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Was die Bilder nicht erzählen

Gegen Ende dieses bewegenden, überraschenden und intelligenten Buchs, erinnert sich Esther an Susa. Susa ist Journalistin bei der Washington Post, sie kann und will keine festen Bindungen eingehen, dafür hat sie nikotingelbe Finger. Diese Susa will jetzt ein Buch über ihre Familie schreiben, wo sie herkommt, ihre Wurzeln, wie sie sagt, denn, so sei ihr bewußt geworden, da stecke dramatisches Potential drin: die Farbigkeit der Charaktere, die Zerstreuung der Familie in die ganze Welt. Susa fragt deshalb ihre Tante Ines, die Mutter von Esther, in Tel Aviv über die Familie aus. Aber sie stellt sich so dumm an, sie hat so wenig Sinn für die gewundenen Wege der Erinnerung, daß sie von Ines nur karge Antworten bekommt, über denen sie verzweifelt. Das Buch über die Familie wird, verstehen wir, nie geschrieben werden, wenigstens nicht von Susa. Dafür wird sie ein Buch über Mengele schreiben, den von Auschwitz, sagt sie. Sie ist vollkommen begeistert davon, daß Mengeles Frau Proust liebt, wie sie selbst.

Peter Michalzik |
    Ronit Matalon hat mit "Was die Bilder nicht erzählen" das Buch geschrieben, das Susa nie gelingen wird. Es ist die Geschichte von Esther und Ines, von Susas Mutter Nadine und vielen anderen, die Geschichte einer jüdischen Familie aus Kairo, sephardischen Juden, die heute in Israel, New York und Kamerun leben oder durch die Welt tingeln. Aber wie schon der Zynismus gegenüber Susa ahnen läßt, Matalons Weg zu diesem Buch war nicht ganz einfach: "Sie müssen wissen, es ist schon bald Volkssport in Israel, nach seinen Wurzeln zu suchen - in Warschau, in Auschwitz, in Marokko, überall wird nach den Wurzeln gesucht. Ich verstehe das zwar, denn es ist zu einfach, nur sentimental oder zynisch zu sein. Trotzdem kann ich einfach nicht an Wurzeln glauben, nur an ein Zuhause. Man sollte nicht an die Symbolik von Wurzeln, sondern an die Gegenwart glauben. Wenn nicht, wird Grauenhaftes passieren: all dieser Romantizismus, Faschismus und Nazismus! Die Vergangenheit! Die glorreiche Vergangenheit! Ich hasse das! In Israel hat jeder Schriftsteller sein Markenzeichen, so auch ich: Frau, neue Generation und Sephardim. Und Sephardim heißt Folklore und bunte Farben. Farben! Farben! Farben! Und die Vergötterung der glorreichen Vergangenheit, die wir in Marokko oder Ägypten oder sonstwo hatten. Ich mag das alles nicht."

    Was muß passieren, daß man in einer solchen Situation trotzdem einen Familienroman schreibt? Matalon hat sich etwas einfallen lassen. Jedem Kapitel ist ein Photo vorangestellt, manchmal ein echtes Photo aus dem Album der Familie Matalon, manchmal ein getürktes, manchmal auch ein erfundenes. Und durch diese Photos hindurch erzählt Ronit Matalon. "Ich habe zehn Jahre gebraucht, um die Form für das Buch zu finden. Ich hatte viele Versionen, die mich alle nicht überzeugt haben. Bis etwas in mir gewachsen ist und ich verstanden habe, daß meine Art, einen Familienroman zu schreiben, darin besteht, Photos als das Rückgrat der Geschichte zu benutzen. Das ist meine Art, mit diesem Genre umzugehen. Und mein Buch gehört zu einem Genre, zuerst mal zu einem sozialen Genre und dann zu einem politischen Genre. Was ich damit sagen will: Ich kann keine chronologische Geschichte mehr schreiben, wenn ich über die Geschichte schreibe. Ich lebe in der Postmoderne. Ich schreibe über Immigranten, mit verworrener Vergangenheit und verworrenen Gegenwart, mit einer in sich gebrochener Sprache. Diese Welt muß ich in mein Buch hinein bringen und mein einziges Rückgrat sind dabei die Photos gewesen. Sie wurden meine einzige Hilfe in einer wirklich verworrenen Welt."

