Die Nachricht schlug ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Alle Umfragen hatten in den Wochen zuvor eine deutliche Mehrheit gezeigt. Am späten Abend des 2. Juni 1992 aber war klar: Die Dänen hatten den Vertrag von Maastricht abgelehnt. 50,3 Prozent der abgegebenen Stimmen zeigten ein "Nej”, 49,7 Prozent ein "Ja”!
46.000 Stimmen Unterschied – knapp, gewiss! Doch es reichte aus, um eine Welle des Schocks durch Dänemark, durch Europa zu schicken. Dem dänischen Außenminister und Pro-Europäer, Uffe Ellemann-Jensen, stand die Niederlage ins Gesicht geschrieben:
Ich bin enttäuscht, daraus mache ich gar keinen Hehl. Vor allem aber mache ich mir Sorgen über die Situation in unserem Land. Denn das wird nicht leicht. Natürlich müssen wir – zusammen mit unseren europäischen Partnern – untersuchen, wie es weiter gehen kann. Aber wahrlich: Einfach wird das nicht!
Ratlosigkeit machte sich breit im politischen Leben Dänemarks. Alle Parteien – mit Ausnahme des rechten und linken Randes – hatten ihren Wählern empfohlen, für Maastricht, und somit für die weitere europäische Integration zu stimmen.
Nun taten sich Gräben auf: Zwischen Ja- und Nein-Sagern einerseits, zwischen der Bevölkerung und ihren politischen Vertretern andererseits. Wie sollte es weiter gehen? Natürlich, so betonten alle Seiten, gelte es, das Ergebnis der Volksabstimmung zu respektieren. Allein, wie es zu interpretieren sei, darüber gingen die Meinungen auseinander. Dass die dänische Volksabstimmung den Prozess der europäischen Integration aber stoppen, gar beenden werde, solchen Vorstellungen erteilte die dänische Regierung eine klare Absage. So der konservative Ministerpräsident Poul Schlüter am 18. Juni im dänischen Parlament, dem Folketing:
Dänemark kann einen Weg wählen, der den Anfang vom Ende der Unions-Zugehörigkeit bedeutet. Das können wir; das ist eine ehrliche Sache; dann müssen wir uns zu diesem Weg bekennen und die Konsequenzen tragen. Doch möchte ich alle Mitglieder des Folketing bitten zu begreifen: Der Prozess der europäischen Integration wird dadurch nicht gebremst.
Im Laufe des Herbstes wurde der so genannte "Nationale Kompromiss” ausgehandelt. Der Folketing beschloss vier Ausnahmeregelungen: zum Euro, zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, zur Innen- und Justizpolitik. Sie wurden zunächst von den EU-Staats- und Regierungschefs, im Mai 1993 dann auch von der dänischen Bevölkerung akzeptiert. Dänemark kehrte, wenn auch eingeschränkt, zur europapolitischen Normalität zurück.
Doch noch ein weiterer Prozess nahm im Frühjahr 1993 seinen Lauf. Ausgerechnet die Dänen standen – Ironie der Geschichte – inmitten aller innen- und europapolitischen Kontroversen an der Spitze der Gemeinschaft. Und ausgerechnet von der Ratspräsidentschaft Dänemarks sollte ein Zeichen ausgehen für die Zukunft des Kontinents. Auf seinem Gipfel im Juni beschloss der Europäische Rat die sogenannten "Kopenhagener Kriterien”: Voraussetzung für die Aufnahme eines Staates in die Europäische Union sind seitdem eine rechtstaatliche Demokratie, die die Menschenrechte achtet und Minderheiten schützt, eine funktionierende Marktwirtschaft und die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes, des Acquis communautaire. Gewiss, nur ein Anfang; doch der Prozeß der EU-Osterweiterung war angestoßen! Und, geht es nach dem Willen zumindest der dänischen Regierung, soll er am Ende der heute beginnenden Ratspräsidentschaft des Landes auch vollendet werden.
