marke Hollywood geraucht.

    Aber eigentlich brauchen Maarten und sein Vater Henk vor allem Holz. Im Moment bauen sie einen Stuhl, der ein bisschen so aussieht, als hätte ihn Fred Feuerstein bestellt, ziemlich roh gezimmert, aber mit großer Verantwortung, wie Henk betont:

    "Das ist wirklich verantwortlich gewonnenes Holz. Selbst wenn da tropisches Hartholz dabei ist, dann ist das in diesem Fall ok, weil für diesen Stuhl kein Baum eigens gefällt wurde. Alles angespült vom Meer."

    Jedes Brett und jedes Stuhlbein hat hier seine eigene Geschichte, betont Henk, von Reisen über die Weltmeere, von Wellen und Salzwasser und natürlich von Strandräubern. Solche Möbel haben einfach Ausstrahlung, schwärmt Maarten, der seine eigene Wohnung vollständig mit Treibholzmöbel eingerichtet hat. Und damit auch die Kundschaft weiß, was sie kauft, bekommt jedes Möbelstück einen Stempel eingebrannt. Juthout, steht da jetzt auf der Stuhllehne, Seeräuberholz.

    "Alle Möbel, die ich mache, kommen aus dem Meer, da ist kein Brettchen aus dem Baumarkt dabei. Wenn Leute einen Tisch oder eine Gartenbank wollen und ich hab nichts Passendes, dann müssen sie auch mal ein halbes Jahr warten, bis das richtige Holz angespült wird."

    Am nächsten Morgen ist Maarten wieder bei den Dünen unterwegs. Aber der Wind steht schlecht, er bläst vom Land aufs Meer. Da wird nichts Neues angespült. Aber die Unterströmung bringt Sachen vom Meeresboden hoch. An solchen Tagen findet man manchmal Bernstein, erzählt Maarten und steuert auf eine dunkle, seltsam gebogene Holzbohle zu, die sich im nassen Sand krümmt. Er holt einen Hammer aus dem Rucksack, klopft auf dem dunklen, ausgewaschenen Holz herum, bis ein daumendicker hölzerner Nagel herausbricht.

    "Das dürfte von einem alten Schiff sein, so zwei-, dreihundert Jahre alt. Vielleicht ein Handelsschiff der Ostindien-Gesellschaft. Das war eine berüchtigte Stelle da draußen vor der Insel, da liegen Hunderte von Schiffswracks am Meeresboden, da wird immer wieder was hochgespült. Aber es ist natürlich aufregend, wenn man überlegt, was von diesem Schiff noch alles dort draußen liegt. Eine Kiste mit Gold vielleicht oder Fässer mit Rum. Wer weiß das schon?"