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"Weg war das Ihmchen!"
Jan Philipp Reemtsma als Kinderbuchautor

"Alle Kinder sind ängstlich, alle Kinder entwickeln Strategien damit umzugehen", sagt der Germanist und Autor Jan-Philipp Reemtsma. Bücher seien oft ein Aktionsfeld, um die eigenen Fantasien auszuprobieren. Vielleicht wimmelt es deshalb in seinem Kinderbuch von Fantasietieren und fantastischen Ereignissen.

Jan Philipp Reemtsma und Nikolaus Heidelbach im Gespräch mit Ute Wegmann | 11.07.2020
Jan Philipp Reemtsma, Nikolaus Heidelbach und „Weg war das Ihmchen!“
Zwei Künstler und ihr gemeinsames Werk (Cover Kampa Verlag © Daniel Reinhardt, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur (Reemtsma) und © Nikolaus Heidelbach (Selbsporträt von ihm))
Jan-Philipp Reemtsma, Germanist und unter anderem Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat nach zahlreichen Sachbüchern nun ein Kinderbuch geschrieben, das der Kölner Illustrator Nikolaus Heidelbach bebildert hat.
Ute Wegmann: "Weg war das Ihmchen!" lautet der Titel Ihres Buches, zu dem Nikolaus Heidelbach die Bilder gemalt hat, erschienen vor wenigen Wochen im Schweizer Kampa Verlag. Der Verlag ordnet das Buch ein in die Kategorie Kinderbuch, in der sich ebenfalls das wundervolle Buch "Die verlorene Seele" von Olga Tokarczuk befindet. Will die Geschichte vom Ihmchen überhaupt ein Kinderbuch sein?
Reemtsma: Ja, ganz entschieden. So hat sich, nachdem ich den Titel aufgeschrieben hatte, der Text entwickelt.
Wegmann: Mit welchen Kinderbüchern sind Sie in den 1950er-Jahren groß geworden?
Reemtsma: Ach, du liebes Bisschen. Mit unzähligen. Ganz besonders schätze ich von Josephine Siebe "Das Hasenwunderland" (1910) und "Kasperle auf Burg Himmelhoch" (1922). Dazu sind die Märchen gekommen, Astrid Lindgren, Enid Blyton und und und.
Wegmann: Nikolaus Heidelbach, auch Sie Mitte der Fünfziger geboren, wer waren Ihre prägenden Kinderbuchfiguren?
Nikolaus Heidelbach: Das ist sehr schwer zu beantworten. Ich hab kürzlich erst in einer Kiste ein Buch entdeckt, das hieß "Johnny Appleseed" (Red: von Steven Kellogg) und dachte, das kenn ich doch. Das war eins der ersten Bilderbücher, die ich gesehen habe, und unsere Mutter hat uns das vorgelesen und übersetzt. Also eine amerikanische Legende von einem Typ, der überall Apfelbäume sät. Das hatte ich 40 Jahre mindestens vergessen. Da kommen später Sachen wie "Die kleine Hexe", Sempé mit seinen Kinderbüchern "Der kleine Nick" ...
Reemtsma: Die habe ich erst als Vater kennengelernt.
Heidelbach: Das reicht gerade noch.
Reemtsma: Ich möchte die Vorleseerfahrung nicht missen, die war großartig.
Heidelbach: Ja, wenn man selber lachen muss, das ist der Beweis, dass es funktioniert.
Reemtsma: Ja, so ist das.
Heidelbach: Womit wir beim Ihmchen wären, Frau Wegmann.
