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Was ist mir wirklich wichtig im Leben?

Zukunftsverdrossen und materialistisch. Auf sich selbst fixiert und bindungsgestört. Wissenschaftsgläubig und gefühlsarm, wenn es um Religion geht. Macht das die Jugend 2008 aus? Es sind wohl eher Mutmaßungen und Spekulationen der Erwachsenen. Woran sich Jugendliche wirklich orientieren, das wurde jetzt in einer repräsentativen Studie untersucht, die an der Universität Braunschweig erarbeitet wurde.

Von Antje Allroggen |
    "Frau Bü beklaut - Werteverfall in Süddeutschland" ,

    heißt es in einem Weblog im Internet.

    "Gibt es in unserer Gesellschaft einen zunehmenden Werteverfall?",

    fragt ein anderes virtuelles Forum bei Yahoo.

    "Werteverfall, Werteverschiebung, das gibt es ganz klar. Ich arbeite mit Jugendlichen, wie sollen sie Werte und Normen entwickeln, wenn Zuhause Alkohol, Drogen, finanzielle Not und was auch immer herrschen",

    so ein User in einem weiteren Weblog.
    Der Werteverfall der westlichen Gesellschaft wird in den Medien regelmäßig zitiert und beklagt. Andreas Feige, Professor für Sozialwissenschaften an der TU Braunschweig, kann dieses gängige Vorurteil nicht bestätigen. Er untersuchte in seiner Studie die Aussagen von Berufsschülern zwischen 18 und 25 Jahren zu Fragen der Alltagsethik, Moral und Religion und stellte dabei fest: Die Jugendlichen 2008 wollen die traditionellen Werte nicht zerstören. Stattdessen sehnen sie sich nach stabilen Lebensverhältnissen.

    "Eine Signatur könnte man vielleicht nennen Sehnsucht nach sozialer Sicherheit. (...) Die Jugendlichen, die wir gefragt haben, (...) sind offensichtlich in einer Situation, in der sie bemüht sind, in ihrem persönlichen Umfeld Beziehungsstabilität, Erwartungssicherheit und Risikominimierung in ihre ´Beziehungskisten´ in ein verträgliches Dreieck zu bringen. Und dazu sind sie bereit, Kompromisse einzugehen, dazu sind sie bereit, (...) solche Werte wie Hilfsbereitschaft, Vertrauen zu investieren."

    Wichtig sind den Jugendlichen außerdem - so fand die Feige-Studie heraus - "Offenheit" und "Vertrauen" in der Partnerschaft mit gleichzeitig legitimierten "Freiräumen". 70 Prozent der Befragten haben Angst oder sogar große Angst vor dem Alleinsein. Gute 60 Prozent fürchten sich vor einer unheilbaren Krankheit. Dafür sieht weniger als ein Drittel im Alkohol- oder Drogenkonsum eine ernst zu nehmende Gefahr. Die soziale Dimension, das gemeinsame Erleben scheint der aktuellen Jugendlichen-Generation demnach von besonderer Bedeutung zu sein.
    Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch die Shell-Studie: Jugendliche hätten durchaus ein Wertesystem, von einem Werteverfall könne keine Rede sein. Familie und Freundeskreis seien für die Jugendlichen wichtig und übernähmen eine stützende Funktion.

    Ob die Sehnsüchte der 18 bis 25-Jährigen auch religiöse Erfahrungen ermöglichen, bezweifelt die Shell-Studie jedoch. Die Kirche stehe den Jugendlichen in wichtigen Lebenslagen nicht zur Verfügung.

    "Das Problem bei der Shell-Studie ist bisher ( ... ) gewesen, dass es durch das Nadelöhr eines sehr engen Religionsbegriffs gegangen ist, und genau dieses Nadelöhr haben wir durch unseren Religionsbegriff vermieden.”"

    Während also die Shell-Studie die Jugendlichen direkt zu ihrem Verhältnis zur Religion befragte - etwa zum persönlichen Gottesbild -, hat sich die Untersuchung von Andreas Feige für ein anderes Verfahren entschieden: In einem ersten Schritt wurden Fragebögen an Berufsschulen verschickt. Am Rücklauf erkannten die Wissenschaftler, welche Themen den Jugendlichen besonders wichtig sind. Diese Vorstellungsinhalte wurden in einem zweiten Schritt als sogenannte Items in den überarbeiteten Fragebogen eingepflegt. Die Fragen ergaben sich also durch eine Art Rückspiegelungs-Effekt und waren nicht von vornherein vorgegeben.

    ""Wir wollten nicht fragen, ob sie schon mal gebetet haben in den letzten 14 Tagen und ob sie ein persönliches Gottesbild haben - so fragt die Shell-Studie, weil die Antworten darauf nicht falsch sein müssen. Aber wir wissen nicht, was die Jugendlichen sich darunter vorstellen."