    Was aber macht Photos so geeignet, um die Vergangenheit zu vergegenwärtigen? Auch darauf hat Ronit Matalon eine genaue Antwort: "Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß sich Menschen nicht nur erinnern, wenn sie Photos anschauen, sondern sich auch erfinden? Photos zeigen nicht nur ein Ereignis aus der Vergangenheit oder was wirklich passiert ist, sie sind genauso Fiktion. Denn Menschen sehen nicht immer, was sie anschauen, sondern sie machen sich ihr eigenes Bild. Man imaginiert sich durch das Photo, das Photo gibt einem eine Vision von einem selbst. Diese Vision muß nicht wahr sein, das ist mir gar nicht wichtig. Mich interessiert diese visionäre Kraft, die im Photo steckt. Die Vision, nicht die Wirklichkeit! Photos sind manchmal wirklich Vision: das, was Menschen über ihr Leben erfinden, über ihre Geschichte, über sich selbst."

    Matalon erzählt also auf dem schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Erfindung, und sie läßt Bilder sprechen. Zentral ist eine kleine Episode aus Esthers Leben: Mit 17 hat sie ihren Onkel Cicurel besucht, einen erfolgreichen Geschäftsmann in Kamerun. Dort wird sie nicht nur mit den Vorzügen einer quasikolonialen Existenz vertraut gemacht, ein Reflex auf die vergangene Zeit in Kairo, sie lernt auch die Schattenseiten kennen. Und sie beginnt Onkel Cicurel zu verstehen. Er kann partout nicht vom Traum einer vollständigen Familie und seiner Rolle als Patriarch lassen, weil das die Welt ist, aus der er kommt, Stück für Stück wird er eine tragische Figur, liebens- und verabscheuenswürdig zugleich.

    Die Geschichten werden nicht chronologisch erzählt, man muß sie sich selbst zusammensetzen. So bewahren sie immer ihr Geheimnis, man erfährt nie die ganze Wahrheit, wie bei Julien, einem Schwarzen, der bei Onkel Cicurel angestellt ist. Erst hat Esther eine aufregende Liebesaffäre mit ihm, dann ist er erbost über sie, ohne daß sie versteht warum, und dann trifft sie ihn nachts bei Jean Luc.

    In anderen Figuren spiegelt sich Israel. Onkel Moise war ein leidenschaftlicher Anhänger der Kibbuzbewegung, bevor er sie enttäuscht verläßt, Großvater Jacquot hält dagegen Mussolini die Stange, denn er stammt selbst aus Italien, und Onkel Eduard, erst ein Weichling, wird in Israel zu einem bei Palästinensern wegen seiner Mißhandlungen gefürchteten Geheimdienstler.

    Was bleibt unter dem Strich? Ist eher eine Welt untergegangen oder eine neue entstanden? "Ich glaube, meine Familie hat am Anfang ihren Stolz verloren, ihr Selbstverständnis als Weltbürger. Und vor allem natürlich die Intimität der Familie. Um zu sagen, was sie gewonnen hat, muß ich eine Geschichte erzählen. Während des Libanonkriegs habe ich natürlich mit der Linken gegen den Krieg demonstriert. Ich war wütend und habe gegenüber meiner Mutter auf den Zionismus geschimpft. Oh, dieser Zionismus. Da war sie wütend. Mach den Zionimus nicht schlecht, hat sie zu mir gesagt, ihm verdanke ich es immerhin, daß ich deinen Vater losgeworden bin. In Ägypten hätte ich den Rest meines Lebens mit ihm verbracht. Da habe ich verstanden, daß das ein anderer Standpunkt ist, und zwar ein legitimer Standpunkt." Das ist typisch für Matalon, sie wertet nicht, sie nimmt Blickpunkte ein. Das macht ihr Buch so so überzeugend.