Wegmann: Ja, genau, damit wären wir beim Ihmchen. Zur Geschichte: Ein Junge, Kurtpeter, sucht sein Ihmchen, wohl eine Art Porsche unter den Haustieren. Ein Freund schließt sich der Suche an, Beinelars, sowie das Mädchen Linse, eine adoptierte Waise aus Korea. Auf der gemeinsamen Suche begegnen sie verschiedenen ungewöhnlichen Menschen (Höllenköchin mit Sohn Der Schlimme Urs) und ebenso ungewöhnlichen Tieren (Überdimensionalkrokodil), geraten in Gefahr, ins Dunkel und schließlich in das Haus der Ihmchenfängerin. Der Geschichte droht ein wirkliches Unhappy-End, aber da reißt der Autor das Ruder herum. Wir haben also jede Menge Fantasietiere wie Vernutzel und Grätschen, den Siselbaum, fantastische Ereignisse, Geschichten in der Geschichte (Froschkönig neu erzählt). Ein Mix aus Märchen und Fantasy?
Reemtsma: Ja, mit dem Wort Fantasy fremdel ich ein bisschen. Nennen wir sie doch Märchen.
Glückliche Findungen
Wegmann: Nikolaus Heidelbach, die Geschichte gibt gleich mit Wortneuschöpfungen, Bezeichnungen für Tiere, den besonderen Ton vor. Kurtpeter, ein Junge von vielleicht zehn oder elf Jahren, immer ein bisschen genervt, wenn Erwachsene ihm Sachen sagen, die er schon weiß. Anfangs erfahren wir einiges über ihn, er wird aber im Laufe der Suche immer eintöniger, während die Abenteuer bedrohlicher werden. Wussten Sie sofort, dass Sie das bebildern wollen?
Heidelbach: Ja, ich habe den Text bekommen. Ich war sehr neugierig. Der Text war angekündigt von Bernd Rauschenbach von der Arno Schmidt Stiftung. Der sagte: Hier gibt es einen Text von Jan Philipp Reemtsma. Ob ich den lesen will. Und er hatte mich nach einer Seite. Das kann ich mit gutem Gewissen sagen. Da ist ein Ton, eine Nähe, eine Nähe zu kindlicher Freude, zu kindlicher Angst, zu kindlichen Befindlichkeiten, die mich sofort überzeugt hat. Dann kam noch etwas Zweites hinzu: Dass Jan Philipp Reemtsma mit Findungen nur so um sich schmeißt. Das hört in dem ganzen Buch nicht mehr auf, dass er glückliche Findungen hat. Sie haben eben schon so beiläufig gesagt, der Freund heißt Beinelars, da müssen sie erstmal draufkommen, ein Kind so zu nennen. Ich erzähl das deshalb so ausführlich, weil das dem Illustrator den Weg ganz leicht macht. Auf jeder Seite sind zwei bis vier Sachen, wo man denkt, die kann ich machen, muss ich aber nicht. So habe ich mich durch das ganze Buch gehangelt, erstmal frei lesend, und beim zweiten Mal hat schon die Bilderproduktion angefangen.
Wegmann: Was war für Sie die spannendste Figur und die größte Herausforderung?
Heidelbach: Das ist ganz klar, der böse Urs. Vielmehr Der Schlimme Urs. Das Problem, was da entsteht, ist im Gegensatz zu einem Teufel oder der Höllenköchin, ganz klar: Wenn ein Kind Der Schlimme Urs heißt, dann verlangt der kindliche Leser: Das will ich sehen. Gleichzeitig wissen wir, das die Bösen nicht immer so aussehen, darauf habe ich einen ganzen Tag verwendet, sehr viele Skizzen gemacht. Und dann irgendwann ist mir der Killer eingefallen, den John Travolta in "Pulp Fiction" spielt, und dann hatte ich die Frisur. Und das war die halbe Miete. Dann musste ich noch zwei Wochen zittern, bis Herr Reemtsma vorbeikam. Und als er gesagt hat: Oh ja, der ist schlimm. Da wusste ich: Wunderbar, wir haben es.
Reemtsma: Ich war selber neugierig, wie er das macht, denn ich beschreibe ihn ja gar nicht. Also die vorkommenden Frauen, die kriegen so Attribute, die sind alle irgendwie ganz hübsch, aber beim Schlimmen Urs wusste ich auch nur, dass er schlimm ist. Und dann habe ich das Bild von Nikolaus Heidelbach gesehen und dachte: Oh ja, der ist wirklich schlimm.
