Wenn der Strömungsfilm der "Tagesthemen" nicht nur die Verläufe des Wetters, sondern auch die Konjunkturen des Geisteslebens abbilden würde, dann müssten die Kachelmanns ihre Zeigefinger auf einen Schwarm von Pfeilen richten, die aus den universitären Zentren der USA nach Europa flitzen: "Culture is trendy" - Kultur ist angesagt.
Und so hat sich gerade ein Periodikum gegründet, das die "langen Linien des Ideenverkehrs" erforschen möchte. Die "Zeitschrift für Ideengeschichte", entwickelt von den Chefs der führenden deutschen Forschungsbibliotheken und Archive in Marbach, Wolfenbüttel und Weimar, verfolgt die Idee, dass die jüngsten Wertedebatten und die Wiederkehr der Religionen eine Renaissance der geistesgeschichtlichen Diskurse nahelegen. In Weimar - Goethe und Schiller lassen grüßen - kombinierte das neue Periodikum die Vorstellung seines ersten Heftes mit dem Versuch, die Prägung der bundesdeutschen Geisteslandschaft durch die Hochschulreform der 1960er und 70er Jahre zu bilanzieren. "Was war Bielefeld?", lautete die Frage, die auf der Jahrestagung des die Zeitschrift tragenden Arbeitskreises für Ideengeschichte geradewegs auf das Problem der Halbwertzeit von Hans-Ulrich Wehlers kritischer Sozialgeschichte und den Geltungsanspruch von Niklas Luhmanns Systemtheorie zulief. Zunächst aber ließ man die Gründungsgeschichte der Bielefelder Reformuniversität Revue passieren.
"Die zentralen Merkmale waren Konzentration auf eine Forschungsuniversität, die sich auf wenige Themen spezialisierte, das heißt nicht das Spektrum der Volluniversität an Fächern mit allen Orchideenfächern erfüllt, sondern wenige wichtige Fächer, die allerdings in großer Stärke, versammelt. Zweitens war das Konzept, dass die Lehre regelmäßig unterbrochen wird von Forschungsjahren - ein Jahr Forschung, ein Jahr Lehre. Und drittens ein ideales Betreuungsverhältnis von einem Professor auf 30 Studenten."
Der Koblenzer Soziologe Clemens Albrecht konstatierte im Einführungsvortrag, dass das Konzept seines 1984 verstorbenen Kollegen Helmut Schelsky, Gründungsvater der Bielefelder Universität, alsbald von der Ministerialbürokratie konterkariert wurde. Aus dem geplanten Maximum von 3500 Studenten wurden gleich zu Beginn 10.000. Und die 68er Protestbewegung gab mit der Politisierung der Hochschulen Schelskys Reformansatz den Rest. Aber, so Albrecht, der Keim des Verfalls steckte bereits in Schelskys sozialtechnischem Ansatz. Der führte zum Bielefeld-Syndrom.
"Das Bielefeld-Syndrom ist der vorauseilende Gehorsam gegenüber den Begriffen, die man sich von der sozialen Realität gemacht hat. Wir haben eine ganze Menge von normativ aufgeladenen Begriffen wie zum Beispiel 'die moderne Zivilisation', 'die Wissensgesellschaft' und andere Begriffe dieser Art. Das sind alles typologische Verdichtungen der Realität, aber wenn wir unser Handeln dann an ihnen ausrichten und fragen: Wie müssten wir denn Institutionen wie eine Universität ausrichten, damit sie in eine technische Zivilisation passt, dann richten wir unser Handeln eben an den Vorstellungen aus, die wir von der sozialen Realität hatten. Und das nenne ich das Bielefeld-Syndrom."