Zum sechsten Mal seit seinem Beitritt 1973 übernimmt Dänemark heute den Vorsitz in der EU. Noch nie aber war die Anspannung so groß; in den Ministerien, in den Medien – überall ist sie zu spüren. Von Kopenhagen bis Kopenhagen – immer wieder ist dieses Motto zu hören und zu lesen. Begeleitet wird es von der Frage, ob Dänemark, das kleine Dänemark, mit seiner erst seit einem halben Jahr amtierenden Regierung diese Aufgabe bewältigen kann? Im dänischen Außenministerium jedenfalls hat man keine Zweifel, welches Thema die Beamten bis Ende des Jahres primär beschäftigen wird. Kim Jørgensen, außenpolitischer Koordinator:
Das zweifellos wichtigste Thema wird die EU-Osterweiterung. Das ist die mit Abstand größte Herausforderung der kommenden sechs Monate. Diese Aufgabe muss bis zum Dezember gelöst werden, das haben die EU-Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel von Laaken im vergangenen Jahr erneut bekräftigt. Das ist der wichtigste, größte und mit Sicherheit schwierigste Punkt der dänischen Ratspräsidentschaft.
Sicher, fügt Jørgensen hinzu, stünden auch andere wichtige Themen auf der Agenda: Die Fortsetzung des Kampfes gegen Terror, Kriminalität und illegale Zuwanderung; die Evaluierung der gemeinsamen Agrar-Reform sowie der Fischereipolitik, um nur die wichtigsten zu nennen. Die EU-Osterweiterung aber sei von historischer Bedeutung. Und deshalb, so der dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen, habe sie absolute Priorität:
Ich kann nicht anders, als daran denken, dass die Menschen in Osteuropa die kommunistischen Tyranneien vor zwölf Jahren auf den Schrotthaufen der Geschichte geworfen haben. Jetzt schulden wir ihnen, unseren Teil beizutragen – nämlich, ihnen die Möglichkeit zu geben, Teil einer Gemeinschaft zu werden, die ihre Zukunft sichern kann – demokratisch, ökonomisch und sozial. Ich bin aber optimistisch. Die Einsicht wächst, dass wir hier die historische Möglichkeit in der Hand halten, Europa zu vereinen und die Grundlage für dauerhaften Frieden, für Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in unserem Teil der Welt zu schaffen. Nein, diese Chance, die dürfen wir einfach nicht vertun.
Eine Grundhaltung, die Bertel Haarder, der dänische Europaminister, teilt. Auch er appelliert an alle Beteiligten, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um eine Entscheidung über die Erweiterung bis zum Ende des Jahres zu ermöglichen. Sollte das nicht gelingen, drohe ein Verlust von Stabilität und Vertrauen – in Ost wie West:
Das wäre ein fürchterlicher Verlust von Prestige, vor allem: Dynamik. Die Regierungen der Bewerberstaaten stünden ja in einer ganz verzweifelten Situation, wenn sie, nachdem sie ihren Parlamenten und Bürgern jahrelang gesagt haben, wir müssen die Reformen vorantreiben, um die Aufnahmekriterien bis zum Gipfel von Kopenhagen rechtzeitig zu erfüllen, nun zurückkehren müssten, nur um zu verkünden: Nein, es hat nicht geklappt, die Sache ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Und ähnliches gilt für die EU-Staaten selbst. Auch hier müssen sich die Bürger fragen: Sind wir überhaupt noch handlungsfähig? Aber an solche Szenarien will ich jetzt gar nicht denken, auch nicht an die Volksabstimmung in Irland. Wir hoffen, ja wir beten, dass alles gut gehen wird.
"Wir beten, dass alles gut gehen wird” – überzeugt, ja optimistisch klingt das nicht. Vielleicht aber steckt darin eine leise Vorahnung, dass die Größe der Probleme den Willen einiger EU Staaten, sie zu lösen, derzeit übersteigt.
"EU erstarrt vor Erweiterung vor Erlahmung”, kommentierte der Züricher Tages-Anzeiger das Treffen des Europäischen Rates in Sevilla. Nicht zuletzt dieser Gipfel machte erneut deutlich, wie viele Hürden es in den kommenden Monaten noch zu nehmen gilt – allen voran die Einigung über die künftige Verteilung der Agrar- und Strukturfonds. Doch so schwerwiegend die Probleme auch sein mögen: Am Zeitplan, so der dänische Ministerpräsident Rasmussen, werde sich nichts ändern:
Das ist ein sehr ambitionierter Zeitplan: Bis Ende September wollen wir alle Probleme gelöst haben, die nicht mit Haushalt und Finanzen zu tun haben; im Oktober, spätesten Anfang November widmen wir uns den Agrar- und finanziellen Fragen; und auf dem Gipfel in Kopenhagen im Dezember müssen wir die politischen Probleme lösen – zum Beispiel die Zypern-Frage, das künftige Verhältnis zu Russland und den EU-Anrainerstaaten.
