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Was die Dramatiker heute umtreibt

"Wohin? Verfall und Untergang der westlichen Zivilisation" zu dieser Frage gab es einen szenischen Lesungsmarathon. 30 Autoren, die in den vergangenen 35 Jahren zum Berliner Stückemarkt eingeladen waren, haben dazu Texte verfasst und gelesen.

Von Eberhard Spreng | 11.05.2013
    Im 10. Stock des Hauses Eden im alten West-Berliner Zentrum wurden früher einmal die Stewardessen der untergegangenen Pan Am untergebracht. Graubrauner Zierklinker als Wandverkleidung, tiefe Decken, Waschbetonbelag auf Terrassen, 60er-Jahre, wohin man blickt.

    Einige der Lesungen finden in den Appartements statt, andere auf der Terrasse, einem anliegenden Versammlungsraum und der Lounge. Die Bar versorgt die Zuschauer mit alkoholischen Getränken. Drei Mal drei Stunden "Verfall und Untergang der westlichen Zivilisation" wollen durchgestanden werden.

    "Ich nehme an, Ihr habt untersucht, wie sich die europäische Finanzkrise momentan auf die Leute dort auswirkt."
    "Ja."
    "Nein, auswirkte."
    "Klaus, die sind seit dem 17. Jahrhundert in der Krise."

    In "Best New Europlay" geißelt der Rumäne Peca Stefan mit beißendem Spott einen europäischen Kulturaustausch, in dem sich vermeintliche Helfer als Mittel zur Ausbeutung des Ostens durch den Westen erweisen, indem sie das Elend von Krisenländern zu kulturbetriebskompatiblen Entertainpaketen bündeln. Auf einer Terrasse fragt ein gehetzter Mann nach dem Weg zum Baumarkt. Der moderne Noah scheitert kläglich an der Neuauflage der alttestamentarischen Aufgabe. Locker witzelnd wie in diesem Dramolett von Thomas Jonigk reagiert auch der Italiener Davide Carnevali in seiner Tierfarce "A Prelude to an End of a World" auf die Aufgabe, zum Thema "Verfall und Untergang der westlichen Zivilisation" ein Stücklein zu schreiben.

    Rebekka Kricheldorf schickt in ihrer Satire Männer von heute in ein Maskulinistenseminar mit dem Motto "Wecke den schlafenden Krieger in Dir". Vor allem unter Anna Bergmanns Regie am ersten Tag gerät alles sehr bunt und laut und albern, etwas ernsthafter richtete Stephan Kimmig den zweiten Tag mit Stücken ein, die ebenfalls fast durchgängig als Satire, lustige Provokation oder Farce daherkommen und von denen viele einen grimmigen, ja aggressiven Unterton haben. Bei einem der Autorengespräche verriet Erfolgsautor Marius von Mayenburg den Grund für den komischen Furor:

    "Der Untergang des Abendlandes empfinde ich überhaupt nicht als Tragödie, es ist doch wunderbar, wenn es untergeht. Das Thema, wie es da stand, hat erst mal genervt, dann kann man sagen, das Thema nervt, deshalb schreibe ich nicht drüber, oder man sagt: Das Thema nervt und ich mache das irgendwie fruchtbar und schreibe gerade deshalb darüber, weil es nervt. Dann will man natürlich nicht irgendwie patzig sein, und dann schreibt man halt eine Komödie."

    Die aufgedrehte, bissige Komik vieler Stücke ist also die Reaktion der Autoren auf die irgendwie trendige Vorgabe des Kulturveranstalters. Mayenburgs Beitrag ist als Hörspiel an einer von fünf Abspielstationen der Pan Am Lounge zu hören. Eine fanatische Mutter bedrängt mit ihren ehrgeizigen Plänen für ihr Kind einen Filmproduzenten, bis in ihrem Sohn selbst das Filmfieber erwacht.

    "Ich werde einen Film machen über meine Mutter, als wäre sie eine berühmte Person mit Interviews mit ihre selbst und Weggefährten, die zu Wort kommen. Ich hab gedacht, vielleicht bringt uns das einander näher, diese Beschäftigung. Wenn es sie interessiert und sie das Projekt unterstützen wollen, dann besuchen sie bitte meine Homepage: www.meine-mutter-der-film.de, wo sie online spenden können."

    Mayenburgs "Mission zum Mars" ist eine eindeutige Satire über die derzeit modischen innerfamiliär entstehenden Bio-Pictures. Aber auch Wolfram Lotz befeuert in seinem Stück "Mama" die Vermutung, der Untergang des Abendlandes könnte in der Mutter-Sohn-Beziehung der zwischen 1968 und 1982 Geborenen seinen Anfang nehmen.

    Am dritten Abend ist der Zuschauer vollends auf sich selbst gestellt und wandert durch die nunmehr im Dauerloop ablaufenden szenischen Lesungen. Im sogenannten Kaminzimmer perpetuieren ein Präsident und sein persönlicher Assistent absurde Rituale von Macht, Befehl und Unterwerfung, während es außerhalb ihres Raumes längst lebensgefährlich geworden ist, nachdem Afrika in Europa eingewandert und die alte Ordnung aufgehoben ist.

    "Ihr könnt mir mein Land nehmen, meinen Kontinent aber nicht meine Freiheit."

    Allem Spott und aller Satire zum Trotz hatten jene Stücke eine eindringliche Wirkung, in denen nicht das Zerbrechen einer äußeren Welt erzählt wird, sondern der einzelne Mensch in sich selbst eine Welt zugrunde gehen sieht. "Sardanapal", ein moribunder Monolog der Anja Hilling brachte Ort und Thema in eine subtile schwebende Beziehung: Ein Seelengemälde, Delacroix’ gleichnamiges Skandalwerk aufgreifend, aufgeladen mit düsteren Verheißungen, gemurmelt in einer der engen Wohnungen im unbehausten Niemandsland der ehemaligen Stewardessenunterkunft. Albert Ostermaiers "Anaesthesia" ist eine lyrische Regression, ein Abgesang. Gäbe es den Untergang des Abendlandes wirklich, er wäre die Zersetzung des inneren Erlebens und der persönlichen Sinn- und Bilderwelten.