Der Angstabwender
Wegmann: Und wir verraten jetzt nicht, wie er aussieht, das müssen sich die Leute selber anschauen, ins Buch gucken. Jan-Philipp Reemtsma, die Suche nach dem Ihmchen vollzieht sich auf der stark dialoglastigen Handlungsebene. Diese drei Kinder haben einen regen Austausch. Aber ein wichtiges Thema durchzieht die Geschichte: Das Thema Angst. 1. Devise: Weglaufen! Und wenn man das nicht kann? Was dann? Für eine solche Situation haben Sie etwas erfunden: den Angstabwender. Das Verrückte: Man weiß nie, ob er funktioniert. Und wenn ja, funktioniert er nur einmal. Das heißt: Man kann ihn nicht ausprobieren. Es gibt einen Schlüsselsatz: "Es gibt immer was, das man stattdessen machen kann."(S.50). Sie haben einmal gesagt, sie waren ein ängstliches Kind. Inwiefern hat das Thema mit Ihrer Geschichte zu tun?
Reemtsma: Eigentlich gar nicht. Also, das mit dem ängstlichen Kind, das spukt so durch die Interviews. Man sagt mal unvorsichtigerweise was, und das wird dann für den Rest des Lebens einem zurückgespielt. Alle Kinder sind ängstlich, aus gutem Grund. Es gibt einen Grundrealismus bei Kinder, die wissen ja von vorneherein: Ich bin kleiner als die anderen. Ein Kind weiß, es kann auf den Schrank gesetzt werden und Ähnliches. Also, es gibt ein, im Gegensatz zum Urvertrauen, das immer behauptet wird, ein Urmisstrauen. Und wenn man es als Kind gut hat, dann kann das überspielt werden durch Gewissheiten: Bestimmte Sachen werden nicht passieren. Aber man kann nie ganz sicher sein. Alle Kinder sind ängstlich, alle Kinder entwickeln Strategien damit umzugehen. Und Bücher sind häufig ein Aktionsfeld, um die eigenen Fantasien auszuprobieren. Ganz klassisch die Märchen.
Der Inbegriff der "Freiheit des Menschen"
Wegmann: Es gibt ja den Schlüsselsatz: "Man kann alles stattdessen machen" – darin liegt die Freiheit der Möglichkeiten, heißt das, man muss ins Handeln kommen, um die Angst zu überwinden?
Reemtsma: Das ist doch überhaupt ein interessanter Gedanke: Was immer wir tun, man kann auch was anderes machen. Stattdessen. Das ist der Inbegriff der Freiheit des Menschen. Das ist, wenn Sie so wollen, Sartre, wenn wir philosophisch miteinander werden wollen. Aber ist auch ziemlich egal. Man kann immer was stattdessen machen. Gut, sich das manchmal ins Gedächtnis zu rufen, mit Angst hat das gar nicht so viel zu tun.
Heidelbach: Wir haben es hier mit einem Autor zu tun, der sich nicht nur um Angst kümmert, sondern um die Gegenmittel auch und das auf höchst subtile Art. Das hab ich durchaus erst beim zweiten Lesen gemerkt. Es gibt eine Figur mit Namen Inge Rölling, die wird vorgestellt, dass sie Holzohrringe hat. Und dann kommen die beiden Jungs zu ihr ins Haus, und da nimmt sie unvermittelt die Holzohrringe ab: Hier, die sind aus Kraftholz, hat mir mein Mann mitgebracht. Und dann legt die die auf den Tisch, nimmt aus der Schublade einen Hammer und dengelt wie blöd auf die Ohrringe ein und sagt: Da, nicht kaputt zu kriegen. Sind eben aus Kraftholz. Beim zweiten Mal Lesen merkt man, dass damit ein Grundton angeschlagen ist: Es wird nichts passieren. Genau wie die Holzohrringe sind die Kinder nicht kaputt zu kriegen. Und sie werden stark darauf getestet. Und wenn ich das sagen darf: Ich schätze Autoren außerordentlich, die so etwas in Texte einbauen, eine Versicherung: Macht euch keine Sorgen, wir gehen jetzt einen ziemlich gefährlichen Weg, aber es wird gut gehen. Das finde ich sehr schön.