Hinzu kommt, dass Deutschland am 22. September wählt. Bis dahin, so weiß man, wird in den entscheidenden Punkten nicht viel passieren. Und auch danach will eine Regierung, welcher Couleur auch immer, erst einmal gebildet werden. Zwar zeigt man sich in Kopenhagen überzeugt, dass auch für eine Regierung Stoiber das Wort des jetzigen Kanzlers, die Erweiterung dürfe an kleinlicher Agrar-Münze nicht scheitern, gelten wird. Dennoch, so Lykke Friis, EU-Forscherin am Außenpolitischen Institut Dänemarks, könnte die Zeit am Ende davonlaufen:
Die Auswirkung ist halt, dass man warten muss, so lange, bis Schröder oder Stoiber dann gewählt worden ist. Man hat eigentlich von vorne herein gewusst, es wird jetzt nicht viel passieren in Deutschland zum Thema Erweiterung; also, das hat man gewusst, aber es ändert natürlich nichts daran, dass die Zeit unheimlich knapp wird. Wenn man wirklich optimistisch ist, dann kann man sagen: Es gibt 80 Tage. Aber dann rechnet man ab dem 23. September – und da ist die neue deutsche Regierung ja noch nicht im Amt – bis zum 12./13. Dezember, wo der Gipfel hier in Kopenhagen stattfindet.
Alles in allem also nicht viel Zeit für die dänische Ratspräsidentschaft, den Berg der Probleme abzutragen. Noch dazu: Wer weiß heute bereits zu sagen, was in den kommenden Monaten passieren mag? Ein erneuter Terroranschlag? Eine unvorhergesehene politische Krise? Ein weiteres "No” der Iren zum Vertrag von Nizza? Schreckensszenarien gibt es viele. Und dennoch hält sich bei den Verantwortlichen so etwas wie Optimismus. Schließlich habe ja nicht Dänemark bestimmt, dass die Osterweiterung in Kopenhagen beschlossen werden soll, sondern die Union, meint Kim Jørgensen vom Außenministerium.
Und auch Lykke Friis ist optimistisch, dass die EU bis zum Dezember alle wichtigen Fragen lösen wird; nicht zuletzt, weil sie sich angesichts des ohnehin schon engen Terminkalenders keine Verzögerung leisten kann. Und Dänemark sei – gerade aufgrund seiner Größe – ein guter Vermittler; Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen verfüge nicht allein über genügend politische Erfahrung, sondern auch über das notwendige Geschick:
Die dänische Präferenz Nummer Eins ist die Erweiterung. Und die Präferenz Nummer Eins für die Europäische Union ist auch die Erweiterung, jedenfalls offiziell. Und insofern glaube ich, dass er da nicht die ganz großen Probleme bekommen wird. Er wird nicht versuchen, alle möglichen dänischen Kleinkram auf die Tagesordnung zu bringen. Er wird sich total auf diese Aufgabe konzentrieren – und das ist die Erweiterung. Ich glaube, insofern ist es eigentlich ganz gut, dass man Dänemark hat. Und ich denke, Anders Fogh Rasmussen, das ist ein Macher! Nicht so wie Helmut Schmidt, aber das ist ein Macher! Der möchte jetzt Resultate haben, Ergebnisse – er ist sehr, sehr pragmatisch.
