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Was weiß der Mensch über die Meere?

Biologie.- Beim sogenannten Zensus des marinen Lebens handelt es sich um eine Art Bestandsaufnahme der Ozeanbewohner. Die daran beteiligten Wissenschaftler haben nun 24 Einzelberichte vorgelegt. Mit welchem Inhalt, berichtet die Wissenschaftsjournalistin Dagmar Röhrlich im Gespräch mit Arndt Reuning.

03.08.2010
    Arndt Reuning: Zu Beginn der Sendung widmen wir uns den Ozeanen dieser Welt. Wir widmen uns dem Zensus des marinen Lebens. Das ist eine Bestandsaufnahme, ein Katalog der Lebewesen in den Ozeanen. Heute haben die beteiligten Wissenschaftler insgesamt 24 Einzelberichte vorgelegt - die letzte große Etappe, bevor das Projekt nun im Oktober beendet wird, nach zehn Jahren Forschungsarbeit. Fast genauso lange berichtet meine Kollegin Dagmar Röhrlich für Forschung aktuell über den Meereszensus. Frau Röhrlich, nun bei mir im Studio, vielleicht können Sie uns ein paar mehr Details darüber geben.

    Dagmar Röhrlich: Begonnen hat alles 1997, 13 Jahre ist das schon her, als an der Scripps Institution in La Jolla in Kalifornien sich Forscher trafen und überlegten, was wissen wir eigentlich über die Meere, und festgestellt haben, dass man zu beginn des 20. Jahrhunderts erstaunlich wenig weiß. Und das war die Geburtsstunde des Meereszensus, der dann drei Jahre später in Paris offiziell ins Leben gerufen worden ist. Es geht dabei jetzt nicht so sehr darum, zu sagen, es leben im Meer fünf Millionen 423.000 irgendwas, sondern es geht darum, zu schauen, welche Arten gibt es noch? Wie ist die Vielfalt? Welche Nischen gibt es? Wie sind die besetzt? Und damit hat man sich jetzt zehn Jahre lang beschäftigt.

    Reuning: Das ist also keine Volkszählung, es ist eine Art Weltatlas der biologischen Vielfalt.

    Röhrlich: Das ist eines der Ergebnisse, die dort erzielt worden sind. Man hat also regional geschaut: Wer lebt wo? Wobei die Bestandsaufnahme etwas unterschiedlich ist, so dass man diesen Weltatlas ein wenig mit Vorsicht genießen muss, weil die Forscher verschiedene Schwerpunkte hatten - man hat unterschiedliche Messmethoden eingesetzt. Aber man bekommt trotzdem schon einen Eindruck und die vielfältigsten Regionen sind Australien und Japan, dann kommt China, dann kommt das Mittelmeer und der Golf von Mexiko. Wobei das Mittelmeer nicht nur eine der vielfältigsten Regionen ist, sondern auch eine der bedrohtesten, weil dort halt ganz viele Probleme auf einmal in ein kleines Meer treffen.

    Reuning: Um das ganze vielleicht etwas aufzulockern: Haben Sie ein paar Zahlen für uns?

    Röhrlich: Ja, sicher habe ich ein paar Zahlen. Also: Es gibt ein Weltregister der Meeresorganismen, kurz Worms, im Internet auch wunderschön zu erreichen. Dort werden im Oktober 230.000 Arten stehen. Davon sind 1200 derzeit neu. Es kommen immer mehr dazu, weil ja die Arbeit weitergeht mit den Funden und weiter beschrieben wird. Aber die Forscher schätzen, dass trotz dieser doch schon beachtlichen Zahl immer noch 70 bis 80 Prozent der Arten unentdeckt sind. Und man hat auch festgestellt: Wer ist eigentlich die größte Gruppe, die artenreichste Gruppe? Da sind die Krebstiere ganz vorne, gefolgt von den Weichtieren, also Muscheln oder Schnecken, Tintenfische. Dann kommen die Fische. Damit hat man schon mehr als die Hälfte der Arten, die man festgestellt hat. Und dann kommt dieser ganze große Rest: Nesseltiere, Würmer, Stachelhäuter, Schwämme - alles mögliche. Aber das, was wir oft so sehen, die Robben, die Wale, die Schildkröten, die Seevögel, die machen nur zwei Prozent aus.