"Am Ende sind wir glücklich"
Reemtsma: Ich höre Ihnen zu gerne zu. Möchte schon deshalb auch gar nicht widersprechen. Aber auch, weil Sie vollkommen recht haben. Es gibt vom klassischen Märchen her eine Selbstverpflichtung zum guten Ende. Und die Märchen haben das durch ritualisierte Anfänge. Drei Königssöhne, der dritte ist ein Dummling, und wir wissen, der dritte wird zum Schluss gewinnen. Das wissen wir, weil wir Märchen kennen. Und herrlich, es kann passieren was will, es nimmt uns an die Hand. Das habe ich hier nicht, weil ich nicht in einem klassischen Genre operiere. Sie haben recht, irgendwie muss im Text das immer deutlich werden: Egal, was passiert, am Ende sind wir glücklich.
Wegmann: Das ist ein tolles Bild mit den Ohrringen. Würden Sie uns den Anfang lesen?
Reemtsma: Ich mache das, obwohl der Anfang hat einen Anfang vor dem Anfang, der stammt von Nikolaus Heidelbach. Es ist, darauf hat mich jemand aufmerksam gemacht, das erste Buch der Weltliteratur, das mit einer Fußnote beginnt. Wir sehen ein Tier, das nicht besonders hübsch ist, hinter einem großen W, und es hat auf Schwanzhöhe ein Sternchen, und dann kommt eine Fußnote. Herr Heidelbach, übernehmen Sie.
Heidelbach: "Nein, das ist kein Ihmchen. Das ist ein Vernutzel."
Reemtsma: Damit fängt das Buch also an und weiter geht es so:
"Weg war das Ihmchen! Nicht zu sehen, hier nicht und da nicht. Kurtpeter war ganz verzweifelt.
 Er lief zu seinem Vater, aber der sagte nur: »Da musst du halt suchen!«, und seine Mutter sagte dasselbe. Sein Großvater murrte nur: »Früher hatten wir keine Ihmchen. Wir wären froh über ein Vernutzel gewesen, aber heute ist man sich dafür ja zu fein. Ihmchen, sowas, und nun ist es weg. Siehste halt nach!«
Kurtpeter ging raus, in den Garten. Weit und breit kein Ihmchen, und schon gar nicht sein Ihmchen. Aber das wusste er ja, er hatte doch schon längst nachgeschaut. Natürlich saß eine Grätsche auf dem Rasen. Um diese Jahreszeit gab es viele Grätschen; niemand mochte sie, aber sie saßen überall herum. Klar, dass das Ihmchen nicht in der Nähe war. Auch Ihmchen mochten keine Grätschen. Kurtpeter scheuchte die Grätsche weg, und die tappte empört einen Siselbaum hinauf. Das Ihmchen jedenfalls war weder zu sehen noch zu hören.
Kurtpeter rief nach dem Ihmchen, so laut er konnte. Nichts kam, kein Ihmchen. Ich muss es suchen, sagte sich Kurtpeter. Kurtpeter suchte nicht gern, sowieso nicht, und besonders ungern, wenn er dazu weit weg musste. Er hatte mal einen Ball ganz weit weg geschossen und nicht gesehen, wohin genau. Er war dann zu den Nachbarn gegangen und hatte gefragt, ob er bei ihnen seinen Ball suchen dürfte. »Na klar, such nur«, hatte der Nachbarvater gesagt, und sein Sohn, Hinz, hatte ihm dann beim Suchen zugesehen, war immer mitgegangen, und wenn Kurtpeter unter den Bieselsträuchern gesucht hatte, hatte ihm Hinz zugesehen, wie er unter den Bieselsträuchern suchte, und das mochte Kurtpeter nicht. Aber schließlich hatte Kurtpeter seinen Ball gefunden, hatte sich bedankt, »Gut, dass das vorbei ist!« gedacht und war wieder nach Hause gegangen. Sollte er jetzt rübergehen und fragen, ob das Ihmchen vielleicht bei ihnen im Garten sei und ob er mal nachsehen dürfe? Ja, was sonst?
