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Was will man mehr

Alina Ibragimova macht keine halben Sachen: Erst im Mai veröffentlichte die 24-jährige Geigerin sämtliche Werke für Violine und Klavier von Karol Szymanowski ein, nun folgen alle sechs Solo-Sonaten und -Partiten von Johann Sebastian Bach.

Von Maja Ellmenreich | 06.12.2009
    Wie viele junge Leute Anfang 20 kennen Sie, die von sich behaupten "Eigentlich bin ich sehr zufrieden mit dem, was ich mache"? Wahrscheinlich können Sie sie - wenn überhaupt - an einer Hand abzählen. Denn mit Anfang 20 hat man meist mehr Fragen als Antworten, spürt mehr Unsicherheit denn Zufriedenheit. Den richtigen Weg haben die wenigsten da schon für sich gefunden.

    Eine der Wenigen ist die Geigerin Alina Ibragimova, Jahrgang 1985. Der bemerkenswerte Satz mit der Zufriedenheit, der stammt von ihr. Und sie erklärt: "Ich kann mit Menschen musizieren, die ich sehr schätze, darf großartige Musik spielen. Was will man mehr!"

    Innerhalb von nur sechs Monaten hat Alina Ibragimova zwei neue Kammermusik-CDs vorgelegt: mit Werken von Karol Szymanowski und mit Werken von Johann Sebastian Bach. Tja, was will man mehr.

    " Johann Sebastian Bach: Tempo di borea
    aus: Partita für Violine solo Nr. 1 h-moll, BWV 1002 "

    Alina Ibragimova macht keine halben Sachen: Vor zwei Jahren spielte sie sämtliche Werke für Violine von Karl Amadeus Hartmann ein, dann die beiden Violinkonzerte von Nikolaj Roslavez.

    Das Motto "Alles oder gar nichts", das stand offensichtlich auch über den beiden Veröffentlichungen dieses Jahres: Im Mai erschienen von ihr Szymanowskis sämtliche Werke für Violine und Klavier. Und vor wenigen Wochen alle sechs Solo-Sonaten und -Partiten von Johann Sebastian Bach. Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon - das gibt es bei Alina Ibragimova nicht. So enzyklopädisch sie an das Repertoire herangeht, so gründlich bereitet sie sich auch darauf vor: Drei Monate lang ist sie mit der Musik von Johann Sebastian Bach in Klausur gegangen.

    Natürlich hat sie sich jedes Mal vor einer Aufnahme intensiv mit der Literatur beschäftigt. Doch nach Hartmann, Roslavez und Szymanowski sticht sie mit Bachs Sonaten und Partiten für Solo-Violine mitten ins Herz der Geigenliteratur und liefert sich dem Vergleich mit der Konkurrenz aus.

    Denn jedes Jahr landen gleich mehrere Neueinspielungen auf dem Plattenmarkt. Viktoria Mullova, Christian Tetzlaff, Julia Fischer, Thomas Zehetmair - sie alle haben in den vergangenen Jahren ihre Bach-Solo-Aufnahme herausgebracht. Und nun also auch Alina Ibragimova.

    " Johann Sebastian Bach: Menuett I
    aus: Partita für Violine solo Nr. 3 E-dur, BWV 1006 "

    Mit der Musik von Johann Sebastian Bach verbindet Alina Ibragimova ganz besondere Erinnerungen: Mit der Geigerin Nicola Benedetti hatte sie unter der Leitung von Yehudi Menuhin 1998 Bachs Doppelkonzert gespielt - bei den UNESCO-Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Paris. Und als Menuhin nur wenige Monate später starb, war es Alina Ibragimova, die beim Gedenkgottesdienst in Londons Westminster Abbey auftreten durfte und vor der illustren Trauergemeinde wieder Bach spielte. Da war sie 13 und studierte an der Yehudi Menuhin School in London.

    So kommt es, dass Alina Ibragimova im Register der viel beachteten Menuhin-Biografie von Humphrey Burton auftaucht: wenige Zeilen unter Vladimir Horowitz und wenige über Joseph Joachim. Das allein macht sie natürlich noch nicht zu einer genialen Musikerpersönlichkeit, aber es deutet bereits auf das außergewöhnliche Talent der Teenagerin Ibragimova hin.

    Die geniale Musikerpersönlichkeit, die zeigt sich aber jetzt: im vollkommen unaufgeregten und dennoch tiefgründigen Spiel der drei Bach-Sonaten und der drei Bach-Partiten. Von den spieltechnischen Schwierigkeiten lässt sich Alina Ibragimova nicht aus der Ruhe bringen, obwohl sie teilweise ein halsbrecherisches Tempo an den Tag legt, dass man schier fürchtet, mit den Ohren nicht mitzukommen. Im Gegensatz zu ihrem Mentor Menuhin verzichtet Ibragimova fast völlig auf Vibrato. Schlank und klar, fast kühl ist ihr Geigenton, überhaupt nicht maniriert ihr Spiel.

