Archiv


Was ist Zeit?

Wie doch die Zeit vergeht! - Das sagen sich viele Menschen nicht nur zum Jahreswechsel. Doch was ist Zeit eigentlich? Der Schweizer Zeitforscher, Sozialpsychologen und Kulturphilosoph Michel Baeriswyl kennt Antworten.

Von Knut Benzner |
    In Baeriswyls Wohnzimmer, auf einer Couch, vor der ein kleiner Glastisch steht, eingerahmt von zeitgeschichtlichen Büchern und umgeben von Schallplatten und CDs.

    "Also die schönste Definition, der ich bis jetzt begegnet bin, sagt eigentlich Zeit ist Veränderung. Oder Luhmann hat einmal gesagt: Die Tatsache, dass die Welt sich verändert, gebiert Zeit."

    Baeriswyl ist verheiratet, hat zwei Kinder und somit wenig Zeit. Aber da seine Frau ebenfalls berufstätig ist, wird die Zeit geteilt.

    "Zeit, das Wesen der Zeit ist Veränderung, und weil es ne Tatsache ist, dass sich die Welt laufend verändert, gibt es Zeit."

    Zeit sei universell, sagt er. Jeder Mensch auf der Welt habe, wie auch immer, eine Vorstellung von Zeit – und die wiederum könne, nach klimatischen Zonen zum Beispiel, kulturell interpretiert werden. Wann die Zeit anfing, gezählt zu werden, scheint datiert.

    "Also es gibt Anthropologen und Evolutionsbiologen, die sagen, dass eigentlich die Existenz des Menschen an und für sich, so wie wir ihn kennen, also da wo der Mensch nicht mehr der Neandertaler war, ist der Übergang wirklich zum moderneren Menschen, dass der eigentlich damit zusammenfällt, dass die Zeit relevant wurde, dass die Zeit entdeckt wurde. Also dass das Menschsein an und für sich mit der Entdeckung der Zeit, der Zeitigkeit der Welt direkt zusammen hängt. Also vor allen natürlich auch, die Entdeckung, dass man stirbt. Das ist eine Entdeckung, die vermutlich die Tiere nicht haben, wenn ich das von den Evolutionsbiologen recht verstanden habe, aber die Entdeckung, dass wir sterben, dass wir gezeitete Wesen sind, ist eigentlich so die Grunderfahrung des Menschen und die gebiert natürlich dann für uns die Zeitlichkeit."

    Sein Verhältnis zur Zeit?

    "Hmmm, also um mal den Satz ´das Sein bestimmt das Bewusstsein` aufzugreifen, bestimmt natürlich mein Sein auch mein Zeitbewusstsein, das heißt ich bin als Freiberufler nicht eingespannt in diesen strengen Arbeitstakt. Ich habe doch relativ viel Freiheit, gut zu selektionieren, sodass ich das Gefühl habe, ich fülle meine Lebenszeit eigentlich sehr gut."

    Mit der Uhrzeit hat sich die Gesellschaft verändert. Die Menschen klagen, zuweilen ächzen sie unter dem Diktat der Zeit.

    Albert Einstein, technischer Experte 3.Klasse beim Berner Patentamt, hat später dann behauptet, Zeit sei das, was die Uhr anzeigt. Das sei, so Baeriswyl, ein merkwürdig statischer Zeitbegriff.

    Zeit ist seit der Industriellen Revolution Norm, die Uhr das Kontrollinstrument der immer gleichen Abläufe, der Standardisierung und der Effizienz. Das nie anhaltende Fließband und der Effizienzgedanke sind verbunden mit der Stechuhr.

    Das Wort "Pünktlichkeit", war es vorher ein Begriff?
    Die Zeit, die ich verbrauche oder nicht sinnvoll nutze, wird messbar.

    "Also erst einmal die Frage, gibt es eine Zeit oder mehrere, und wenn Sie jetzt sagen, physikalisch vorgegeben, biologisch vorgegeben, ich unterscheide zwischen Systemzeiten, in biologische Systemzeiten, physikalische Systemzeiten, soziale Systemzeiten, und man kann sagen, je weiter man Richtung sozial geht, je weiter man sich entfernt von biologischen oder physikalischen Zeiten, desto mehr Freiheitsgrade haben wir. Aber wir haben nicht so viele Freiheitsgrade, uns dagegen zu widersetzen. Wir sind nicht so frei, uns dagegen aufzulehnen, also wir können nicht die Nacht zum Tage machen, wir haben zwar die Freiheit, aber das nicht kostenlos."

    Baeriswyl bezieht das auf Arbeit, nicht auf Freizeit.
    Ist die Zeit im Watch Valley, im Schweizer Jura, in der französischsprachigen Schweiz, dort, wo die Uhren herkommen, eine spezielle?

    "Also wenn ich in den Jura gehe und in Freiberge, dann stelle ich einfach fest: Es ist viel ruhiger, es ist abgelegen, es sind Täler irgendwo abseits der großen Verkehrsströme. Ob es sonst eine andere Zeit gibt, da habe ich keine Ahnung."

    Sein Großeltern väterlicherseits hatten die vielleicht. Sie waren dort Uhrmacher und arbeiteten an der Zeit.
    Baeriswyl sagt, er sei pünktlich.

    "Ich bin schon ein pünktlicher Mensch, und ich hasse es eigentlich sehr, wenn man mich warten lässt. Ich empfinde das als einen Übergriff über meine Zeit. Aber sonst, die Uhrzeit ist für mich absolut nicht wichtig."