Außerdem will Dänemark die Ratspräsidentschaft nutzen, um die Europäische Union den Menschen näher zu bringen. Nur eine offene, transparente, eine bürgernahe Union hat eine Zukunft, mahnt der dänische Europaminister Bertel Haarder:
Ich finde es ganz wichtig, dass die politischen Debatten in den EU-Ministerräten die Menschen in Dänemark, in Deutschland, in ganz Europa erreichen. Sie müssen all das in ihren Wohnzimmern am Fernseher verfolgen können – und zwar so, dass sie nicht länger nur schwarze Limousinen vorfahren sehen, aus denen Politiker aussteigen, die dann hinter einer Glastür verschwinden. Ihre Argumente – die sind wichtig: Warum fordert ein Land dies, das andere etwas anderes; warum, zum Beispiel, hat Deutschland bei der Altautoverordnung eine Kehrtwende vollzogen, während andere Länder sie befürworteten? Es ist wichtig, dass die Europäische Union kein anonymes, fernes Monstrum verbleibt, das an allem schuld ist. Die Menschen müssen sehen können, dass die Union eine politische Versammlung ist, wo Politiker Standpunkte und Interessen vertreten und um sie ringen. Dadurch würde das Ganze menschlich, und nicht diese große, anonyme Bürokratie, die die Menschen jetzt vor Augen haben.
Vertrauensbildende Maßnahmen! Doch ohnehin scheint sich im Verhältnis der Dänen zu Europa etwas zu bewegen. Knapp zwei Jahre nach dem verlorenen Referendum über die Einführung des Euro zeigen Umfragen nun eine massive Mehrheit dafür. Auch die Unterstützung für die drei anderen dänischen Vorbehalte scheint zu bröckeln.
Dazu trägt erstaunlicherweise ausgerechnet das Thema Osterweiterung bei. Denn sogar die profiliertesten dänischen EU-Widersacher, wie etwa Jens Peter Bonde, stehen der Erweiterung positiv gegenüber. Ein Grund ist die traditionell enge Verbindung Dänemarks mit den baltischen Beitrittskandidaten.
Also in Dänemark gibt es eine große Mehrheit für die Erweiterung. Und wir sind auch bereit, das zu bezahlen – so ist es in Deutschland leider nicht, in Schweden leider nicht, in Holland leider nicht. Auch andere reiche Länder sind nicht so gewillt wie wir. Ich finde, es gibt keine Alternative. Das ist eine Investition in den Frieden.
Nicht zuletzt deshalb hofft die dänische Regierung, ein erfolgreicher Abschluss der Ratspräsidentschaft werde die europapolitische Debatte auch daheim beleben und die selbstangelegten Fesseln in nicht allzu ferner Zukunft sprengen.
Überraschenden Beistand erhält die bürgerliche Regierung dabei von der Opposition. Vor allem die noch bis vor kurzem amtierenden Regierungsparteien, die Sozialdemokraten und Sozialliberalen, drängen mit einem Mal auf eine schnelle Volksabstimmung. Die vier Vorbehalte schadeten den dänischen Interessen. Außerdem dürfe man das europapolitische Feld nicht länger rechtspopulistischen Gruppierungen wie beispielsweise der Dänischen Volkspartei überlassen. Der ehemalige Außenminister und heutige Fraktionsvorsitzende der sozialdemokratischen Folketingsgruppe, Mogens Lykketoft:
Das Problem mit den rechtspopulistischen Parteien in Europa ist doch – einmal abgesehen davon, dass ihre Standpunkte unsympathisch sind und nicht selten rassistische Untertöne haben –, dass sie ohne Abstriche sagen: Wie müssen die Einwanderung, die Entwicklungshilfe und die europäische Zusammenarbeit stoppen. Wenn wir aber das Problem der Zuwanderung in Zukunft kontrollieren wollen, müssen wir die Entwicklungshilfe wie auch die europäische Zusammenarbeit verstärken. Die rückwärtsgewandte Politik der Rechtspopulisten in Europa enthält keine konstruktiven Antworten.
Doch ist Dänemark – was die Europaskepsis betrifft – tatsächlich wie alle anderen auch? Die vier Vorbehalte nichts als eine Laune der Geschichte? Dänemarks Ruf nur ein Klischee?
Was ist das für ein Land, das in den kommenden sechs Monaten die Zukunft des Kontinents in seinen Händen hält? Das das historische Projekt der Osterweiterung zu einem erfolgreichen Abschluß führen soll?
Ach, ich würde sagen, Dänemark ist ein normales europäisches Land. Ich denke nicht, das Dänemark total anders ist. Und ich denke, wenn man die Meinungsumfragen in Deutschland sieht, ist die Bevölkerung auch – ja, nicht skeptisch, aber halt so wie die dänische Bevölkerung: Wenn man gefragt wird, dann hat man auch immer einen ganz großen "Nein”-Anteil. Dänemark ist also nicht so sehr viel anders. Das, was uns unterscheidet ist, dass wir über diese Themen abstimmen; und bei einer Volksabstimmung kann es immer rund gehen. Das hat man vor einem Jahr auch in Irland gesehen.
