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Was ist der Mensch?

Wir reisen mit Billigfliegern um die Welt und wussten noch nie soviel über fremde Kulturen wie heute. Und doch führen Begegnungen zwischen Kulturen immer wieder zu Konflikten. Wieso eigentlich? Biologisch gesehen gibt es zwischen den Menschen zweier Nationen kaum einen Unterschied. Doch obwohl wir in Ägypten die Pyramiden gesehen haben, in Thailand die goldenen Dächer buddhistischer Tempel und zumindest im Fernsehen exotische Völker, die versteckt in den verbliebenen Regenwäldern dieser Erde leben, verstehen wir die anderen oft nicht - und sie uns ebensowenig.

Von Kristin Raabe | 25.04.2011
    "Der britische Botschafter hatte Teheran einige Tage vor uns erreicht und sein Empfang war so prächtig, wie ein ungläubiger Hund es von dem Leutnant unseres Propheten nur erwarten kann…aber als es um die Etikette ging, brachen endlose Schwierigkeiten hervor."

    Eine Begebenheit, beschrieben von James Morier in den "Abenteuern des Hadschi Baba aus Isfahan", die sich so, oder ähnlich, zugetragen haben könnte.

    "Er war wirklich der störrischste unter den Sterblichen. Zunächst ging es um die Sitzordnung. Am Tag seiner Audienz beim Schah, weigerte der Botschafter sich, auf dem Boden zu sitzen. Er bestand auf einem Stuhl, der nur so weit – und keinesfalls weiter – vom Thron des Schahs entfernt sein durfte. Als nächstes weigerte er sich, seine Schuhe auszuziehen… Der dritte Punkt betraf seine Kopfbedeckung. Er kündigte an, seinen Hut bei der Verbeugung vor dem Schah abzunehmen. Davon ließ er sich auch nicht abbringen, als man ihn darauf hinwies, dass es eine große Ungehörigkeit sei, seinen Kopf vor dem Schah zu entblößen."

    Als Diplomat lebte James Morier Anfang des 19. Jahrhunderts in Persien, wo er seine eigenen Erfahrungen mit der fremden Kultur gemacht haben dürfte. Heutige Diplomaten sind mit der Etikette ihres Gastlandes wohlvertraut. Doch um eine andere Kultur wirklich zu verstehen, reicht es nicht, über ihre "Benimmregeln" Bescheid zu wissen.

    Psychologen haben Hunderttausende von Menschen aus aller Welt befragt, Biologen nach Gründen für kulturelle Unterschiede in der menschlichen Evolution gesucht und sie mit Bildern aus dem Gehirn sichtbar gemacht. Sie alle kommen dabei immer wieder zum selben Ergebnis: Kultur prägt unser Denken, unsere Wahrnehmung – ja sogar unsere Gefühle viel stärker als bisher angenommen.

    "Kultur ist die gemeinsame Programmierung des menschlichen Geistes, die eine Gruppe Leute von anderen unterscheidet."

    "Es ist also ein Konzept, das auf Gruppenebene wirkt. Es ist also nicht ein Konzept, das einen Menschen von anderen unterscheidet."

    Geert und Gertjan Hofstede sind Vater und Sohn. Geert Hofstede war vermutlich der erste, der schon vor Jahrzehnten die Unterschiede zwischen Kulturen systematisch erfasst hat. Es dauerte zehn Jahre, bis der Sozialpsychologe seine Ergebnisse unter dem Namen "Kulturdimensionen" definiert hatte. Mit ihnen arbeiten Soziologen und Ethnologen noch immer. Inzwischen hat aber auch Geert Hofstedes Sohn Gertjan einen wichtigen Beitrag zum Kulturverständnis geleistet. Er ist Biologe und Professor an der Universität von Wageningen:

    "Bin ich jetzt zur Überzeugung gekommen, dass Kultur eine biologische Anpassung ist. Kultur ist ein Teil unserer Natur. Jede menschliche Gruppe braucht Kultur, um die Probleme zu lösen, vor die sie sich gestellt sieht."

