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Was ist einklagbar, was ist hinzunehmen?

Hierzulande hat der Bürger das Recht, sich manches mit der Atomenergie verbundene Risiko vor Gericht zu wehren – aber nicht gegen das sogenannte "hinzunehmende Restrisiko".

Von Gundula Geuther | 17.03.2011
    Das "Restrisiko", das ist heute ein Begriff für Zyniker. Gemeint war es einmal anders. Größere Bedeutung bekam der Begriff durch das Bundesverfassungsgericht. Schon 1978 erklärten die Richter in ihrer Kalkar-Entscheidung: Es genügt nicht, dass ein AKW nur genehmigt werden darf, wenn – so das Gesetz – die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge getroffen ist. Was die Richter verlangten, ist vielmehr die "bestmögliche Gefahrenabwehr und Risikovorsorge." Die Grenze, die die Richter zogen, war einmal wohl nach ihrer Vorstellung eine sehr entfernte. Sie entschieden:

    "Ungewissheiten, jenseits der Schwelle praktischer Vernunft, haben ihre Ursache in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens. Sie sind unentrinnbar und insofern als sozial adäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen."

    Was also jenseits dessen liegt, was nach "praktischer Vernunft" eintreten kann, das ist das Restrisiko. Die Unterscheidung hat Konsequenzen: Die bestmögliche Vorsorge kann eingeklagt werden. Auch von Anwohnern. Das Restrisiko nicht. Bis vor Kurzem war das alles: bestmögliche Vorsorge – Restrisiko – entweder oder. Ist die bestmögliche Vorsorge nicht getroffen, kann ein AKW stillgelegt werden, bis das geschieht, im Zweifel eben auch auf Bürgerklagen hin. Vergangenes Jahr dann erließ der Bundestag mit schwarz-gelber Mehrheit ein Gesetz, das Bundeskanzlerin Angela Merkel heute im Bundestag rühmte:

    "Wir haben mit der Einführung des neuen Paragrafen 7d eine neue Verpflichtung der Betreiber der Kernkraftwerke zur weiteren Risikovorsorge eingeführt, sich immer wieder am neuesten Stand von Forschung und Technik zu orientieren. Diese Kategorie hat es in diesem Maß noch nicht gegeben und immer wieder dynamisch auf die neuen Anforderungen zu reagieren."

    Das stimmt so nicht ganz. Denn dynamischen Grundrechtsschutz, die Pflicht, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben, das hat schon 1978 in der Kalkar-Entscheidung das Verfassungsgericht verlangt – das erklärt die verärgerten Zwischenrufe. Und das hatte bereits Folgen, ständig und immer wieder. Behörden und Gerichte verlangten Nachrüstungen. Unter anderem auch nach dem 11. September 2001. Damals nämlich wurde ein neues Risiko manifest, entschied 2008 das Bundesverwaltungsgericht: die Terrorgefahr. Auch gegen gezielte Angriffe muss vorgesorgt werden, fanden die Richter. Ein Problem für die Betreiber, denn nicht nur das Ökoinstitut Darmstadt war in dem Moment längst zu dem Schluss gekommen:

    "Bei den ältesten - nicht explizit gegen Flugzeugabsturz ausgelegten Kernkraftwerken - ist bei realistisch möglichen Absturzszenarien eine großflächige Zerstörung des Reaktorgebäudes nicht sicher ausgeschlossen. In der Folge kann es zu einer Kernschmelze kommen."

    Muss also – so weit überhaupt möglich - nachgerüstet werden? Hier – und das ist die eigentliche Änderung – greift der von der Kanzlerin zitierte § 7 d. Der besagt nämlich: Es gibt eine dritte Kategorie, zwischen einklagbarer Vorsorge und hinzunehmendem Restrisiko. Das ist die sogenannte "weitere Vorsorge". Das klingt gut, darunter soll auch die Vorsorge gegen Terrorangriffe fallen und die Betreiber sollen zu ihr verpflichtet sein. Nur: Zur früheren Rechtslage besteht ein großer Unterschied: Diese Vorsorge ist nicht einklagbar. Tatsächlich wurde das Schutzniveau also gesenkt. Ob es dabei bleibt, müssen nun wieder Gerichte entscheiden. Genauer gesagt das Bundesverfassungsgericht. Denn dieser Punkt ist einer derer, die SPD und Grüne mit ihrer Normenkontrollklage gegen die Laufzeitverlängerung rügen.