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Was von den Utopien übrigblieb

Die Idee ist rund 100 Jahre alt und gilt bis heute als weltweit einmalige Form des kollektiven Zusammenlebens: die Kibbuz-Bewegung. Nach langem Niedergang stellt sich die Frage, was von den Utopien von damals übrig geblieben ist? Eine Ausstellung der Stiftung Bauhaus in Dessau gibt Antworten.

Von Andreas Beckmann | 10.05.2012
    Kibbuzniks – eine ländliche Bewegung jüdischer Siedler, die zurück wollten in ihr heiliges Land, zurück zur Scholle und zu einer bäuerlichen Wirtschaftsweise. Man kommt nicht ohne Weiteres darauf, sie in Verbindung zu bringen mit dem Bauhaus, einer städtischen Kunstschule, die aufgebrochen war, Design, Architektur und Produktionsformen zu modernisieren. Aber für Werner Möller, den Stellvertretenden Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau, ist das gar nicht abwegig.

    "Der Kollektivgedanke war das gemeinsame, verbindende ideengeschichtliche Element zwischen der Kibbuz-Bewegung und dem Bauhaus."

    Hier wie dort spiegelt sich dieser Gedanke in der Architektur. Nüchterne weiße Gebäude aus Stahlbeton, mit flachen Dächern und großen Fensterflächen prägen das Bild sowohl in Dessau wie in vielen Kibbuzim. Aber nicht diese sinnfälligen stilistischen Elemente sind für Werner Möller entscheidend, sondern der Blick hinter die Fassaden. In den Kibbuzim dienen diese Gebäude als Speise- und Versammlungssäle, in denen sich das gesellschaftliche Leben abspielt. Das Gemeinschaftserlebnis suchten auch die Vordenker des Bauhauses.

    "Hier am Bauhaus ging es auch um diesen Gedanken, diese gemeinschaftliche Werkstatt zu sein, die gemeinschaftlich unterrichtet, erfindet, produziert und die aber auch gemeinschaftliche Kulturveranstaltungen hat, gemeinschaftliches Essen und kollektives Wohnen. Das war diese Art einer Gemeinschaft, wo alle aus ihren Professionen das Beste für das gemeinschaftliche Ziel, für die gemeinschaftliche Aufgabe einbringen."

    Als Leistungsgemeinschaft sahen sich auch die Kibbuzniks, aber vom Bauhaus können sie dieses Ethos kaum übernommen haben. Denn die Idee, das heilige Land mit zionistischen Kommunen zu besiedeln, reifte schon 1909, also zehn Jahre, bevor das Bauhaus gegründet wurde. Und die ersten festen Gebäude, die 1912 im ersten Kibbuz in Degania am See Genezareth errichtet wurden, sahen auch überhaupt noch nicht nach einer Siedlung im Bauhausstil aus.

    "In dieser frühen Phase sind die Kibbuzim wie ein Wehrdorf gebaut. Die Gebäude sind in einem Viereck angelegt mit einer Mauer oder einem Zaun drumherum. Und wenn man sich auf der Landkarte anschaut, wo sie errichtet wurden, dann sieht man, es ging darum Pflöcke einzuschlagen im Gebiet Palästinas, um Schritt für Schritt Grenzen abzustecken für einen künftigen Staat Israel."

    Zvi Efrat hat sich als Architektur-Professor an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem viele Jahre mit der Geschichte der Kibbuzim beschäftigt. Schon die ersten Pioniere träumten von einem jüdischen Staat im Gelobten Land. Aber sie seien nicht als Eroberer gekommen, hätten niemals Land fremder Eigentümer besetzt, sondern ihre Grundstücke gekauft. Meist waren es schlechte Böden, die alteingesessene Großgrundbesitzer oder Beduinen ihnen anboten. Doch Angriffe von arabischen Milizen machten ihnen schnell klar, dass sie nicht willkommen waren.

    "Eine Art Wagenburgmentalität prägt den Kibbuz von Anfang an. Es ging immer darum, ihn ganz schnell zu errichten, buchstäblich über Nacht, damit er am nächsten Morgen fertig war und man ihn verteidigen konnte. Im Zentrum stand immer ein Turm. Vom dem aus überblickt man die feindliche Umgebung, aber auch die eigenen Leute. Der Kibbuz ist immer ein Mittel zur Kontrolle des Landes, aber auch der Selbstkontrolle."