    Im Kern sind alle Probleme, mit denen Gesellschaften zu kämpfen haben, dieselben. Wie soll man Konflikte lösen? Wie mit den Ressourcen umgehen oder das Verhältnis zwischen den Geschlechtern organisieren? Diese Fragen zu klären ist für jede Gesellschaft überlebenswichtig. Sie findet Ausdruck in einer ganz spezifischen Kultur. Eine menschliche Gesellschaft ohne Kultur ist überhaupt nicht möglich. Umso schwieriger wird es, wenn Menschen von einer Kultur in eine andere wechseln.

    "Als ich sechs war und die erste Klasse beendet hatte, sind wir nach Holland zuerst gegangen, weil Indonesien ist ursprünglich eine holländische Kronkolonie gewesen und dort hat mein Vater nach einem Job gesucht und nichts gefunden. Aufgrunddessen hat er dann in Deutschland versucht, etwas zu finden, und das hat dann ziemlich schnell geklappt. Und dort, wo er seinen ersten Job gekriegt hat - in Viersen – haben wir uns niedergelassen."

    Linda Hardjanegara-Jauw weiß nicht genau, warum ihre Eltern Indonesien verlassen haben. Als Kind vermisste sie das saftige Grün, das helle Sonnenlicht und die bunten Farben ihrer Heimat. Sie konnte nicht verstehen, was ihre Eltern ins graue Deutschland zog. In der Familie kursieren dazu mehrere Geschichten. Der Vater erhoffte sich in Deutschland eine bessere Perspektive in seinem Beruf als Arzt. Außerdem gehörte die Familie zur chinesischstämmigen Minderheit und wurde in Indonesien diskriminiert. Sie hatte schon dort nicht wirklich dazugehört. Linda Hardjanegara-Jauw:

    "Außer mir und meinen Geschwistern gab es noch ein Geschwisterpaar, was auch asiatisch war, das waren Koreaner. Ansonsten gab es in dieser Kleinstadt keine oder wenig Asiaten. Und wenn man irgendwann mal so etwas hört wie 'Chinese, Chinese, Eierkopf mit Käse' und 'Ching Chang Chong, Scheiße im Karton' und das nicht nur einmal sondern mehrfach, dann empfindet man das schon als diskriminierend. Man will in dem Moment einfach nur so sein wie die andern, und man weiß nicht, warum man das nicht darf und kann."

    Wer gehört dazu? Und wer nicht? Geert Hofstede glaubt, dass es dabei um Symbole, Helden, Rituale und Werte geht. Nur wer sie kennt, gehört auch dazu. Linda Hardjanegara-Jauw:

    "Als ich so zwölf Jahre alt war, da fingen so die ersten Teeparties an, und da war Spaghetti Bolognese absolut in, und ich wusste gar nicht, was das war und alle haben mich angeguckt, als ob ich vom Mond käme, und ich wollte das aber auch nicht zugeben, dass ich das nicht kannte. Es fiel aber dann auf, als man mich fragte, willst du Parmesan haben und ich wusste gar nicht, was das war. Und ich so, ach ja. Daran hat man halt gemerkt, dass ich das alles nicht kannte."

    Zuhause leben Lindas Eltern immer noch in der chinesisch-indonesischen Kultur, die ihre eigenen Symbole, Helden und Rituale kennt.

    "Zum Beispiel habe ich meine Eltern, als ich kleiner war, immer in der dritten Person angesprochen. Ich habe also nie gesagt "Kannst du mir die Butter geben", sondern "Kann Mami mir die Butter geben". Aber über die Jahre hat sich das verändert. Jetzt duze ich die auch."