Ging Kurtpeter also rüber, fragte – »Na klar, sieh nur nach!« und: »Hi-hinz, Kurtpeter ist da, sein Ihmchen ist weg, hast du sein Ihmchen gesehen?« Hatte Hinz nicht. Und der blöde Nachbarvater sagte: »So ein Ihmchen läuft leicht weg, da musst du immer aufpassen!« Jaha.
Kurtpeter ging auf die Straße. Nach links oder nach rechts? War im Grunde egal, es ist immer egal, wohin man geht, wenn man was sucht, denn wenn man wüsste, wo man suchen sollte, hätte man das, was man sucht, ja schon beinahe gefunden und bräuchte bloß hinzugehen. Also ging er nach links. Da war auch der Stand der Kürbisbäckerin, die Straße runter, und Kurtpeter suchte in seiner Hosentasche nach ein bisschen Geld. Die Kürbisbäckerin hatte Kürbiskirschtaschen, seine Mutter konnte nie so gute backen, aber vertrödelte er nicht seine Zeit, wenn er sich jetzt eine Kürbiskirschtasche kaufte, statt nach seinem Ihmchen zu suchen? Na, er konnte doch beim Weitersuchen essen.
Es war eine mittlere Kürbiskirschtasche, und so aß und ging er eine Weile. Immer weiter und weiter die Straße runter. Kurtpeter mochte diese Straße nicht so richtig – links runter mochte er sie nicht so richtig, rechts runter war sie zwar auch nicht so toll, aber links runter wurden die Häuser nach einer Weile so komisch. Sie hatten irgendwie doofe Farben. Und die Fenster waren auch doof, warum eigentlich? Einmal, weil man nie reinsehen konnte. Entweder waren Vorhänge davor, oder die Sonne spiegelte sich in den Scheiben, oder wenn keine Sonne war, waren die Scheiben trübe.
»Ich kann ja mal näher rangehen«, dachte sich Kurtpeter. »Mal sehen, was die so in ihrem doofen gelben Haus haben.«
Die Vorhänge waren zu, fast zu, ein kleiner Spalt war da, und Kurtpeter guckte rein. Einen Tisch sah er, drei Stühle und hinten sowas wie einen großen Eimer. Und an der Wand eine halbe Uhr. Was macht man denn mit einer halben Uhr?"
Wegmann: Das war der Anfang von "Weg war das Ihmchen!" von Jan Philipp Reemtsma und Nikolaus Heidelbach, die beide heute Gäste im Büchermarkt sind. Sprechen wir über Sprache: Da mischt sich Neugeschöpftes mit Umgangssprachlichem (Krokodil kackt die Kinder wieder aus) und Dialektalem (Heldenhugo ist eigentlich ne "Bangbüx" = ndt. Angsthase) und von der "Schnüß" ist die Rede, rheinisch Mund, oder Beinelars Eltern mit ihrem Sprachfehler aus "G" "J" zu machen und umgekehrt, ein Kölsches Phänomen. Der Satzbau kommt zuweilen ohne Subjekt aus. Aber beginnen wir beim Titel: Wäre es denkbar gewesen, dass das gesuchte Wesen ein Ihrchen ist? Oder woher kommt die Neuschöpfung?