Ganz anders sieht es Georg Metz, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Information, heute Autor und scharfzüngiger Publizist. Im Grunde hätten Dänemark und die Dänen den Kern der europäischen Integration nie begriffen:
Dänemark steht da, wo es seit Generationen, ja, vielleicht seit 1864 steht: Eine Art Sonderstatus; ein Gefühl, das kleine auserwählte Volk zu sein, das sich selbst genügt und bei dem alles besser ist. Die Linken und zunehmend auch das bürgerliche Lager, vergessen völlig die Erfahrungen, die wir im 20. Jahrhundert mit seinen beiden Weltkriegen gemacht haben. Wir haben nie begriffen, wie dicht wir in den Jahren 1940 bis 1945 daran waren, von der Landkarte zu verschwinden. Im Gegenteil: Wir kamen davon und waren am Ende wohlhabender als zuvor – die dänische Landwirtschaft blühte ja und verkaufte, was sie konnte, an das Dritte Reich. Mit anderen Worten: Die schmerzhaften Erfahrungen, die andere Länder durchleiden mussten, haben wir in Dänemark nie gemacht. Was wir heute erleben ist ein geradezu ahistorisches Verständnis von Europa – so, dass es zum Himmel schreit.
Auch Michael Ehrenreich, Chefredakteur der Tageszeitung Berlingske Tidende, attestiert den Dänen ein allzu pragmatisches Verhältnis zu Europa. Die dänische Europadebatte sei ebenso rational wie egozentrisch, ohne Pathos und ohne Vision:
Was die Europapolitik anbelangt, nähert sich Dänemark einer Wegscheide. Vermutlich wird die große, endgültige Schlacht in einer Volksabstimmung geschlagen, die sich zeitlich in der Nähe der kommenden Regierungskonferenz bewegt. Und wenn wir diese Schlacht gewinnen wollen, müssen die dänischen Politiker nun endlich, nach jahrelanger Verspätung, damit anfangen, die EU politisch zu diskutieren, anstatt immer nur Kosten-Nutzen-Rechnungen aufzustellen – da gerät man immer in die Defensive. Es ist die politische Vision, die eigentliche Ideengrundlage der Union, die jetzt betont werden muss – je eher, desto besser.
Die heute beginnende Ratspräsidentschaft Dänemarks könnte hierfür einen Anlass bieten. Immerhin, so hat es nicht zuletzt der dänische Ministerpräsident Rasmussen immer wieder betont, steht mit der Osterweiterung die Vereinigung Europas auf dem Spiel. Sollte sie gelingen, stünde vielleicht auch Dänemark in Sachen Europa vor einem Neuanfang.
46.000 Stimmen Unterschied – knapp, gewiss! Doch es reichte aus, um eine Welle des Schocks durch Dänemark, durch Europa zu schicken. Dem dänischen Außenminister und Pro-Europäer, Uffe Ellemann-Jensen, stand die Niederlage ins Gesicht geschrieben:
Ich bin enttäuscht, daraus mache ich gar keinen Hehl. Vor allem aber mache ich mir Sorgen über die Situation in unserem Land. Denn das wird nicht leicht. Natürlich müssen wir – zusammen mit unseren europäischen Partnern – untersuchen, wie es weiter gehen kann. Aber wahrlich: Einfach wird das nicht!
Ratlosigkeit machte sich breit im politischen Leben Dänemarks. Alle Parteien – mit Ausnahme des rechten und linken Randes – hatten ihren Wählern empfohlen, für Maastricht, und somit für die weitere europäische Integration zu stimmen.