    Symbole und Rituale einer Kultur können sich leicht ändern, nicht so die Werte, das, was als gut oder böse, normal oder unnormal, schön oder hässlich empfunden wird. Schon Kinder nehmen die Werte ihrer Eltern und ihrer Kultur an. Im Laufe der Zeit erscheinen sie beinahe als naturgegeben. Dabei können Kulturen sich ganz extrem in ihren Werten unterscheiden. In Deutschland beispielsweise ist eine Scheidung eine ganz normale Angelegenheit, in Ländern wie Ägypten oder Indien gilt sie als Schande. Sich von den Werten der eigenen Kultur zu lösen, ist extrem schwierig. Linda Hardjanegara-Jauw

    "Das ist irgendwie auch ganz typisch, dass man das Asiatische selbst als minderwertig empfindet, zum Beispiel eifern die ganzen Asiatinnen dem westlichen Schönheitsideal nach. Also es ist schön, eine gerade Nase und keine platte Nase zu haben. Und große Augen sind eben schön und hochstehende Wangenknochen sind nicht schön. Das ist also auch typisch asiatisch, dass man sich selber als minderwertig vorkommt, und alles, was aus dem Westen kommt, als höherwertig empfindet."

    April 1945: Die deutschen Truppen ziehen sich aus den Niederlanden zurück. Dabei konfiszieren die Soldaten immer wieder auch Fahrräder, um schneller voranzukommen. Im Jahr 2009, 64 Jahre, später erhält der Pfarrer der Gemeinde Nijkerk einen Brief. Darin bittet ein ehemaliger Soldat darum, den Besitzer eines Fahrrades ausfindig zu machen, das 1945 an den Kirchenmauern lehnte. Der Schreiber des Briefes hatte es an sich genommen und wollte nun Wiedergutmachung leisten.

    Diese Geschichte veranschaulicht, wie wir die Grenzen unserer kulturellen Gruppe bestimmen und wie sie sich im Laufe der Zeit doch verschieben können. Menschen bilden einen sogenannten moralischen Kreis. Innerhalb dieses Kreises gelten moralische Regeln, an die sich alle Gruppenmitglieder halten. Außerhalb des Kreises gelten diese Regeln nicht. 1945, als der Soldat das Fahrrad stahl, waren die Niederländer für ihn kein Mitglied seines moralischen Kreises. Im Laufe der Jahre hat dieser Soldat allerdings die Geschehnisse reflektiert und dabei auch seinen moralischen Kreis erweitert. Geert Hofstede:

    "Wir kommen zur Welt, und in den ersten Jahren unseres Lebens lernen wir genau die Sachen, die wir zum kulturellen Leben brauchen. Und dann ist die Zeit der Pubertät, dann ändert sich das, dann sind wir völlig kulturell programmiert und das nehmen wir mit. Das tragen wir immer mit uns."

    In welchen grundlegenden Aspekten sich die "kulturelle Programmierung" unterscheiden kann, hat Geert Hofstede definiert. Die "Kulturdimensionen" entwickelte er, nachdem er eine Befragung von 116.000 IBM-Mitarbeitern ausgewertet hatte.

    "Das erste was rausgekommen ist, wie man mit Macht, mit Gewalt umgeht."

    In jeder Gesellschaft, selbst in einfachen Jäger-Sammler-Kulturen gibt es Machtunterschiede. Der Machtdistanzindex gibt an, wie eine Gesellschaft mit dieser Ungleichverteilung von Macht umgeht. Selbst in Europa gibt es dabei deutliche Unterschiede, wie die Geschichte von Jean Baptiste Bernadotte zeigt.

    "Weil die schwedischen Adligen ihren eigenen König für völlig inkompetent hielten, baten sie den französischen General Jean Baptiste Bernadotte darum, ihr König zu werden. Er willigte ein und hielt seine erste Rede in gebrochenem Schwedisch. Das rief bei seinem Publikum allerdings nur schallendes Gelächter hervor. Der Franzose sprach danach nie wieder ein Wort Schwedisch."