Das Bielefeld-Syndrom wirkt bis heute fort - zum Beispiel im sozialtechnologischen Gebastel der bildungsministeriellen Exzellenz-Initiative oder der so genannten Gesundheitsreform. Gleichwohl gelang in den 70er Jahren auf der freundlichen Dauerbaustelle am Rande des Teutoburger Waldes die Errichtung eines akademischen Leuchtturms. Dafür stehen die Namen illustrer Akademiker: die Historiker Reinhart Koselleck und Hans-Ulrich Wehler, der Soziologe Niklas Luhmann, der Pädagoge Hartmut von Hentig und der Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Bohrer. Ihr Wirken in der ostwestfälischen Provinz wurde auf der Tagung in Weimar bespiegelt, gelobt und kritisiert, vom System der legendären luhmannschen Zettelkästen bis zu Bohrers wütenden Ausfällen gegen die ästhetische Provinzialität des Politikstils der Ära Kohl. Das mittlerweile in kulturwissenschaftlichen Kreisen übliche Wehler-Bashing mit seinen Invektiven gegen die angeblich graue Theorie der Sozialgeschichte Bielefelder Prägung stand nach dem Muster "good guy / bad guy" neben den Elogen auf die Begriffsgeschichte von Reinhart Koselleck. Und mit dem Pädagogen Hartmut von Hentig und dem Philosophen Hermann Lübbe waren auch zwei Bielefelder Reformer der ersten Stunde zu Auskünften bereit. Beide stellten als kluge Pragmatiker knochentrockene Statements in den luftigen Raum der Ideengeschichte. Hentig fragte mit Blick auf die Bielefelder Reformfantasien: Was tut die Wirklichkeit den Ideen an? Und: Welche Macht haben die Ideen über die Wirklichkeit? - Die Antwort gab Hermann Lübbe, als Politiker wie als Philosophieprofessor an der Gründung beteiligt, jedoch schon 1973 nach Zürich enteilt:
""Die Universität Bielefeld ist eine Universität wie jede andere, allerdings eine mit erstaunlich hohem Anteil von Wissenschaftlern nationalen und internationalen erstaunlich hohen Geltungsranges. Also man kann sich, wenn man nach Bielefeld einmal gelangt, freuen, wie gut man dort studieren kann."
Auch für die Geschichte von Reformideen gilt offenbar: Sinn ist die beherzte Reduktion von Komplexität.
Und so hat sich gerade ein Periodikum gegründet, das die "langen Linien des Ideenverkehrs" erforschen möchte. Die "Zeitschrift für Ideengeschichte", entwickelt von den Chefs der führenden deutschen Forschungsbibliotheken und Archive in Marbach, Wolfenbüttel und Weimar, verfolgt die Idee, dass die jüngsten Wertedebatten und die Wiederkehr der Religionen eine Renaissance der geistesgeschichtlichen Diskurse nahelegen. In Weimar - Goethe und Schiller lassen grüßen - kombinierte das neue Periodikum die Vorstellung seines ersten Heftes mit dem Versuch, die Prägung der bundesdeutschen Geisteslandschaft durch die Hochschulreform der 1960er und 70er Jahre zu bilanzieren. "Was war Bielefeld?", lautete die Frage, die auf der Jahrestagung des die Zeitschrift tragenden Arbeitskreises für Ideengeschichte geradewegs auf das Problem der Halbwertzeit von Hans-Ulrich Wehlers kritischer Sozialgeschichte und den Geltungsanspruch von Niklas Luhmanns Systemtheorie zulief. Zunächst aber ließ man die Gründungsgeschichte der Bielefelder Reformuniversität Revue passieren.
"Die zentralen Merkmale waren Konzentration auf eine Forschungsuniversität, die sich auf wenige Themen spezialisierte, das heißt nicht das Spektrum der Volluniversität an Fächern mit allen Orchideenfächern erfüllt, sondern wenige wichtige Fächer, die allerdings in großer Stärke, versammelt. Zweitens war das Konzept, dass die Lehre regelmäßig unterbrochen wird von Forschungsjahren - ein Jahr Forschung, ein Jahr Lehre. Und drittens ein ideales Betreuungsverhältnis von einem Professor auf 30 Studenten."