    Die Selbstkontrolle spielte gerade in den frühen Kibbuzim eine große Rolle. Mitglied konnte nur werden, wer sich in einer Probezeit bewährte. Ob einer aufs Feld geschickt wurde oder ins Büro, entschied die Vollversammlung, Widerspruch war nicht vorgesehen. Alle waren bereit, jegliche Arbeit anzunehmen. Denn nach dem Glauben der Kibbuzniks sollte das jüdische Volk nicht nur durch die Rückkehr ins Gelobte Land erlöst werden, sondern vor allem durch gemeinsame Arbeit.

    "Auf jeden Fall kann man sagen, dass der Siedlungsgedanke und die Idee einer Metaphysik der Arbeit Ausdruck eines lebensreformerischen neuen Lebensgefühl gewesen sind, was die frühe zionistische Bewegung ausgezeichnet hat."

    Dieses Lebensgefühl hat der Frankfurter Erziehungswissenschaftler und Philosoph Micha Brumlik vor über 40 Jahren selbst kennengelernt, als er nach dem Abitur ein Jahr lang als Freiwilliger in einem Kibbuz mitgearbeitet hat.

    "Wir hatten die Sechs-Tage-Woche, der Tag begann in der Regel um fünf Uhr morgens. Dann haben wir uns aus den Betten gequält, um in den Speisesaal zu gehen, da durften wir dann so 20 Minuten frühstücken und sind dann in der Regel mit Lastwagen raus auf die Felder gefahren worden."

    Micha Brumlik bezeichnet die frühen Kibbuzim heute als einzigartigen Versuch, Kommunismus in Freiheit zu verwirklichen. Alle Einnahmen gingen in eine Gemeinschaftskasse. Dafür waren Essen und Wohnen ebenso kostenfrei wie die Erziehung und Ganztagsbetreuung der Kinder, die von ihren Familien getrennt aufwuchsen in speziellen Kinderhäusern. Dieser Kollektivismus wurde zwar im Laufe der Jahre gelockert. Die Kinder leben heute wieder bei ihren Eltern und die Arbeit wird individuell entlohnt. Aber immer noch bietet der Kibbuz ein Höchstmaß an sozialer Sicherheit.

    "Der Kibbuz als Kollektiv garantiert jedem Mitglied ein Recht auf Arbeit, einen Mindestlohn und eine Mindestrente sowie eine freie Gesundheitsversorgung. Das ist mehr als heutzutage die großzügigsten Wohlfahrtsstaaten dieser Welt bieten."

    Für den Soziologen Eliezer Ben-Rafael von der Universität Tel Aviv ist der Kibbuz bis heute ein Modell, mit dem sich Menschen erfolgreich gegen die sozialen Risiken einer modernen Gesellschaft absichern, nach dem Prinzip: ”Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen”. In den Aufbaujahren mussten diese Bedürfnisse aber sehr bescheiden bleiben. Das erzählen Veteraninnen wie die heute 93-jährige Raja in Videos.

    "Da haben wir am Freitag, wenn wir gekommen sind, ein Bündel gefunden und darin war eine Bluse und ein paar Hosen und Schlüpfer und sogar ein Büstenhalter, der nicht von mir war, der war allgemein. Das hat man dann so verteilt und die haben ungefähr gewusst, wer dick ist und wer dünn ist und wer groß ist und wer klein ist. Das war immer ein großes Erlebnis, was kriege ich diese Woche zum Anziehen. Und dann hat man nach zwei, drei Jahren schon die Unterwäsche privat gemacht."

    Der Aufschwung kam 1948, mit der Gründung Israels. Jetzt konnten die Kibbuzim ihre landwirtschaftlichen Flächen ausweiten und zusätzlich industrielle Betriebe aufbauen. Ihr wichtigster Förderer wurde der erste Leiter der Nationalen Planungsbehörde, Arieh Sharon. Sharon hatte als junger Mann selbst in einem Kibbuz gelebt, bevor in den 20er-Jahren am Bauhaus Architektur studierte. Nach der Gründung Israels konnte er seine Vorstellungen von Siedlungsbau in großem Stil verwirklichen, erklärt Werner Möller von der Stiftung Bauhaus Dessau.

    "Arieh Scharon hatte seine architektonische und planerische Vorstellung vom Kibbuz mit einem Bienenstock verglichen, weil die Bienen innen drinnen auch nach Funktionen sortiert am meisten für den Staat arbeiten und auch ihr eigenes Gehäuse gebaut haben, die Bienenwaben. Genauso hat er dieses Wabenmodell, dieses Organisationsmodell auf den Kibbuz übertragen, sauber getrennt zwischen einer Produktionszone, einem Gemeinschaftseinrichtungsteil und Wohnen."