    Und besondere Meisterschaft beweist Alina Ibragimova im "musikalischen Multitasking", nämlich immer dann, wenn Johann Sebastian Bach die Solo-Violine wie mehrere Instrumente klingen lässt.

    " Johann Sebastian Bach: Giga (Ausschnitt)
    aus: Partita für Violine solo Nr. 2 d-moll, BWV 1004 "

    Alina Ibragimova spielt Bach - ihre neue Doppel-CD mit den sechs Sonaten und Partiten, BWV 1001-6, ist bei dem britischen Label hyperion erschienen, das 2009 sozusagen zum "Ibragimova-Kammermusik-Jahr" ausgerufen hat. Denn im Frühjahr bereits hatte man eine CD mit Werken für Violine und Klavier von Karol Szymanowski auf den Markt gebracht. Darauf zeigt sich Ibragimova von einer völlig anderen Seite: Während sie bei Bach als Einzelgängerin unterwegs ist, zeigt sie sich hier als begnadete Kammermusik-Teamplayerin, als Teil des Duos mit dem französischen Pianisten Cédric Tiberghien. Die Musik des 1882 in der heutigen Ukraine geborenen Szymanowski ist extreme Musik; und Alina Ibragimova kostet das aus. So intensiv sind Szymanowskis Werke, dass man beinahe meint, die Musik zu schmecken, zu riechen - der Hörsinn allein kann die Eindrücke kaum verarbeiten. All die Eindrücke, die Karol Szymanowski von seinen Reisen mitgebracht hatte: Nordafrika, Italien, England, USA, Kuba, Frankreich - überall hatte er Klänge aufgeschnappt und daraus, dem französischen Impressionismus folgend, vielfarbige Klangbilder gemalt.

    Szymanowskis Kopf muss voller Ideen gewesen sein: Nervös, flatterhaft, beinahe fiebrig wirkt seine Musik - so unstet wie sein Leben.

    " Karol Szymanowski: La fontaine d'Aréthuse (Ausschnitt)
    aus: Mythes, op. 30 "

    Alina Ibragimova und Cédric Tiberghien spielten einen Ausschnitt aus Karol Szymanowskis "Mythen". Ein ständiges Auf und Ab, Hin und Her. Klangfarbe, Ausdruck, Tempo, Spielweise - nichts hat Bestand. Und man würde sich nicht wundern, wenn es zum Äußersten käme, zum Kontrollverlust. Aber nichts da! Ibragimova und Tiberghien reizen zwar aus, was Instrument und Können zulassen, aber sie behalten die Oberhand.

    Das gelingt den beiden viel gefragten Musikern auch im wahren Leben: Ihre vollen Terminkalender stimmen sie so aufeinander ab, dass immer wieder Zeit bleibt für ihr Duospiel. In dieser Saison zum Beispiel führen sie sämtliche Beethoven-Violinsonaten in der Wigmore Hall in London auf, dem englischen Olymp der Kammermusik. In die britische Hauptstadt war Alina Ibragimova 1996 mit ihrer Familie gezogen: Ihr Vater, ein Kontrabassist, hatte eine Stelle beim London Symphony Orchestra bekommen. Und so verließ die ganze Familie Moskau, wo das Geigenwunderkind Alina erste Konzerte gegeben hatte, wo sie zur berühmten Gnessin-Schule gegangen war. In ihrer neuen Heimat schaffte sie wieder die Aufnahmeprüfungen an den besten Ausbildungsstätten: Yehudi Menuhin School, Guildhall School, Royal College of Music. Dazu noch Wettbewerbserfolge und Stipendien. Ganz besonders wertvoll für den Einstieg in das professionelle Musikleben war für sie die Teilnahme am "New Generation Artists"-Programm der BBC, das zahlreiche Konzerte und Aufnahmen umfasst.

    Obwohl mit 24 Jahren noch immer sehr jung, braucht Alina Ibragimova diese Art der Starthilfe nun nicht mehr: Mit ihren beiden neuen Kammermusik-CDs, mit Bach und Szymanowski, liefert sie den endgültigen Beweis, den Bonus der Nachwuchskünstlerin nicht mehr nötig zu haben!

    " Karol Szymanowski: Finale (Ausschnitt)
    aus: Sonate für Violine und Klavier d-moll, op. 9 "

    Die Geigerin Alina Ibragimova. Sie hat mit dem Pianisten Cédric Tiberghien Werke von Karol Szymanowski aufgenommen und die Bachschen Violinsonaten und -partiten eingespielt. Beide CDs sind bei dem britischen Label hyperion erschienen.

    Diskografie

    Johann Sebastian Bach: Sonatas and Partitas for Solo Violin
    hyperion CDA 67691/2
    Alina Ibragimova, Violine

    Karol Szymanowski: The Complete Music for Violin and Piano
    hyperion CDA 67703
    Alina Ibragimova, Violine
    Cédric Tiberghien, Klavier