    Historiker berichten, wie schwer es - dem Franzosen - Bernadotte fiel, sich an die egalitäre schwedische Gesellschaft zu gewöhnen, in der selbst ein König ausgelacht werden durfte. Aber Machtdistanz ist nur eine von mindestens fünf Kulturdimensionen. Besonders auffällig ist auch die Unsicherheitsvermeidung. Wie hoch ist die Bereitschaft, Risiken einzugehen und ohne Garantien zu leben? In vielen ärmeren Regionen ist die Unsicherheitsvermeidung nur schwach ausgeprägt, in industrialisierten Wohlstandsgesellschaften wie Deutschland dagegen sehr groß. Linda Hardjanegara-Jauw:

    "Wenn man dann aber zum Beispiel wieder in Indonesien ist, und sich das anguckt, da ist das Leben eines Einzelnen gar nicht so viel wert, so wie hier, hier ist es ja wahnsinnig viel wert. Und dort ist es gar nicht soviel wert. Ich habe einmal erzählt, dass ich fast ertrunken wäre in den Fluten und alle fanden das nicht so schlimm. Es ist einfach nicht so schlimm. Hier leben wir ja fast in Pampers und Watte. Und dort können die Leute sich entspannen in der Ungewissheit, und die Dinge eins nach dem anderen annehmen, die da kommen."

    Eine weitere Kulturdimension: die Maskulinität bzw. Feminität einer Gesellschaft. In maskulinen Gesellschaften sind Konkurrenz und Wettbewerb sehr wichtig. Es gewinnt der Stärkere. In femininen Gesellschaften werden bei Konflikten dagegen eher friedliche Lösungen gesucht, die allen Parteien gerecht werden. Die vielleicht interessanteste Kulturdimension zeigt sich darin, wie sehr eine Kultur zum Individualismus oder Kollektivismus tendiert. Über keine andere von Hofstedes Kulturdimensionen wurde soviel geschrieben. Die nachgewiesenermaßen individualistischste Kultur sind die USA. Gertjan Hofstede vergleicht die Menschen in einer solchen Kultur mit den Molekülen eines Gases, die einzeln frei herumschwirren, aneinanderstoßen und wieder auseinandergehen. Anders kollektivistische Kulturen wie China. Gertjan Hofstede:

    "In einer kollektivistischen Kultur sind Leute wie Atome in einem Kristall, die haben einen festen Platz, die können sich nicht bewegen, die haben Pflichten, die mit dem Platz kommen."

    Linda Hardjanegara-Jauw: "Wenn ich jetzt zum Beispiel in den Bus einsteige oder im Bus warte, spüre ich die anderen als andere und ich unterhalte mich jetzt nicht mit denen, während, wenn ich in Indonesien bin und auf den Bus warte, dann unterhält man sich sofort, weil wir haben ja etwas gemeinsam, wir warten gemeinsam auf den Bus."

    Als Geert Hofstede Anfang der 80er Jahre seine Studienergebnisse zu den Kulturdimensionen veröffentlichte, wurde er immer wieder kritisiert. Ihm wurde vorgeworfen, seine Thesen gründeten sich lediglich auf die Befragung von IBM-Mitarbeitern und diese seien nicht notwendigerweise repräsentativ für ihre Kultur. Inzwischen haben aber auch mehrere andere große Studien die Existenz der Kulturdimensionen bestätigt. Und es sind sogar noch neue hinzugekommen.

    "Die Dimensionen hängen auch davon ab, welche Fragen man gestellt hat. Was man nicht fragt, da kriegt man keine Antwort. Als wir mit einem Fragebogen gearbeitet haben, der von chinesischen Gelehrten gemacht worden war, dann haben wir gefunden, dass noch eine Dimension dabei war. Die haben wir langfristig zwischen kurzfristige Orientierung genannt. Langfristig sind die Chinesen, die denken immer Generationen voraus und auch Generationen zurück: 'Wir sind in einer Linie von Generationen.' Und ziemlich kurzfristig sind die Vereinigten Staaten. Eine Karriere hängt davon ab, ob man in drei Monaten einen Gewinn machen kann und die Chinesen denken in zehn Jahren."

