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Was man mit dem Körper alles machen kann

Das Festival "Dance" in München hat unter dem Titel "Körper Sphären" binnen 2 Wochen 17 Produktionen auf dem Programm. Sie sollen zeigen, wie Körper im zeitgenössischen Tanz ihr Umfeld erkunden. Zum Auftakt gab es Bekanntes von Trisha Brown und eine Uraufführung von Dave St. Pierre.

Von Gabriele Wittmann |
    Musik von den Grateful Dead. Wie vor 30 Jahren begleitet sie auch heute wieder das Solo "Accumulation" von Trisha Brown. Bewegungen aneinanderreihen und in Schleife setzen - das ist das einfache, aber für die damalige Zeit radikale choreografische Prinzip. Gegen die Erzählung setzten die postmodernen Choreografen die Abstraktion. Und überlegten, was man mit dem Körper alles machen kann. Trisha Brown war damals, wie sie sagt, besessen von der Erforschung alltäglicher Strukturen:

    "Ich habe auf einer Sanddüne gestanden und mich gefragt: Wie ist dieser Fußweg entstanden, warum macht er genau hier eine Kurve? Oder, wenn ich mir Frühstück gemacht habe, habe ich in die Pfanne geschaut, welche Struktur das hat: Drei Streifen, Schinken, darauf zwei Kreise, Eier. Und ich habe mich gefragt, wie das wohl bei anderen Leuten aussieht - ob sie es wohl genauso machen."

    Die Strukturen, mit denen Trisha Brown damals experimentierte, sind heute im Tanz allgegenwärtig. Und gerade deshalb ist es faszinierend, die alten Werke noch einmal wiederzusehen. Und zwar nicht à la Baryschnikov, mit Pomp und Pathos nachgetanzt, sondern von der Trisha Brown Company selbst ausgeführt - so neutral und alltäglich wie möglich. Und: äußerst präzise.

    Wie in der "Group Primary Accumulation" aus dem Jahre 1970: Vier Tänzerinnen liegen am Boden und setzen synchron einen Fuß auf, verschieben synchron das Gewicht auf eine Seite, strecken den Arm, drehen den Kopf. Es sind unspektakuläre, minimale Bewegungen, die aus Yoga-Sequenzen stammen könnten; eine Dehnung im Brustkorb, eine Kontraktion im Bauch; alles seriell gereiht, und doch immer weiter ausgedehnt zu einem immer länger werdenden Zyklus. Durch eine Winkelbewegung des Oberkörpers verschieben sich schließlich überraschend die Positionen der Tänzerinnen, bis sie alle Diagonalen durchlaufen haben.

    Ein Meisterwerk der Tanzgeschichte. Ohne Schnörkel, ernsthaft durchgearbeitet. Eine Idee, radikal reduziert bis aufs Skelett. Ganz anders als der zweite Programmpunkt dieses Abends.

    Erfrischend mutig setzte das Festival zur Eröffnung auf eine Uraufführung - und die Gerüchteküche rumorte schon im Vorfeld. Extrem sollte es wieder werden, das neue Stück des shooting stars aus Kanada, Dave St. Pierre. "Ein bisschen Zärtlichkeit Scheiße nochmal!" - so etwa lautet der programmatische Titel übersetzt - zeigt 15 Tänzer in niederschmetternden Liebesbegegnungen.

    Aufgereiht auf einer Stuhlreihe an der Bühnenrückwand warten sie auf ihren Einsatz. Immer wieder wirbt einer um einen Partner, steigert die Gestik des "komm zu mir", bis er die Balance verliert und ausrutscht in totaler physischer Verausgabung. Eine Moderatorin kommentiert diese Szenen mit zynischer Verachtung, bemerkt den heftigen Atem, den Tänzer produzieren, die bereit seien, für einen Hungerlohn alles zu geben. Dann parodiert sie ein bisschen Showbusiness, umringt von einem trashigen Chor, und während Frauen ihre Partner beständig bespucken, tippelt ein Häuflein nackter Männer mit blonder Lockenperücke engelsgleich durch den Kitsch-Himmel.

    Das neue Stück von Dave St. Pierre ist eine amüsante Trash-Parodie der herzlosen Bussi-Bussi-Gesellschaft, unterbrochen durch enorm fordernde körperliche Einsätze wie in handfestem Tanztheater.

    Und es ist irgendwie traurig zu sehen, dass sich in 30 Jahren nicht so viel geändert hat, seit Pina Bausch den Wunsch, geliebt zu werden, auf die Bühne gebracht hat. Nur die ästhetischen Mittel sind heute anders, nach Punk und Physical Dance eben eine Spur physischer und brutaler, und der künstlerische Zugriff abgeklärter, ironischer, trashiger. Aber extrem - naja, dieses Stück ist halt so extrem wie die Zeiten eben sind.