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"Was für eine hinreißende Epikerin"

Hella Wuolijoki war zu Lebzeiten die berühmteste Schriftstellerin Finnlands. Nicht weniger berühmt ist sie als die Gastgeberin Bertolt Brechts, dem sie auf dessen Flucht vor den Nationalsozialisten 1940 auf ihrem Gut Märlebeck Unterkunft gewährte.

Von Christian Linder |
    Sommer 1940. Bertolt Brecht ist auf seiner Flucht vor Hitler und den Nationalsozialisten in Finnland angekommen und findet Unterschlupf auf Gut Marlebäck, wo die in Estland geborene Schriftstellerin Hella Wuolijoki lebt. Abends trägt sie das "Estnische Kriegslied" vor, das sie ein Vierteljahrhundert zuvor, als Studentin, aus den Volksliedern ihrer Heimat zusammengestellt hat. Brecht ist fasziniert: Es sei das "pazifistischste Kriegslied der Welt". In seinem Arbeitsjournal notiert er:

    "Ich hielt sie an, das Ganze zu übersetzen. Sie hat es nun mir diktiert und mit einer erstaunlichen Kenntnis des Deutschen … Es ist ein großes Gedicht."

    Brecht war von Hella Wuolijoki sehr angetan:

    "Was für eine hinreißende Epikerin ist sie, auf ihrem Holzstuhl sitzend und Kaffee kochend! Alles kommt biblisch einfach und biblisch komplex."

    Hella Wuolijoki war damals schon eine Legende – als eine "Mischung aus baltischer Adliger, Blaustrumpf und estnischem Dorfkind" hat sie der estnische Schriftsteller Jaan Kross noch jüngst in einem Roman beschrieben. Geboren als Ella Murrik am 22. Juli 1886 im estländischen Helme als Tochter eines Lehrers, ging sie aufs Gymnasium in Dorpat, begann zu schreiben, reiste – unter anderem nach Petersburg –, studierte schließlich in Helsinki Volkskunde, Literatur und Geschichte. 1908 heiratete sie den finnischen Politiker und Lenin-Freund Sulo Wuolijoki. Sie hatte zu dem Zeitpunkt, noch als Studentin, einige Köpfe der Russischen Revolution kennen gelernt. In ihren Memoiren notierte sie:

    "Anatal gab mir damals weit mehr, als die Universität mir in zehn Jahren gegeben hätte."

    Seither stand Hella Wuolijoki politisch ganz links außen – auch wenn sie inzwischen Karriere in der Wirtschaft gemacht hatte und als klug kalkulierende und gewiefte Managerin in der Holzindustrie zu einem großen Vermögen gekommen war. Damals hatte sie neben ihrer Arbeit als Managerin auch wieder zu schreiben begonnen, vor allem Theaterstücke wie "Die Frauen auf Niskavuori" und "Das Brot von Niskavuori", durch die sie sehr bekannt geworden war und in denen sie, trotz ihres "kapitalistischen" Erfolgs, ihr sozialkritisches Anliegen und ihr linkes Engagement nicht verraten hatte. Bei all ihrer Begeisterung für die zweite Russische Revolution hielt sie vom "neuen Menschen" allerdings wenig, fiel Brecht auf:

    "Sie findet überall den alten Menschen mit seinen ewigen Eigenschaften, Passionen, Problemen."

    Aus dieser trotz ihrer Revolutionsträume konservativen Grundhaltung ließ Hella Wuolijoki in dem Stück "Die Frauen auf Niskavuori" eine alte Witwe sagen:

    "Mit dem Geld der Frauen ist der Hof hier eingelöst worden, und die Kraft der Männer hat den Wohlstand wachsen lassen. Und Kinder haben wir geboren und das Geschlecht verbreitet über ganz Tavastland, und so wird es weitergehen (auf dem Wege, den uns der Herr vorgezeichnet) – unberührt von allen Launen der Menschenherzen."

    In den Gesprächen 1940/41 auf Gut Marlebäck erzählte Hella Wuolijoki von einem ihrer dramatischen Stoffe, der Brecht so interessierte, dass er daraus ein eigenes Stück machte – "Herr Puntila und sein Knecht Matti"; inwieweit Wuolijoki an Brechts Fassung mitgearbeitet hat, ist bis heute nicht vollständig geklärt. "Symposien" nannte sie ihre Gespräche mit Brecht und erinnerte ihn später, auch angesichts der damaligen bedrohlichen politischen Lage in Europa:

    "Es war trotz allem ein wunderbarer Sommer für uns alle, denn ein neuer Krieg war für Finnland nicht zu erwarten."

    Dann erlebte Hella Wuolijoki – Brecht war inzwischen auf seiner Flucht weitergereist – aber doch noch eine persönliche Katastrophe: 1943 wurde sie angeklagt, eine sowjetische Spionin aufgenommen zu haben, und wegen Landesverrats zum Tode verurteilt; die Strafe wurde allerdings in lebenslange Haft umgewandelt. 1944 – Finnland und die Sowjetunion hatten einen Waffenstillstand beschlossen – kam sie wieder frei und wurde nach 1945 eine der prägenden intellektuellen Gestalten Finnlands, Intendantin des finnischen Rundfunks und für die kommunistische Partei Mitglied des Parlaments. Sie blieb bis zu ihrem Tod im Jahr 1954 so, wie Brecht sie beschrieben hat:

    "Sie sieht schön und weise aus, wenn sie, ständig sich ausschüttend vor Lachen, von den Listen der einfachen Leute und den Dummheiten der feinen erzählt."