    Dass China langfristiger denkt, könnte nach Auffassung von Geert Hofstede dazu führen, dass das Land seine Umweltprobleme in den Griff bekommt. Der zunehmende Reichtum der Volksrepublik wirkt sich auch auf die Kulturdimensionen aus. Gertjan Hofstede:

    "Nationale Kulturen ändern sich unter Umwelteinflüssen. Zum Beispiel ökologische Faktoren. Wenn ein Land die Leute nicht mehr ernähren kann, dann ändert sich die Kultur, weil die Leute sterben. Reichtum hat sehr viel damit zu tun. Wenn ein Land reicher wird, ändert sich die Kultur. Die schnellste Kulturänderung, die wir gesehen haben, war in Korea. Korea war ein Land, das schneller reich geworden ist, als alle anderen. Aber da haben sich auch die Verhältnisse geändert. Man hat einen ehemaligen Präsidenten zum Gericht geholt. Also eine völlige Änderung der Werte, dass also die Leute, die immer die Macht hatten, dass die zu Gericht gekommen sind, und das hat zu tun damit, dass das Land soviel reicher geworden ist, die Erziehung soviel besser geworden ist und die Leute kritischer geworden sind. Und dazu, dass die koreanische Kultur eine feminine Kultur ist, wo man versucht, die Probleme friedlich zu lösen."

    Die von Geert und Gertjan Hofstede entwickelten Kulturdimensionen helfen dabei, die Unterschiede zwischen den Kulturen besser zu verstehen. Aber wie tief beeinflussen diese kulturellen Unterschiede das alltägliche Denken und die Wahrnehmung von Menschen? Lassen sich unterschiedliche Denkmuster bei Menschen verschiedener Kulturen nachweisen? Genau das hat der Hirnforscher und Philosoph Georg Northoff an der Universität von Ottawa in Kanada untersucht. Nachdem er sich stark mit östlicher und westlicher Philosophie beschäftigt hatte, war ihm aufgefallen, dass es in Asien offenbar eine ganz andere Vorstellung vom menschlichen Selbst gibt, als im Westen.

    "Das Selbst wird in der westlichen Kultur immer als Entität betrachtet, die unabhängig von ihrem Kontext ist. So wurde das 'Selbst' in der westlichen Kultur aufgefasst, das geht lange in der Philosophie zurück. Im asiatischen Raum, haben sie einen ganz anderen Begriff des Selbst. Das Selbst besteht dort eher in einer Beziehung vorrangig zur Mutter, zu den Eltern und dann auch zu dem weiteren sozialen Kontext. Das heißt, das Selbst wird im europäisch-angloamerikanischen Raum als Entität aufgefasst und im asiatischen Raum als Beziehung."

    Georg Northoff begann mit einem ersten Experiment. Während sie in einem Kernspintomographen lagen, zeigte er westlichen und asiatischen Versuchspersonen Bilder von Gesichtern und Bilder von Häusern.

    "Wenn zum Beispiel Probanden Gesichter sehen, ist die Gesichterwahrnehmung in dem entsprechenden Gesichtszentrum des Gehirns - das ist eine bestimmte Region im Gehirn, die speziell für die Wahrnehmung von Gesichtern verantwortlich ist - ist die bei den Westlern bei Gesichtern sehr viel stärker aktiviert als bei chinesischen und japanischen Probanden, die eher das Gesicht im Kontext betrachten. Dafür sind dann bei den Asiaten andere Gehirnregionen wie zum Beispiel dann die visuelle Hirnrinde stärker aktiviert als bei den Europäern."

    Für Europäer oder auch Kanadier sind Gesichter also etwas Besonderes. Dafür ist bei ihnen ein eigener Hirnbereich zuständig. Asiaten ordnen auch Gesichter in den Kontext ein. Experten wie Georg Northoff gehen inzwischen davon aus, dass dahinter die grundsätzlich verschiedenen Selbstkonzepte der Kulturen stehen: Im Westen wird eher analytisch gedacht. Man konzentriert sich auf einzelne dominante Merkmale, zerlegt die Welt in ihre Einzelteile. Asiaten dagegen denken eher ganzheitlich, holistisch. Sie nehmen das große Ganze wahr und geben der Beziehung zwischen Objekten und Personen eine größere Bedeutung als dominanten Details. Northoff:

    "Mein Selbsterleben ist quasi die Brille, wie ich die Welt wahrnehme und auch den anderen wahrnehme. Erlebe ich mein Selbst eher im individualistischen Sinne, schlägt sich das auch auf meine Wahrnehmung der anderen Person und auch auf meine Beziehung zur anderen Person nieder und umgekehrt dann natürlich auch. Und so kommen dann bestimmte kulturelle Muster zustande."