    Reuning: Also unter ferner liefen. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Projekt auch eine ganze Stange Geld gekostet hat. Was macht man denn jetzt mit diesen Daten?

    Röhrlich: Vor allen Dingen geht es darum, die richtigen Schutzzonen zu finden. Denn die Meere sind arg bedroht. Das ist glaube ich inzwischen überall bekannt. Überfischung, es gibt Klimawandel, der durchschlagen wird, es gibt Meeresversauerung, Probleme mit Verschmutzung, fremde Arten, die überall einwandern - eine ganz lange Liste von Bedrohungen. Und um das Meer zu retten, muss man überlegen, wie, wo richte ich am besten Schutzzonen ein, damit ich halt möglichst viel damit erreichen kann? Dazu wurde halt dieser Ist-Zustand aufgenommen, aber es wurde auch zurück in die Vergangenheit geschaut. Man hat festgestellt: Wann waren eigentlich die Meere noch "natürlich"? Und da hat man gesehen: Das ist schon sehr lange her. Dass die Ostsee und Nordsee überfischt waren, das war schon Anfang des 19. Jahrhunderts. Und dass das Weltnaturerbe Wattenmeer das Prädikat "natürlich" verdient hat, also nicht durch den Menschen so groß verändert, dass es begonnen wird zu zerstören, das ist 500 Jahre her. Also der Mensch greift sehr tief in die Systeme ein.

    Reuning: Es geht ja auch darum, Arten, die weite Strecken unter Wasser zurücklegen und auch wandern ... gibt es denn da besondere Einzelergebnisse zu diesen Arten?

    Röhrlich: Ja, man hat mit einem Projekt, das hieß Topp, Sensoren an verschiedene große Raubtiere des Meeres geheftet und geschaut: Wie bewegen die sich? Nach dem Motto: Wenn ich sehe, wo sind die großen Raubtiere, dann weiß ich auch, wo die Grasfresser sozusagen sind, wenn ich das jetzt aufs Land übertragen würde. Da hat man Bewegungsmuster rausgefunden und dabei auch interessante Schutzkonzepte entwickeln können. Denn es ist ja gerade, wenn es um kleine Fischerei geht den Fischern oft schwer zu vermitteln, warum sie jetzt nicht hier fischen dürfen. Je gezielter diese Sperrungen sind, umso eher werden sie befolgt. Und die Lederschildkröten sind sehr vom aussterben bedroht, die vor Costa Rica leben und dort ihre Eier ablegen. Die ziehen, nachdem sie Eier abgelegt haben, im ziemlich engen Korridor zu den Galapagosinseln und von da aus verteilen sie sich dann ins Meer, über weite Strecken hinweg. Wenn man aber diesen engen Korridor, den sie zu einer ganz bestimmten Zeit nach der Eiablage passieren, wenn man den schützt, hat man unglaublich viel getan. Und das lässt sich dann auch bei den Fischern sehr gut durchsetzen, die kooperieren. Also wirklich eine gute Idee, die daraus entstanden ist.

    Reuning: Auch sehr stark bedroht sind die Haie. Wie sieht das bei diesen Tieren aus?

    Röhrlich: Die zu schützen, wird natürlich sehr schwierig werden, weil die Haifischflosse so viel Geld bringt. Aber man hat ganz interessante Verhaltensmuster entdeckt, mit denen man überhaupt nicht gerechnet hat. Die Haie ziehen im Nordpazifik sehr regelmäßige Kreise zwischen Kalifornien und Hawaii - die schönsten Gegenden. Und dabei halten sie sich zwischendurch Mitten auf dem Pazifik auf, für ein halbes Jahr. Kein Mensch weiß warum. Da ist eine blaue Wüste. Da gibt es nicht viel Plankton, da sind auch nicht viele Fische, trotzdem bleiben sie ein halbes Jahr dort. Diesen Ort haben sie jetzt das "Café zum Weißen Hai" genannt, weil man halt nicht weiß, was sie dort tun. Vielleicht treffen sie Freunde. Männchen und Weibchen schwimmen da, tauchen 300 Meter tief, bleiben ein halbes Jahr. Kein Mensch weiß, was sie machen. Das ist das nächste Forschungsgebiet.

    Reuning: Hai Live im Unterwassercafé. Dagmar Röhrlich zum Zensus des marinen Lebens.