Neugeschöpftes und Dialektales
Reemtsma: Das Ihmchen kommt, so wie ich es angefangen habe, nirgendwo her. Es gibt ein englisches Lied, das heißt "Pop goes the weasel" (Red: Anthony Newley), das ist sehr hübsch, diese Melodie hatte ich im Kopf. Ich dachte, ich hätte den Namen erfunden. Aber das ist nicht wahr, es gibt so etwas im weiteren Berlinerischen Sprachraum. Ihmchen ist etwas kleines Unbedeutendes, das passt ja nachträglich auch wieder.
Wegmann: Na ja, bei Ihnen ist es doch etwas Bedeutendes.
Reemtsma: Für den kleinen Jungen.
Wegmann: Ist denn Ihr Buch in seiner Schrägheit (das meine ich absolut positiv), in kühnen Satzbauten und Assoziationsketten der Figur denkbar ohne von Arno Schmidt?
Reemtsma: Das weiß man in seinem Leben nie, was denkbar ist im eigenen Leben ohne dass, was man im Leben erlebt hat. Aber es ist ja nicht so, dass ich in einer Schmidtchen Art und Weise Vokabel zu bilden oder Sätze zu machen, mich orientiert hätte. Das ist schon was ganz Anderes. Aber in einem Leben kommt alles zusammen, was man im Leben gemacht hat.
Vertrautes wird fremd
Wegmann: Nikolaus Heidelbach, Sie haben ebenfalls einen "Arno" in Ihren Büchern: "Arno und die Festgesellschaft". Eine nicht minder verrückte Geschichte über einen Geburtstag, den eine Gesellschaft für einen Siebenjährigen ausrichten soll. Sind Sie auch Schmidt Fan? In Herrn Reemtsmas Buch taucht ja Arno Schmidt auch wirklich auf (Erwähnung auf Seite 47 bei einer Diskussion um blöde Namen).
Reemtsma: Auch Helmut Schmidt. Und Luisa Schmidt, die ich persönlich kenne.
Heidelbach: Ja, mein Name hat auch was mit Arno Schmidt zu tun, aber diese Dinge sind völlig unabhängig voneinander entstanden, also das Ihmchen hier und mein Buch vor Jahren. Ich würde gerne noch auf was ganz anderes hinweisen: Wie wir am Anfang sehen konnte, und vielleicht kommen wir da doch auf eine Ähnlichkeit zu Arno Schmidt, was Jan Philipp Reemtsma macht, ist ein Sprachgebilde herstellen, das mit Fremdheit arbeitet. Und der Effekt, der entsteht, dass das Vertraute ebenfalls fremd wird. Eine Seite weiter taucht plötzlich ein völlig normaler Hund auf und bis dahin hat er es geschafft, dass wir diesen Hund mit fremden Augen sehen. Das heißt, wir hätten eher mit einer Grätsche gerechnet als mit einem Hund. Derselbe Effekt kommt später nochmal, dass Kurtpeter in eine Wohnung schaut, und da liegt nur eine Katze, und plötzlich guckt diese Katze unglaublich fremd zurück. Diese Grundstimmung ist durchs ganze Buch vorhanden, und macht dann auch den Schluss verständlich, dass man denkt, das glaube ich dann auch, dass es diese Wendung gibt. Und man hat den Eindruck, rückwärts, man hat eine komplett freischwebende Welt vorgeführt bekommen. Mit bekannten Dingen, die sich in unbekannte verwandeln und mit unbekannten, die einem immer vertrauter werden. Ich habe schon gesagt, mir hat das sehr gefallen.
"Gott ist nicht richtig im Oberstübchen"
Wegmann: In der bekannten Welt gibt es einen Gott, der wohnt im Oberstübchen von Inge Rölling, der Ziehmutter von Linse. Kurtpeter sagt: Gott weiß alles. Linse sagt: Gott weiß nix, der kommt ja nie raus. Wie kommt denn Gott in die Geschichte?
Reemtsma: Irgendwann ergab sich das einfach, dass man sagt: Gott weiß, wo das Ihmchen ist. Das war die Anschlussstelle. Und dann wollte ich gern die Formulierung "Gott ist nicht richtig im Oberstübchen" unterbringen. Da musste ich dann dranbasteln, damit die Formulierung plausibel wird. Ich musste also Gott richtig in ein Oberstübchen setzen, und mir ausdenken, was er da eigentlich so macht.