    Wie anders Asiaten ihr Selbst definieren, zeigt eine Studie, die Ying Zhu von der Universität von Peking durchgeführt hat. Auch sie bat amerikanische und chinesische Studenten in den Kernspintomographen. Auf einem Monitor erschienen eine Reihe von Adjektiven – beispielsweise "kindisch", "wild" oder "mutig". Die Versuchspersonen sollten nun angeben, ob ein Adjektiv auf sie selbst zutraf oder nicht. Das Ergebnis entsprach den Erwartungen: In der Großhirnrinde waren bei allen Versuchspersonen jene Hirnareale aktiv, von denen die Forscherin schon vorher wusste, dass sie mit der Selbstwahrnehmung in Verbindung standen. Im nächsten Durchgang mussten die Testpersonen angeben, ob die Adjektive auf eine ihnen fremde Person zutrafen. Für die amerikanischen Studenten war das Präsident Bill Clinton, bei den Chinesen Ex-Staatschef Rongji Zhu. Diesmal blieben die "Selbstregionen" im Gehirn bei allen Studenten inaktiv. Spannend wurde es im letzten Durchgang. Jetzt lautete die Frage, ob die Adjektive auf die eigene Mutter zuträfen oder nicht. Die chinesischen Testpersonen zeigten beinahe die gleichen Aktivierungsmuster wie bei der Selbsteinschätzung. Die Amerikaner dagegen reagierten wie bei einer fremden Person. Für Ying Zhu lassen die Experimente nur einen Schluss zu: Für Chinesen ist die Mutter quasi ein Bestandteil des eigenen Ichs. Deswegen lösen Urteile über sie auch dieselben Hirnaktivierungen aus. In den stark individualistisch geprägten USA definiert sich das Ich dagegen vor allem durch Abgrenzung und diese Abgrenzung vollzogen die amerikanischen Studenten offenbar auch gegenüber ihrer Mutter.

    "Das Herz der vollkommenen Weisheit
    Form ist nichts anderes als Leere, und Leere ist nichts anderes als Form.
    Form ist identisch mit Leere und Leere ist identisch mit Form.
    Und so ist es auch mit Empfindung,
    Wahrnehmung, geistiger Formkraft und Bewusstsein.

    Sariputra!
    Alle Dinge sind in Wahrheit leer.
    Nichts entsteht und nichts vergeht.
    Nichts ist unrein, nichts ist rein.
    Nichts vermehrt sich und nichts verringert sich.
    Es gibt in der Leere keine Form, keine Empfindung, Wahrnehmung, geistige Formkraft und kein Bewusstsein, keine Augen, Ohren, Nase, Zunge, Körper oder Geist;
    es gibt nichts zu sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen oder denken,
    keine Unwissenheit und auch kein Ende der Unwissenheit,
    "

    Das Herzsutra - ein zentraler Text des Buddhismus. Es soll verdeutlichen, dass nur die Auflösung des Ego zur Erlösung von Leid und damit zur Erleuchtung führt. Dieses Ziel versuchen buddhistische Mönche in vielen Stunden der Meditation zu erreichen. Auch in der buddhistisch geprägten Kultur Tibets gilt es als erstrebenswert.

    "Beide Gruppen haben eines gemeinsam – dass sie das Selbst nicht so stark betonen, sondern dass sie vom Selbst abstrahieren und in einen Zustand des Nicht-Selbst kommen. Sie wollen den Fokus auf das eigene Ego, versuchen sich davon zu lösen - und entsprechend haben diese Probanden, die Tibeter und die buddhistischen Mönche sehr viel weniger Aktivierung in genau diesen Regionen gezeigt, die mit dem eigenen Selbst zusammenhängen."

