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Wasserkessel auf Rädern

Um die patagonische Steppe in Argentinien zu erkunden, bietet sich eine Fahrt mit dem Patagonienexpress an. Touristen machen dabei Bekanntschaft mit deutscher Wertarbeit.

Von Ernst Weber |
    Mit großem Getöse verlässt der Patagonienexpress seinen baufälligen Schuppen. Schon von Weitem riecht die Lok ziemlich penetrant nach Öl, und der Kessel brodelt, als würde er sich gleich in seine Einzelteile zerlegen. Was kein Wunder wäre - schließlich ist der betagte Eisenhaufen, der sich gerade behäbig dem Bahnsteig nähert, schon 85 Jahre alt. Emanuel, Bahnhofsvorsteher, Schaffner und Reiseführer in Personalunion, versucht unsere Skepsis zu verscheuchen und weist darauf hin, dass man hier in Esquel, einem Städtchen im hintersten Patagonien, auf gute alte deutsche Wertarbeit aus dem Hause Henschel vertraut.

    "Nach dem Ersten Weltkrieg waren deutsche Lokomotiven die billigsten und besten, die auf dem Markt waren. Argentinien hat sich deshalb entschlossen, neben 25 amerikanischen auch 50 Henschel-Loks zu kaufen. Wesentlich dazu beigetragen hat sicherlich auch, dass deutsche Firmenvertreter sehr erfolgreich Lobbyarbeit bei der argentinischen Regierung betrieben haben. Damit will ich allerdings nicht andeuten, dass es ein schlechter Kauf war. Im Gegenteil, die deutschen Loks waren damals die besten, was Leistung und Haltbarkeit angeht, sogar besser als die amerikanischen."

    Ob die Tradition schwarzer Kassen bei der deutschen Industrie bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückreicht, konnte in Esquel leider nicht mehr eindeutig geklärt werden. Fest steht, deutsche Firmen machten damals in der patagonischen Steppe ordentlich Reibach. Denn neben Henschel kam auch Thyssen zum Zug. Die Stahlkocher aus dem Ruhrpott durften nämlich einen Großteil der Gleise liefern, auf denen der Patagonienexpress bis heute unterwegs ist.

    Die kleine Henschel-Lok und ihre schmalen Holzwaggons, die sich langsam aus Esquel hinauswinden, wirken ein bisschen mickrig, als hätte man einen ausgewachsenen Zug mit einer Spielzeugbahn gekreuzt. Um Schafe, Rinder und Menschen möglichst billig durch die patagonische Steppe zu transportieren bauten die Argentinier nämlich eine Schmalspurbahn mit nur 75 Zentimetern Spurweite.

    "Das bedeutet, dass man eine kleinere Lokomotive benutzen konnte und damit weniger Brennstoff verbrauchte. Das machte den Betrieb der Strecke rentabler. Denn bei der Planung wusste man noch nicht genau, wie sich diese Gegend wirtschaftlich entwickeln würde."

    Aufgrund der schmalen Gleise tauften die Argentinier, den Patagonienexpress "La trochita", was soviel heißt, wie "Das Spürchen". "La Trochita" sollte bei der Besiedelung der einsamen Weiten Patagoniens helfen und Ingeniero Jacobacci im Norden und Esquel im Süden miteinander verbinden. Zwar liegen die beiden Endpunkte der Strecke Luftlinie nur rund 260 Kilometer auseinander. Als die Bahnlinie aber seinerzeit entworfen wurde, wünschten viele Großgrundbesitzer, dass der Zug direkt bei ihnen vor der Haustür vorbeifährt. Deshalb schlängelten sich die Gleise schließlich auf insgesamt 402 Kilometern mit 634 Kurven durch die patagonische Steppe. Und aufgrund diverser Finanzprobleme, Streiks und strenger Winter zog sich der Bau über zwei Jahrzehnte hin:

    "1922 hat man in Ingeniero Jacobacci bei Kilometer null mit dem Bau der Schienen begonnen. Bis die 402 Kilometer bis zur Endstation fertig waren, dauerte es insgesamt 23 Jahre. Am 25. Mai 1945 fuhr der Zug dann erstmals in Esquel ein."

    Weltberühmt wurde der alte Patagonienexpress durch Paul Theroux, der eines seiner Bücher nach ihm benannte. Der amerikanische Schriftsteller saß Ende der 70er Jahre gelangweilt im winterlichen Boston herum und beschloss nach Südamerika zu reisen - und zwar ausschließlich auf der Schiene.

    In seiner Heimatstadt setzte er sich in die U-Bahn, durchquerte mit Luxuszügen und klapprigen Provinzbahnen den amerikanischen Kontinent und ratterte schließlich ein paar Wochen später mit "La Trochita", diesem "wildgewordenen Wasserkessel auf Rädern" durch die patagonische Steppe.

    "Die Gegend sah steinzeitlich aus wie ein gemalter Hintergrund für ein Dinosaurierskelett im Museum: simple, schreckenerregende Berge und Rinnen; Dornbüschen und Felsen, glattgeschrubbt vom Wind, als hätte eine große Flut alles bloßgelegt und der Landschaft sämtliche Eigenheiten abgewaschen. Der Wind ließ keine Bäume wachsen, blies den Mutterboden nach Westen, legte noch mehr Felsgestein frei und entwurzelte sogar die hässlichsten Büsche."

    Paul Theroux konnte sich mit der patagonischen Landschaft nie recht anfreunden. Heutzutage hat sich diese unwirtliche, dünnbesiedelte Gegend aber längst zu einem Traumziel stressgeplagter Großstädter entwickelt.

    Eine Reise per Zug von der amerikanischen Ostküste bis in den Süden Argentiniens, wie sie Paul Theroux in den 70er Jahren machte, wäre heutzutage nicht mehr möglich. Denn die Eisenbahn ist in den vergangenen drei Jahrzehnten in Lateinamerika ziemlich heruntergekommen. Viele Bahnlinien wurden privatisiert und so manche Strecke mangels Rentabilität gleich ganz stillgelegt. Auch von den ursprünglich 402 Kilometern, die "La trochita" früher durch die patagonische Steppe zurücklegte, sind heutzutage nur noch knapp 40 Kilometer übrig geblieben. Und statt Schafen, Rindern und Siedlern besteht die Fracht inzwischen ausschließlich aus Touristen.

    "Wir fahren heutzutage nur noch bis nach Nahuel Pan, der ersten Station der ursprünglichen Strecke. Für die 20 Kilometer lange Strecke brauchen wir rund eine Stunde. Es ginge auch ein bisschen flotter, aber dann könnten unsere Passagiere die schöne Landschaft nicht so gut genießen. In seinen besten Zeiten hat der Patagonienxpress übrigens eine Höchstgeschwindigkeit von 65 Stundenkilometern erreicht, allerdings nur bergab und mit Hilfe von Rückenwind."

    Nahuel Pan, das Ziel unserer Ausfahrt ist ein Weiler mit fünf Holzhäusern und einem Bahnsteig im patagonischen Nirgendwo. Als wir dort ankommen, bilden drei Lamas das Empfangskomitee.

    Diese Viecher machen zwar alles andere als einen unterernährten Eindruck, trotzdem stürzen sie sich sogleich auf Taschen und Tüten der Touristen. Mit Äpfeln, Butterbroten und Schokoriegeln ziehen die vierbeinigen Wegelagerer schließlich von dannen.

    Nahuel Pan hat außer ein paar verfressenen Lamas nicht viel zu bieten, und nach einer halben Stunde Aufenthalt tuckert das rollende Eisenbahnmuseum mit seiner Touristenfracht wieder zurück nach Esquel.