Wegmann: Und Nikolaus Heidelbach hat einen weißhaarigen und weißbärtigen Gott geschaffen, aber modern geschoren, trägt T-Shirt und raucht Zigaretten. Ein in seiner ganzen Haltung, ja ist er lässig oder phlegmatisch?
Heidelbach: Ich finde, dass er eher ein kleines bisschen eingeschränkt aussieht. Und die Welten, die er entwirft, sind ja auch flach. Mir kam es auf etwas anderes an, was Herr Reemtsma schon deutlich gesagt hat: Gott entsteht hier aus einer Redensart. Und das gibt es beim Gegenbild beim Teufel. Wer den Teufel an die Wand malt, muss damit rechnen, dass er erscheint. Das hat mir sehr gefallen. Was Kinder sofort verstehen. Das ist eine Art Sprachzauber. In dem Moment, wo ich etwas benenne, muss ich damit rechnen, dass es da ist. Und wenn es heißt: Gott weiß, wo das Ihmchen ist, kann das kein bedeutender Typ sein, sondern der sitzt oben im Oberstübchen von Inge Rölling und prokelt vor sich hin. Es gibt übrigens religiöse Debatten die von großer Komik sind, weil die Kinder überhaupt keine Hemmungen haben, über diesen Gott ganz normal zu reden.
Wegmann: Mir ist noch aufgefallen, das Essen eine große Rolle spielt. Da gibt es Hunderkornbrot, Lavendelgelee, Tausendsprudelwasser. Vor allem Kürbis. Kürbiskirschtaschen, Kürbishimbeerecken – was haben Sie mit dem Kürbis?
Reemtsma: Keine Ahnung, ich ess gar nicht gerne Kürbis. Aber Sie haben natürlich gar keine Ahnung, genau so wenig wie ich, wie Kürbis als Backwerk geht. Ich habe das so hingeschrieben, mir gefiel einfach das Wort "Kürbiskirschtasche". Ich mochte das Wort, und dann wurde der Kürbis zu einer Art Leitmotiv oder Running Gag, der kommt immer wieder vor.
Eine gewisse "Altmodischkeit"
Wegmann: Kürbiskirschtasche ist ein wunderbares Wort. Und Nikolaus Heidelbach, wie schön, das letzte Bild: Kurtpeter, der mir gewachsen erscheint, hält liebevoll das kleine Etwas, das Ihmchen, an seinen Hals, die Augen geschlossen im Glück. Augen: Was hat es auf sich mit dem Vor- und Nachsatz und all diesen teils schläfrig wirkenden, wachen teil fantastischen Augen?
Heidelbach: Das Buch handelt von einer Suche, und man sucht mit den Augen. Dann wäre für mich die Aufgabe gewesen, aus Augen ein Muster zu machen. Das andere ist, dass ich in dem ganzen Buch eine gewisse Altmodischkeit, wenn es das Wort gibt, empfunden habe, und deshalb habe ich um die Augen Messingringe gemacht. Und um dem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dass die Geschichte gut ausgeht, gibt es unanständig viel vierblättrigen Klee auf dem Vorsatzpapier. Wenn Kinder zehn Jahre später denken: Der Zeichner hat sich was dabei gedacht, um so schöner, muss man aber nicht.
Wegmann: Was sagt Beinelars Onkel, von Beruf Grammtikverbesserer und Ausspracheaufpasser: "Es gibt so viel Falsches in der Welt, lasst uns das Richtige mehren!" In diesem Sinne: Das war der Büchermarkt mit Jan Philipp Reemtsma und Nikolaus Heidelbach.
Wir sprachen über:
Jan Philipp Reemtsma und Nikolaus Heidelbach (Illustration): "Weg war das Ihmchen!"
Kampa Verlag (Zürich), 141 Seiten, 28 Euro