    Folge dieser Doppelbefragung war, dass die Antworten der Jugendlichen uneindeutig und diffus blieben. Anstelle von Ja-Nein-Fragen ließ die Feige-Studie die Jugendlichen zu ihren gefühlten Lebenswirklichkeiten äußern. Viele von ihnen scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, ihre Seelenzustände mitteilen zu können. Die Studie bringt nun viele dieser verschütteten Sehnsüchte wieder ans Licht. Damit schafft sie neue Anschlussstellen für Lehrer, um mit den Jugendlichen wieder ins Gespräch zu kommen.

    "Es geht ja in diesen Fragen nicht nur darum (...) wo kann ich Fachwissen anknüpfen, sondern es geht um Gefühle. Wo sind Ängste, wo ist Zuversicht, das zu wissen, ist für Lehrerinnen und Lehrer absolut wichtig. Sonst finden sie keine Anknüpfungspunkte mit dem, was sie ja an guter Botschaft rüberbringen wollen. Sie haben ja eine gute Botschaft, sie wollen ihnen ja etwas mitgeben","

    Meint Dr. Beate Scheffler, Leiterin der Abteilung Berufliche Bildung im Schulministerium Nordrhein-Westfalen. Sie hat beobachtet, dass der Religionsunterricht in den berufsbildenden Schulen einen besonders schweren Stand habe, weil es ihm nur selten gelinge, Eingang in den Lebensalltag der Jugendlichen zu finden. Religionsunterricht setze zu viel theologische Vorkenntnisse voraus. Religiöse Bildung werde aber in den meisten Familien nur noch ansatzweise vermittelt. Deshalb müsse der Religionsunterricht die Jugendlichen erst einmal dazu bringen, über ihre gefühlten Lebenswelten zu sprechen.
    Auch Professor Hans-Martin Lübking, Leiter des Pädagogischen Instituts der Evangelischen Kirche in Westfalen, will Fragen der Alltagsethik mehr als bisher im Bildungsangebot berücksichtigen.

    "" Wir werden sicherlich eine Reihe der in der Studie angesprochenen Alltagsfragen auch zum Ausgangspunkt von Veranstaltungen nehmen. (...) ((Kirche wird nicht mehr assoziiert mit von gestern, nicht mehr mit modrig, sondern mit Raumstille, Ruhe, Abschalten. Was bedeutet das für Jugendliche, haben wir überhaupt solche Möglichkeiten, wo Kirchen so erfahren werden können. (...))) Dass die Fragen von Jugendlichen nicht nur vorkommen, sondern am besten sie mit dabei sind und dass auch vertreten können, das wäre eine Herausforderung."

    Nur über den Umweg einer alltagsethischen Diskussion scheinen die Jugendlichen noch offen für die Vermittlung ethischer bzw. transzendentaler Vorstellungen zu sein. So die eindeutige These der Feige-Studie. Weil die Fragen der Studie keinen christlichen Bildungshintergrund voraussetzen, sind sie auch offen für Nicht-Gläubige oder Muslime, die ebenfalls für die Untersuchung befragt wurden. Das erstaunliche Ergebnis: Viele Muslime haben ganz ähnliche Wertevorstellungen wie ihre christlichen Mitschüler, erläutert Andreas Feige:

    "Wir haben 500 Muslime im Fragepanel mit dabei. Mit denen hatten wir anfangs gar nicht gerechnet. (...)Nicht alle Fragen waren für die Muslime passend. Die Semantik ist eben doch eine andere, aber die Mehrheit der Fragestellungen konnten von den Muslimen ohne weiteres beantwortet werden. Nämlich die der Alltagsethik, (...) nach den Gefühlen, die man bei Konflikten hat, und man kann feststellen, dass im wesentlichen keine Unterschiede zu den nicht-muslimischen Mitschülerinnen bestehen. Lediglich, wenn es um eine festgesetzte Semantik wie Gott oder Allah oder Sünde geht und Moschee, dann sind die Reaktionen semantisch konservativer."

    Ein Schwachpunkt der Studie ist, dass unter den in Deutschland befragten 8000 Berufsschülerinnen und - Schülern nur 300 Rückmeldungen aus den ostdeutschen Bundesländern - und hier lediglich aus Sachsen - kamen. Damit bildet die Untersuchung hier nur ansatzweise die Lebensorientierung Jugendlicher ab.

    "Das ist unser blinder Fleck, das muss man ganz deutlich sagen, weil wir eben über den Religions- und Werte- und Normen-Unterricht gegangen sind, und damit ist die Repräsentanz des Religionsunterrichts in den neuen Bundesländern in den berufsbildenden Schulen fast gleich Null."

    Eine Magisterarbeit soll nun untersuchen, ob die Antworten der Jugendlichen aus Ostdeutschland dennoch repräsentativen Charakter haben.