Der Koblenzer Soziologe Clemens Albrecht konstatierte im Einführungsvortrag, dass das Konzept seines 1984 verstorbenen Kollegen Helmut Schelsky, Gründungsvater der Bielefelder Universität, alsbald von der Ministerialbürokratie konterkariert wurde. Aus dem geplanten Maximum von 3500 Studenten wurden gleich zu Beginn 10.000. Und die 68er Protestbewegung gab mit der Politisierung der Hochschulen Schelskys Reformansatz den Rest. Aber, so Albrecht, der Keim des Verfalls steckte bereits in Schelskys sozialtechnischem Ansatz. Der führte zum Bielefeld-Syndrom.
"Das Bielefeld-Syndrom ist der vorauseilende Gehorsam gegenüber den Begriffen, die man sich von der sozialen Realität gemacht hat. Wir haben eine ganze Menge von normativ aufgeladenen Begriffen wie zum Beispiel 'die moderne Zivilisation', 'die Wissensgesellschaft' und andere Begriffe dieser Art. Das sind alles typologische Verdichtungen der Realität, aber wenn wir unser Handeln dann an ihnen ausrichten und fragen: Wie müssten wir denn Institutionen wie eine Universität ausrichten, damit sie in eine technische Zivilisation passt, dann richten wir unser Handeln eben an den Vorstellungen aus, die wir von der sozialen Realität hatten. Und das nenne ich das Bielefeld-Syndrom."
Das Bielefeld-Syndrom wirkt bis heute fort - zum Beispiel im sozialtechnologischen Gebastel der bildungsministeriellen Exzellenz-Initiative oder der so genannten Gesundheitsreform. Gleichwohl gelang in den 70er Jahren auf der freundlichen Dauerbaustelle am Rande des Teutoburger Waldes die Errichtung eines akademischen Leuchtturms. Dafür stehen die Namen illustrer Akademiker: die Historiker Reinhart Koselleck und Hans-Ulrich Wehler, der Soziologe Niklas Luhmann, der Pädagoge Hartmut von Hentig und der Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Bohrer. Ihr Wirken in der ostwestfälischen Provinz wurde auf der Tagung in Weimar bespiegelt, gelobt und kritisiert, vom System der legendären luhmannschen Zettelkästen bis zu Bohrers wütenden Ausfällen gegen die ästhetische Provinzialität des Politikstils der Ära Kohl. Das mittlerweile in kulturwissenschaftlichen Kreisen übliche Wehler-Bashing mit seinen Invektiven gegen die angeblich graue Theorie der Sozialgeschichte Bielefelder Prägung stand nach dem Muster "good guy / bad guy" neben den Elogen auf die Begriffsgeschichte von Reinhart Koselleck. Und mit dem Pädagogen Hartmut von Hentig und dem Philosophen Hermann Lübbe waren auch zwei Bielefelder Reformer der ersten Stunde zu Auskünften bereit. Beide stellten als kluge Pragmatiker knochentrockene Statements in den luftigen Raum der Ideengeschichte. Hentig fragte mit Blick auf die Bielefelder Reformfantasien: Was tut die Wirklichkeit den Ideen an? Und: Welche Macht haben die Ideen über die Wirklichkeit? - Die Antwort gab Hermann Lübbe, als Politiker wie als Philosophieprofessor an der Gründung beteiligt, jedoch schon 1973 nach Zürich enteilt:
""Die Universität Bielefeld ist eine Universität wie jede andere, allerdings eine mit erstaunlich hohem Anteil von Wissenschaftlern nationalen und internationalen erstaunlich hohen Geltungsranges. Also man kann sich, wenn man nach Bielefeld einmal gelangt, freuen, wie gut man dort studieren kann."
Auch für die Geschichte von Reformideen gilt offenbar: Sinn ist die beherzte Reduktion von Komplexität.