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Wedekinds "Lulu" an Berliner Volksbühne
Feministischer Reißbrett-Entwurf

Kann man in Zeiten von #MeToo noch „Lulu“ spielen - ein Drama, in dem die Frau nur als männliche Projektionsfläche dient? Die Volksbühne hat das Stück von Wedekind unter dieser Fragestellung auf den Spielplan gesetzt - und mit der Regie ausgerechnet einen Mann betraut. Der Erkenntnisgewinn ist gering.

Von Barbara Behrendt | 31.05.2019
Sandra Gerling und Lilith Stangenberg in "Lulu" an der Berliner Volksbühne
Sandra Gerling und Lilith Stangenberg in Stefan Puchers Inszenierung von Frank Wedekinds "Lulu" an der Berliner Volksbühne (Julian Röder)
So many things we need to unlearn" – "so viele Dinge, die wie wir verlernen müssen", singt die Musikerin Réka Csiszér, während im Schwarz-Weiß-Video Lilith Stangenberg als sexy Blondine vor King-Kong posiert. Klischierte Frauenbilder, soll das wohl heißen, die wir am besten aus dem Bewusstsein eliminieren. Stangenberg hält jetzt Namensschilder vor sich: Eva, Mignon, Katja, Lulu.
Auch leibhaftig auf der Bühne spielt sie die Projektionen und feuchten Männerträume durch: Mal ist sie die kühle Blonde, dann das schwarzhaarige Zimmermädchen, der rote knabenhafte Pagenkopf, die knapp bekleidete Tänzerin. Sie verkörpert die Femme fatale, die mit den Männern spielt. Wenn sie ihren dritten Ehemann in spe dazu bewegt, seiner Noch-Verlobten einen Abschiedsbrief zu schreiben, um stattdessen sie, Lulu, zu heiraten, heult Waldemar Kobus als dieser Dr. Schön auf allen Vieren. Lulu thront auf seinem Rücken:
"Ich schreibe Ihnen an der Seite der Frau, die mich beherrscht. Dr. Ludwig Schön." - "Oh Gott." - "Kein ,Oh Gott’. Dr. Ludwig Schön. Post Scriptum: Versuchen Sie nicht, mich zu retten!"
Anschließend führt sie ihn an einer Hundeleine fort.
Die Frau als triebhaftes, wildes Tier
Stolperfallen bietet Wedekinds Drama zuhauf. Lulus vier Ehen, ihre Untreue lassen sich noch als das Leben einer lustvollen Frau inszenieren. Schwieriger wird es, wenn Wedekind den Missbrauch durch Lulus Vater ins Spiel bringt, sie auf den Strich schickt und als Jack the Rippers Lustmordopfer enden lässt.
Als "Urgestalt des Weibes" wird Lulu von einem Zirkus-Dompteur vorgestellt, als "wahres, wildes, schönes Tier". Man muss den Text wohl als groteske Schauertragödie interpretieren, als antipsychologisches Drama. Lulu ist keine entschlüsselbare Figur, sondern ein Prinzip: Sie verkörpert die Triebhaftigkeit, die nicht gebändigt werden kann.
Eine Frau sitzt bei einem Mann auf dem Schoß.
Szene aus "Lulu" von Frank Wedekind. Auf dem Bild: Lilith Stangenberg, Jan Bluthardt. (Volksbühne Berlin / Foto: Julian Röder)
Stefan Pucher macht daraus eine mustergültige, aber ganz und gar undurchblutete Emanzipationsgeschichte. Den Mord an Lulu stellt er an den Anfang. Filmreif rollt Stangenberg blutüberströmt die schneeweiße Bühnentreppe herab. Am Ende knallen Lulu und ihre lesbische Freundin, die Gräfin von Geschwitz, dann alle Männer inklusive Wedekind ab – wie Bonny und Clyde sieht man sie danach im Video mit Pistolen durch Berlin streifen.
Musik und Videos als zentrale Elemente
Natürlich fließen die entsprechenden Genderdiskurstexte ein. Die zu Bild und Thema passende "King Kong Theorie" der Feministin Virginie Despentes etwa oder Valerie Solanas’ "Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer". Einen Anspruch auf Selbstbestimmung hat allein die Frau.
Gräfin von Geschwitz: "Ich spreche hier also als Frau, die nicht dazu taugt, die männliche Aufmerksamkeit zu erregen, das männliche Verlangen zu befriedigen und sich mit einem Platz im Schatten zu begnügen. Von daher spreche ich als nicht verführerische aber ehrgeizige Frau, angezogen vom Geld, das ich selbst verdiene, angezogen von der Macht, zu tun und zu verweigern, angezogen eher von der Stadt als von Heim und Herd."
Zentrales Element, wie immer beim Pop-Regisseur Pucher, sind Musik und Videobilder. Barbara Ehnes hat einen weißen, begehbaren Rahmen auf die Bühne gestellt, in dem vier kleinere, verschiebbare Rechtecke stecken – viele Projektionsrahmen in einem, die von Videos geflutet werden. Lulu schiebt sich lüstern Spargelstangen in den Mund oder posiert als geheimnisvolle Fremde.
Politisch korrekt - aber glatt
Wenn der Orchestergraben hochfährt und zu Klavierbegleitung frauenbewegte Erbauungssongs gesungen werden, sind das die schönsten weil belebtesten Momente.
Die grenzübergreifende Problematik von Lust, Liebe, Macht und Sinnlichkeit hat Pucher ebenfalls passgenau für den Inszenierungsrahmen zurechtgeschnitten. Die Männer spielen, wie bei Wedekind, sexbesessene Clowns, der diese Lulu auf Selbstfindungsreise haushoch überlegen ist. Wie am feministischen Reißbrett entworfen, wirkt das emanzipatorische Diskurs-Konzept: politisch korrekt aber allzu glatt ausbuchstabiert. Ein feministischer Leitartikel, eine Prüfung im Fach Gendergerechtigkeit, die Pucher brav absolviert. Über Männer und Frauen, Liebe und Begehren im wirklichen Leben kann der Abend kaum etwas erzählen.