    "Diese zweite Phase des Kibbuz ist die Phase der Gartenstadt. Inmitten der Felder bilden die Produktionszone, die Gemeinschaftszone und die Zone mit den kargen Wohnkomplexen jeweils eine Achse. Die drei Achsen laufen auf ein Zentrum zu, wie in einer Stadt, und der Kibbuz ist so Stadt und Dorf in einem oder weder Stadt noch Dorf."

    Auch in dieser Blütephase, die der Architekturhistoriker Zvi Evrat beschreibt, lebten nur etwa sieben Prozent aller Israelis in Kibbuzim. Aber Hunderttausende Einwanderer, viele davon Überlebende des Holocaust, fanden auf den Kibbuz-Festen Anschluss an die sich formierende israelische Gesellschaft.

    Kibbuzniks galten bald als Elite des jungen Landes, schließlich hatten sie Wüsten urbar gemacht und erfolgreich gegen Araber gekämpft. Viele von ihnen stiegen in hohe politische Ämter auf und sorgten dafür, dass die Straßen zu den Kibbuzim asphaltiert und ihre Infrastruktur stetig verbessert wurde. Die jetzt florierenden Kommunen ermöglichten den Mitgliedern einen luxuriösen Lebensstil, für den der gemeinsame Swimmingpool in der Wüste zum Sinnbild wurde. Doch als sich Israel für den Welthandel öffnete, waren viele Betriebe der ausländischen Billigkonkurrenz nicht gewachsen. Fast alle Kibbuzim mussten ihre Produktion drosseln und Land verkaufen, berichtet Zvi Evrat.

    "Die Architektur ist ein klares Zeichen für diesen Wandel. Plötzlich entstehen mehr und mehr Eigenheime, weil die Kibbuzim in den 90er-Jahren zwei Drittel ihrer Flächen privatisieren. Wohlhabende Mitglieder bauen sich da ihre Häuser und heute, in der dritten Phase, sieht ein Kibbuz aus wie eine amerikanische Vorstadt, wie ein suburb."

    Die alten Gemeinschaftshäuser, die einst das Bild bestimmten, verlieren an Bedeutung. Der Bauhaus-Einfluss verschwindet immer mehr aus den Kibbuzim. Aber der Soziologe Eliezer Ben-Rafael sieht das nicht als Zeichen des Niedergangs.

    "Ironischerweise ist der Kibbuz heute weniger Kibbuz als früher und gerade deshalb attraktiver. Man muss sich nicht mehr mit den Widrigkeiten der Natur herumschlagen. Man muss auch nicht mehr auf seine Privatsphäre verzichten. Kibbuznik sein heißt heute, in einer grünen Umgebung zu wohnen mit einer Lebensqualität, die man woanders kaum findet."

    Die meisten Bewohner arbeiten längst außerhalb und kommen nur noch zum Schlafen und am Wochenende hierher. Innerhalb des Kibbuz entstehen soziale Spannungen.

    "Die Alten fürchten um ihre Renten, wenn die Kibbuzim immer mehr Gelder in Kindergärten und Schulen investieren. Das aber ist notwendig, um neue zahlungskräftige Familien anzulocken, deren Mitgliedsbeiträge langfristig den Haushalt sichern sollen."

    Es geht darum, einen mittelständischen Lebensstandard zu halten. Der alte Pioniergeist ist verflogen. Oder er lebt in der Siedlerbewegung fort, wie Micha Brumlik in einer provokanten These konstatiert. Die Siedler interessieren sich zwar überhaupt nicht für die Idee gemeinschaftlicher Arbeit, aber Brumlik sieht in ihnen dennoch Erben des Kibbuz-Gedankens.

    "So sehr sich die Kibbuzim und die Siedler in den weltanschaulichen Oberflächen unterscheiden, so sehr bleibt doch eines gemeinsam, nämlich der Siedlungswille! Und das heißt, Land in Besitz nehmen und anzueignen."

    Dadurch glauben die Siedler, das Überleben des Jüdischen Volkes im Heiligen Land zu sichern. Die Kibbuzniks von heute sind da anderer Ansicht. Meinungsumfragen zeigen, dass gerade in ihren Kreisen die Bereitschaft zum Friedensschluss groß ist – und zwar auch dann, wenn der Preis dafür der Verzicht auf Land wäre. Die Pioniere von einst, so Zvi Efrat, wünschen sich Stabilität.

    "Der Kibbuz ist ein Sinnbild für das zionistische Projekt. Er ist der Motor seiner territorialen Ausdehnung. Er verkörpert den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg der Juden in Israel. Doch gleichzeitig wird seine Zukunftsfähigkeit immer wieder durch Krisen infrage gestellt. Das gilt für den Kibbuz und für das ganze Projekt Israel."