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Was historische Ereignisse auszeichnet

Vieles, was sich heute ereignet, ist morgen schon vergessen. Andere Dinge dagegen sind außergewöhnlich, werden zur zeitgeschichtlichen Zäsur und damit im historischen Sinn zu einem Ereignis. In Gießen diskutierten jetzt Historiker darüber, was das Ereignis zum Ereignis macht.

Von Jakob Epler | 06.09.2012
    Ereignisse sind für Historiker Wegmarken. Mit ihnen lässt sich Geschichte strukturieren. So sind sich die meisten Wissenschaftler einig, dass die Neuzeit um 1500 nach Christus beginnt. Festgemacht wird diese Zäsur unter anderem an der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus von 1492 und Martin Luthers Thesenanschlag von 1517, der die Reformation einläutete. Historische Ereignisse sind mehr als bloßes Geschehen. Nach einer Definition des Historikers Reinhart Koselleck teilen sie die Zeit in Vorher und Nachher. Dirk van Laak, Professor für Zeitgeschichte an der Justus Liebig Universität Gießen:

    "Das bedeutet, dass ein Ereignis herausführt aus dem Routinisierten der alltäglichen Erfahrung. Es muss etwas sein, was nicht hinein passt, es ist etwas, was nicht bekannt ist, was nicht gewöhnlich ist, was noch nicht verstanden worden ist."

    Frank Bösch ist Geschichtsprofessor und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Er fügt zwei Dinge hinzu, die das Ereignis zum Ereignis machen. Erstens die Zeugenschaft. Das heißt, ein Geschehen muss beobachtet werden. Zweitens muss der Zeuge seine Beobachtung mit anderen teilen. Seit der Neuzeit übernehmen diese Funktion zunehmend Medien. Bösch spricht deswegen auch vom Medienereignis:

    "Ein Ereignis, über das nicht kommuniziert wird, ist kein Ereignis. Wenn ein Mensch in der Wüste stirbt und niemand merkt es, dann ist das ein Tod, aber kein Ereignis. Wenn allerdings die Medien dies übertragen und dies als außergewöhnlich angesehen wird, weil es etwa eine prominente Person ist, dann kann das zu einem großen Ereignis erst werden."

    Laut Bösch gibt es unerwartete und inszenierte Ereignisse. Apollo 11, die erste Mondlandung am 21. Juli 1969 gehört zu den inszenierten. Das heißt: Das Geschehen war minutiös geplant. Umfangreiche Informationen gab die NASA lange vor dem Flug an Journalisten. Viele Artikel waren bereits vor der Landung geschrieben und wurden nur noch um die tatsächliche Flugdauer ergänzt. Der Doktorand Paul Berten beschäftigt sich an der Universität Gießen mit Apollo 11. Er meint die Mission habe eigentlich nur einen Makel gehabt. Sie sei zu perfekt gewesen:

    "Apollo 11 verlief so perfekt, so nahtlos und wurde auch so geschildert und zudem, was man dazu auch hinzufügen muss, es war alles vorher schon bekannt. Es gab also sozusagen nichts überraschendes, nichts neues. Man hatte alle Bilder im Endeffekt in Simulationen schon gesehen."

    Apollo 11 war das Medienereignis schlechthin: 600 Millionen Menschen, ein sechstel der damaligen Weltbevölkerung, saß vor dem Fernseher und war live dabei. Laut Frank Bösch übertragen Medien aber nicht nur. Sie bieten auch eine Lesart an. Sie betten das Geschehen in bereits Bekanntes ein, ziehen Parallelen zu anderen Ereignissen oder knüpfen an etablierte Vorstellungen an. Das gibt ihnen einen spezifische Sinn.

    Auch die Mondlandung wurde gedeutet. Westlichen Medien stilisierten die Astronauten zu Helden, die den Weltraum und den Mond eroberten. Diese Lesart knüpft an die sogenannte Frontierstory an. Paul Berten:

    "Ja, die Frontierstory verweist auf einen eigentlich der USA inhärenten Mythos, sehr verankert in der Amerikanischen Kultur, der diese Romantisierung der ersten Pioniere in dem Wildenwesten umschreibt. im Endeffekt eine Heldengeschichte mit einem kleinen Twist, in dem eben die lebensfeindliche Umwelt eine sehr wichtige Rolle bekommt. Und es gibt so diesen zu erobernden Ort in der Frontierstory, eben diesen Westen, der erschlossen wird, durch mutige Männer."

    Die Mondlandung war ein hochgradig geplantes und inszeniertes Ereignis. Als solches ist sie geglückt. Sie funktionierte technisch und wurde zumindest von westlichen Medien wie von der NASA beabsichtigt gedeutet. Ihren Stellenwert für die Geschichtsschreibung fasste Neil Armstrong bereits zusammen als er seinen linken Fuß auf den Erdtrabanten setzte: "Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit".

    Die Olympiade 1972 sollte ebenfalls ein inszeniertes Ereignis werden. Ziel der Organisatoren war es, Deutschland ein freundliches und weltoffenes Gesicht zu geben. Das allerdings missglückte auf tragische Weise. Die Palästinensische Terrorgruppe "Schwarzer September" ermordete elf israelische Olympioniken. Außerdem starben fünf Terroristen und ein Polizist. Das Olympia-Attentat gehört zur Kategorie der unerwarteten Ereignisse. Sie sind laut Frank Bösch besonders geeignet die Zeit in ein Vorher und Nachher zu teilen:

    "Gerade bei Ereignissen, wie den Olympischen Spielen 1972, wo das Attentat den geplanten Ablauf durcheinander bringt, gerade bei solchen Ereignissen, wo das Außergewöhnliche unerwartete hervortritt, das sind Punkte, die dann tatsächlich die Menschen erschüttern und die Welt in ein Vorher und ein Nachher unterteilen."

    Nicht immer ist es punktuell, also zeitlich genau abgegrenzt, was im historischen Sinn zu einem Ereignis wird. Geschehen wird im Lauf der Zeit zur Erinnerung. Dabei kommt es zu einer Verdichtung von Einzelereignissen, wie Maren Röger vom Deutschen Historischen Institut in Warschau am Beispiel des Geschehens von "Flucht und Vertreibung" schildert:

    "Es ist ein Sammelbegriff unter dem sich eine ganze Kette an Ereignissen verbirg. Aber jeder denkt, wenn er den Begriff 'Flucht und Vertreibung' hört sofort zu wissen, um was es geht. Und das gemeinsame an "Flucht und Vertreibung' ist, dass es vom Ende her gedacht wird, vom Verlust der Heimat, die statt gefunden hat. Während wenn man genauer drauf schaut auf das, was Flucht und Vertreibung war, man eine Kette von Einzelereignissen hat, die sich doch unter einander sehr deutlich unterscheiden konnte. Wir haben einen Prozess, der zieht sich über mehrere Jahre. Ausgehend von 1944, von der Flucht vor der roten Armee, vor der Sowjetarmee, und zieht sich bis quasi zum Abschluss der Umsiedlung '46, '47, '48 – je nachdem, welche Zäsur man ansetzt."

    Der faktische Kern, das, was tatsächlich geschah, spielt für die kulturelle Bedeutung von Ereignissen eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist, wie es gedeutet wird. So ist beispielsweise auch nicht zweifelsfrei geklärt, ob Martin Luther seine 95 Thesen tatsächlich an die Wittenberger Schlosskirche nagelte. Und Christoph Columbus war nicht der erste Europäer, der Amerika betrat. Der Bedeutung dieser Ereignisse für die Zäsur, die das Mittelalter von der Neuzeit trennt, tut das keinen Abbruch.