    Es lassen sich also nicht nur unterschiedliche Selbstkonzepte im Gehirn nachweisen. Auch das Ausmaß des Ego zeigt sich in der Hirnaktivierung.

    "Ich fühle mich weder dem einen zugehörig noch dem anderen. Also wenn jemand sagt: 'Ach du bist ja ganz deutsch.' Ja, dann denke ich: 'Gut, OK, wenn Du das denkst, dann bin ich ganz deutsch.' Und jemand anders sagt: 'Du bist ja ganz indonesisch.' Ich so: 'Ja, OK, gut.' Aber ich bin weder das eine noch das andere. Also dadurch entsteht schon ein Konflikt, weil ich mich weder dem einen noch dem anderen zugehörig fühle. Das ist ein Konflikt in dem Sinne, dass man keine Wurzeln hat wie andere. Es ist aber gleichzeitig auch ein großer Vorteil, weil man die größte Freiheit hat."

    Linda Hardjanegara-Jauw hat ihrem Leben immer wieder eine andere Richtung gegeben. Wie es sich für eine Asiatin gehörte, erfüllte sie zunächst die Erwartungen ihrer Familie und studierte Zahnmedizin. Aber mit diesem Beruf war sie nie wirklich glücklich. Schließlich ging sie in die USA und studierte dort Film. Eine Zeitlang arbeitete sie als freie Filmemacherin. Inzwischen thematisiert sie ihre Erfahrungen mit zwei Kulturen in ihrer Kunst. Eines ihrer Werke ist ein Objekt aus Gebetsketten verschiedener Religionen: Ein Rosenkranz hat genau wie eine buddhistische Mala 108 Perlen.

    "In meinen Arbeiten ist es eine Mischung. Die Ästhetik ist auf jeden Fall asiatisch geprägt. Aber die Strukturiertheit und das Konzeptieren da drin ist auf jeden Fall etwas, was aus dem Westen kommt. Überhaupt das Konzeptemachen ist etwas, was im östlichen ganz fremd ist, glaube ich. Die Art und Weise, wie Konzepte verstanden werden im Westen, das ist wirklich fremd und das ist schon etwas, was ich mir im Westen angeeignet habe, das Konzeptemachen."

    Die Unterschiede zwischen Kulturen springen oft als erstes ins Auge. Dabei sind die Gemeinsamkeiten viel größer. Das glaubt jedenfalls einer, der es wissen müsste: Christoph Antweiler ist Ethnologe an der Universität Bonn und hat die verschiedensten Kulturen studiert. Seine Erfahrungen hat er in einem Buch zusammengefasst. "Heimat Mensch" heißt es und handelt von dem, was uns allen gemeinsam ist.

    "Wenn Sie einfach mal sehen, wir sitzen hier in Köln, wir haben bestimmte Erfahrungen, wie wir mit Verwandten umgehen, Respektbeziehungen, Altersunterschiede, und so weiter. Und wenn wir jetzt nach Indonesien gehen, dann sehen wir auf den ersten Blick erstmal riesige Unterschiede, dass zum Beispiel alte Leute grundsätzlich viel mehr respektiert werden. Wenn wir dann aber ein bisschen tiefer gucken, dann sehen wir Gemeinsamkeiten und wir sitzen hier in Köln, da denken wir an Kölner Klüngel. Verwandtenbegünstigung, da sind die Kölner Spitze drin, haben ihre kulturspezifischen Formen, die man übrigens auch ethnologisch untersuchen könnte, aber das Phänomen der Verwandtenbegünstigung finden wir in allen Kulturen der Welt. Man könnte metaphorisch sagen: Muster in der Vielfalt. Es gibt eine kulturelle Vielfalt, die ist unglaublich groß, aber es gibt da bestimmte Muster und auch Grenzen der Vielfalt."

