Tropfen fallen auf eine Materialprobe. Mit bloßem Auge ist nicht viel zu sehen – ein kurzes Spritzen, das war es. Anders, wenn man das Schauspiel in Superzeitlupe betrachtet. Dann, sagt Maschinenbau-Ingenieur Kripa Varanasi vom MIT in Boston, sind selbst kleinste Details zu erkennen.
"Prallt ein Tropfen auf der Oberfläche auf, wird er zunächst flachgedrückt wie ein Pfannkuchen. Dann schnellt er wieder nach oben zurück, denn die Oberfläche wirkt wie ein Trampolin. Entscheidend dabei ist die Zeit, die dieser Prozess dauert."
Entscheidend deshalb, weil ein schlichter Zusammenhang gilt: Je knapper die Zeit, die der Tropfen Kontakt zur Oberfläche hat, umso schlechter lässt sich diese Oberfläche benetzen, und umso wasserabweisender ist sie. Beim Lotusblatt beträgt diese Zeit rund 13 Millisekunden, 13 Tausendstel Sekunden. Wenn der Tropfen das Mini-Trampolin verlassen hat, besitzt er zwar keine Tropfenform mehr. Aber er hat die Form einer Wurst, ist also ziemlich symmetrisch.
"Bislang nahm man an, dass dieses symmetrische Abprallen die kürzest mögliche Kontaktzeit liefert – einen theoretischen Minimalwert von zwölf Millisekunden. Wir haben uns gefragt, ob das nicht doch kürzer geht."
Was passiert, wenn der Tropfen nicht symmetrisch abprallt, sondern unregelmäßig? Um das herauszubekommen, behandelten die Forscher ein Stück Silizium so, dass seine Oberfläche nicht mehr glatt war, sondern mit mikroskopisch kleinen Hügelketten gespickt. Dann wurde wieder im Labor getropft. Das Resultat:
"Der Teil des Tropfens, der den Grat einer Mikro-Hügelkette trifft, prallt extrem schnell zurück. Dadurch wird der Tropfen in Stücke gerissen, die unabhängig voneinander hochgeschleudert werden. Durch diesen Trick ist es uns gelungen, die Kontaktzeit unter das theoretische Limit zu drücken, und zwar um fast 40 Prozent."
Also keine zwölf, sondern nur noch acht Millisekunden – kürzer als es die Theorie erlaubt. Die neuen Materialoberflächen versprechen lukrative Anwendungen, sagt Kripa Varanasi.
"Trifft gefrierender Regen auf eine Oberfläche, können die Tropfen nur dann zu Eis werden, wenn der Tropfen lange genug Kontakt zur Oberfläche hat. Bei uns ist dieser Kontakt so kurz, dass die Tropfen abprallen, bevor sie gefrieren. Und damit ließe sich verhindern, dass Windräder, Flugzeugtriebwerke oder Stromleitungen vereisen."
Dazu müsste man die Anlagen bloß mit geeigneten Oberflächenstrukturen beschichten. Ähnliches ist auch für wetterfeste Outdoor-Kleidung interessant. Hier könnten die neuen Oberflächen jene gesundheitsschädlichen Chemikalien ersetzen, mit denen die Jacken bislang beschichtet sind. Doch die Forscher nahmen nicht nur künstliche, sondern auch natürliche Materialien unter die Zeitlupe – das Blatt der Kapuzinerkresse und den Flügel eines Schmetterlings. Auch hier fanden sie Oberflächenstrukturen, die die Kontaktzeit der Tropfen deutlich senken. Das scheint die Kapuzinerkresse vor Vereisung zu schützen und den Falter vor dem Tropenregen. Für Kripa Varanasi steht damit fest: Lotus-Effekt war gestern. Was jetzt kommt, ist der Kapuzinerkresse-Effekt.
"Bislang war das Lotus-Blatt das Maß aller Dinge. Aber diesen Status wird es nun wohl verlieren."