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Was die Literatur mit der Wirklichkeit zu tun hat

In seinem neuen Buch versucht James Wood dem Handwerk guter Romane auf die Schliche zu kommen und entlarvt, dass auch Literaturpäpste nicht fehlerfrei sind.

Von Michael Schmitt | 24.08.2011
    "Die Kunst des Erzählens" von James Wood ist in mancherlei Hinsicht ein Buch der Paradoxe. Es ist kein Creative-Writing-Ratgeber für angehende Diplomschriftsteller - auch wenn Daniel Kehlmann es im Vorwort als Lehrbuch empfiehlt --, sondern eher ein Buch über die Kunst des Lesens. Unterteilt in 123 kleine Kapitel voll pointierter Sätze und Thesen wirkt es passagenweise sogar wie ein Katechismus -- und das ist vielleicht gar nicht so überraschend, wenn man weiß, dass der Literaturkritiker James Wood ein erhebliches Interesse an religiösen Fragen hat. Aber die reine Lehre, die in dieser "Kunst des Erzählens" vertreten wird, ist dann doch ein Plädoyer für die Ambivalenz, für die Vielschichtigkeit. Und sie wendet sich nicht an die Unbedarften, die Belehrung am nötigsten hätten, sondern an einen Typus, den man im Angelsächsischen als "common reader" bezeichnet. An einen gebildeten Leser, der mit Literaturgeschichte und Weltliteratur einigermaßen vertraut ist, ohne gleich ein Spezialist zu sein. Dem man Sprunghaftigkeit bei den Verweisen auf literarische Werke zumuten kann, der aber auch eine gewisse Skizzenhaftigkeit eher goutiert als bedauert.

    James Wood ist 1965 geboren worden und hat schnell Karriere gemacht; mit Ende Zwanzig, von 1992 bis 1995 leitete er das Literaturressort des britischen "Guardian" wechselte dann als Chefredakteur in die USA zu "The New Republic" und schreibt seit 2007 für den "New Yorker". Er hat für viele international bekannte Zeitschriften geschrieben und an mehreren Universitäten gelehrt - derzeit ist er Professor in Harvard. Für das vorliegende Buch, das im Original unter dem aussagekräftigeren Titel "How Fiction Works" erschienen ist, hat er 2008 viel Lob erhalten - und einige Vorträge im Frühjahr diesen Jahres haben auch hierzulande schon positive Resonanz gefunden. Imma Klemm-Ortheil hat das Buch nun ins Deutsche übertragen - ein schmales Werk voll kultivierter Provokationen.

    "How Fiction Works" würde sinngemäß, aber ungelenk übertragen ungefähr folgendes bedeuten: "Wie arbeiten Fiktionen, wie wirken Fiktionen?" - diese Doppeldeutigkeit, die danach fragt, wie Fiktionen "hergestellt" werden, aber auch danach, wie sie dann beim Rezipienten ihre Wirkung entfalten, kann der deutsche Titel nicht wirklich einfangen. "Die Kunst des Erzählens" klingt altmodischer, auch ästhetizistischer - und das ist auch gar nicht falsch, denn viele Gewährsleute, die James Wood herbeizitiert, gehören zur Literatur des 19. Jahrhunderts. Andere, wie etwa E. M. Forster, dem Wood bescheinigt, eines der besten, wenn auch überholten Bücher zum gleichen Thema geschrieben zu haben, stehen deutlich in dieser Tradition.

    Es ist eine Tradition, die im deutschen Sprachraum so nicht besteht - und das macht die Lektüre ziemlich inspirierend. Denn James Woods Argumentation, seine eleganten Pointen, liegen quer zu allem, was hierzulande üblicherweise literarische Debatten bestimmt. Er hält sich fern von der geschmäcklerischen oder trendigen Literaturkritik im Tagesgeschäft der Presse; er liefert keine geschlossene Literaturgeschichte oder gar eine Literaturtheorie - und erst recht keinen Kanon dessen, was man kennen sollte. Er beschreibt tatsächlich vor allem, wie Worte und Sätze als Literatur zusammenwirken, wie ihre Reihung Vorstellungsräume öffnen und verschließen kann.

    Er beginnt mit der Erzählperspektive, mit den Unterschieden zwischen "Ich"-Erzähler, auktorialer Erzählhaltung und dem Erzählen über Charaktere in der "dritten Person". Sein Anliegen sind die Vorzüge der "erlebten Rede", der Verschmelzung eines distanzierten Erzählers mit der Innensicht fiktiver Charaktere zu einem Amalgam, das mehrere Perspektiven gleichzeitig erlebbar macht. Ähnlich eingehend analysiert er den Einsatz von Details in literarischen Texten, hinterfragt die verbreiteten Vorstellungen von flachen und runden Charakteren, diskutiert die Möglichkeiten von Dialogen - und wird dabei niemals müde, persönliche literarische Helden zu loben und Antipathien herauszustellen. Denis Diderot steht für ihn am Anfang des modernen Romans; Gustave Flaubert ist einer seiner großen Heroen. Er findet viel Gutes bei Saul Bellow, empfindet John Updikes Bücher im Allgemeinen als zu leichtfüßig, und die Werke von Autoren wie David Foster Wallace oder Jonathan Lethem hat er ohnehin schon öfter als "hysterischen Realismus" kritisiert.

    Ist er elitär? Ja und nein. Ein Essay wie "Die Kunst des Erzählens" will kein Handbuch und kein Schulbuch sein. Aber Wood verlangt tatsächlich viel, wenn einem Leser mehr als nur eine allgemeine Schulung des Geschmacks zuteil werden soll. Sprunghaft geht es von Roman zu Roman; implizit wird vorausgesetzt, dass nicht erst erklärt werden muss, wofür Namen wie Henry James, Charlotte Bronte oder Virginia Woolf stehen, ehe am Detail gezeigt wird, woher deren überlegene Erzählerqualitäten rühren. Unsympathisch ist das nicht, denn nur so wird Literatur tatsächlich ernst genommen. Eine Rechtfertigung findet dieses Verfahren, wenn James Wood mehr und Genaueres als viele andere darüber zu sagen weiß, wie die Einfühlung eines Lesers in eine Fiktion oder in einzelne Figuren vor sich geht, und wie ein Schriftsteller auf diese Wirkung hinarbeiten kann. Im Zweifelsfall auf der Basis eines einzigen sprechenden Details.

    Denn das ist einer der zentralen Punkte von James Woods Argumentation: Die Konstruiertheit der literarischen Fiktion, die wirkungsvolle Montage minimaler Zuschreibungen, die so aussagekräftig sind, dass der Leser sich beispielsweise eine Figur vorstellen kann, ohne jemals viel mehr über sie zu erfahren als eben diese minimalen Hinweise. Darin erweist sich James Wood als gelehriger Schüler der Postmoderne: Fiktionen sind keine Erfassung von Wirklichkeit oder von Menschen, sie sind tatsächlich nur sprachliche Suggestionen; aber sie gestatten dem Leser, die Lücken zwischen den Worten zu schließen. Lebenspraktisch heißt das: Romane zu lesen dient nicht dazu, andere Menschen zu verstehen, sondern lediglich dazu, zu erkennen, wie schwer es ist, sie zu verstehen. Und jeder Leser muss beim Lesen selbst zum "Schriftsteller" werden, weil er nämlich dessen Schöpfungsprozess mit einem eigenen Schöpfungsprozess beantwortet.

    James Wood: Die Kunst des Erzählens.
    Mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann. Aus d. Englischen von Imma Klemm-Ortheil, Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg, 224 Seiten, Euro 19,95