    Tatsächlich gibt es Dinge, die in jeder Kultur ähnlich gehandhabt werden. Antweiler:

    "Beispiel Sexualität: Es gab immer mal die Thesen: 'Es gibt Kulturen' - und es waren da auch immer Träume mit verbunden – 'Kulturen, in denen Sexualität völlig frei ist.' Da haben Ethnologen lange nach gesucht und sie haben es nicht gefunden. Und sie werden es auch nicht finden."

    Der Hirnforscher und Philosoph Georg Northoff befasst sich auf der Ebene des Gehirns mit Kulturen. Aber je mehr er sich mit den kulturellen Unterschieden befasst, desto stärker springen auch ihm die Gemeinsamkeiten ins Auge.

    "Die Inhalte, die wir haben, die sind verschieden. Die religiösen Inhalte sind in asiatischen Kulturen andere als in westlichen Kulturen. Die Beziehungsinhalte, die Wahrnehmungsinhalte, die Inhalte des eigenen Selbst, die sind in unterschiedlichen Kulturen verschieden. Aber trotzdem tauchen diese Begriffe - das Konzept des Selbst, das Konzept der Umwelt, das Konzept der Wahrnehmung - in all diesen Kulturen auf. Also ist da doch eine gewisse Einheitlichkeit. Wenn man erstmal diese Auffassung hat, dann kann man nicht sagen, dieser kulturelle Inhalt ist höher als der. Da ist eine gewisse Wertfreiheit drin."

    Zur Zeit sind hierzulande allerdings ganz andere Thesen populär: "Deutschland schafft sich ab". Thilo Sarrazin befürchtet den Niedergang unserer Kultur. Dabei stützt er sich allerdings nicht auf Fakten, sondern bedient sich mit geschickter Rhetorik der Xenophobie, also der tief im Menschen wohnenden Angst vor allem Fremden. Gertjan Hofstede erklärt Sarrazins Erfolg auch mit der Struktur unserer Kultur.

    "Deutschland hat eine Risikogesellschaft. Maskulin und unsicherheitsvermeidend ist die Kultur. Das heißt, dass es oft möglich ist, für Politiker sich mit xenophobischen Äußerungen populär zu machen. Und das macht es sogar wichtiger, dass eine Angela Merkel und andere Leute in führenden Stellen sich dagegen setzen. Leute fühlen sich nicht wohl, denn sie wissen nicht, ist unser moralischer Kreis noch gut. Wenn es starke Führung gibt in Deutschland und auch mit ein Herz – dann glaube ich, das ist jetzt sehr notwendig, damit die Leute sich besser fühlen lassen, damit sie nicht diese dumme 'Ausländer raus'-Rhetorik umarmen, die sehr schlecht für Deutschland sein würde und auch nicht für Holland."

    Veränderungen sind für eine Kultur überlebenswichtig. Eine Kultur, die statisch auf dem beharrt, was seit Hunderten von Jahren Gültigkeit hat, kann auf Dauer nicht bestehen. Einwanderer bringen neue Einflüsse, die manchmal vielleicht Probleme schaffen, aber auch bei der Weiterentwicklung einer Kultur helfen können. Gertjan Hofstede:

    "Das ist auch ein Gesetz, könnte man sagen, der Evolution. Wenn etwas Neues geschieht, eine Krise sehr oft, dann kann die Evolution sich eine neue Richtung finden. Wenn nichts geschieht, dann kommt die Evolution nicht heraus aus ein Weg, der schon eingegangen ist."

    Linda Hardjanegara-Jauw: "Die Art und Weise wie wir denken ist nur ein Korsett, das uns schon in ganz jungen Jahren aufgezwungen wird. Wir wachsen mit einem Korsett auf, und irgendwann empfinden wir das Korsett schon gar nicht mehr als Korsett, weil wir haben uns schon so dran gewöhnt, dass wir es als unsere zweite Haut empfinden. Das ist also schon so, dass wir denken, wir identifizieren uns schon damit. Aber im Grunde ist es ein Korsett, aber wenn man es als Korsett erkennt und irgendwann abgelegt, dann erst ist es möglich mit anderen zu kommunizieren."