Nun taten sich Gräben auf: Zwischen Ja- und Nein-Sagern einerseits, zwischen der Bevölkerung und ihren politischen Vertretern andererseits. Wie sollte es weiter gehen? Natürlich, so betonten alle Seiten, gelte es, das Ergebnis der Volksabstimmung zu respektieren. Allein, wie es zu interpretieren sei, darüber gingen die Meinungen auseinander. Dass die dänische Volksabstimmung den Prozess der europäischen Integration aber stoppen, gar beenden werde, solchen Vorstellungen erteilte die dänische Regierung eine klare Absage. So der konservative Ministerpräsident Poul Schlüter am 18. Juni im dänischen Parlament, dem Folketing:
Dänemark kann einen Weg wählen, der den Anfang vom Ende der Unions-Zugehörigkeit bedeutet. Das können wir; das ist eine ehrliche Sache; dann müssen wir uns zu diesem Weg bekennen und die Konsequenzen tragen. Doch möchte ich alle Mitglieder des Folketing bitten zu begreifen: Der Prozess der europäischen Integration wird dadurch nicht gebremst.
Im Laufe des Herbstes wurde der so genannte "Nationale Kompromiss” ausgehandelt. Der Folketing beschloss vier Ausnahmeregelungen: zum Euro, zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, zur Innen- und Justizpolitik. Sie wurden zunächst von den EU-Staats- und Regierungschefs, im Mai 1993 dann auch von der dänischen Bevölkerung akzeptiert. Dänemark kehrte, wenn auch eingeschränkt, zur europapolitischen Normalität zurück.
Doch noch ein weiterer Prozess nahm im Frühjahr 1993 seinen Lauf. Ausgerechnet die Dänen standen – Ironie der Geschichte – inmitten aller innen- und europapolitischen Kontroversen an der Spitze der Gemeinschaft. Und ausgerechnet von der Ratspräsidentschaft Dänemarks sollte ein Zeichen ausgehen für die Zukunft des Kontinents. Auf seinem Gipfel im Juni beschloss der Europäische Rat die sogenannten "Kopenhagener Kriterien”: Voraussetzung für die Aufnahme eines Staates in die Europäische Union sind seitdem eine rechtstaatliche Demokratie, die die Menschenrechte achtet und Minderheiten schützt, eine funktionierende Marktwirtschaft und die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes, des Acquis communautaire. Gewiss, nur ein Anfang; doch der Prozeß der EU-Osterweiterung war angestoßen! Und, geht es nach dem Willen zumindest der dänischen Regierung, soll er am Ende der heute beginnenden Ratspräsidentschaft des Landes auch vollendet werden.
Zum sechsten Mal seit seinem Beitritt 1973 übernimmt Dänemark heute den Vorsitz in der EU. Noch nie aber war die Anspannung so groß; in den Ministerien, in den Medien – überall ist sie zu spüren. Von Kopenhagen bis Kopenhagen – immer wieder ist dieses Motto zu hören und zu lesen. Begeleitet wird es von der Frage, ob Dänemark, das kleine Dänemark, mit seiner erst seit einem halben Jahr amtierenden Regierung diese Aufgabe bewältigen kann? Im dänischen Außenministerium jedenfalls hat man keine Zweifel, welches Thema die Beamten bis Ende des Jahres primär beschäftigen wird. Kim Jørgensen, außenpolitischer Koordinator:
Das zweifellos wichtigste Thema wird die EU-Osterweiterung. Das ist die mit Abstand größte Herausforderung der kommenden sechs Monate. Diese Aufgabe muss bis zum Dezember gelöst werden, das haben die EU-Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel von Laaken im vergangenen Jahr erneut bekräftigt. Das ist der wichtigste, größte und mit Sicherheit schwierigste Punkt der dänischen Ratspräsidentschaft.
Sicher, fügt Jørgensen hinzu, stünden auch andere wichtige Themen auf der Agenda: Die Fortsetzung des Kampfes gegen Terror, Kriminalität und illegale Zuwanderung; die Evaluierung der gemeinsamen Agrar-Reform sowie der Fischereipolitik, um nur die wichtigsten zu nennen. Die EU-Osterweiterung aber sei von historischer Bedeutung. Und deshalb, so der dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen, habe sie absolute Priorität:
Ich kann nicht anders, als daran denken, dass die Menschen in Osteuropa die kommunistischen Tyranneien vor zwölf Jahren auf den Schrotthaufen der Geschichte geworfen haben. Jetzt schulden wir ihnen, unseren Teil beizutragen – nämlich, ihnen die Möglichkeit zu geben, Teil einer Gemeinschaft zu werden, die ihre Zukunft sichern kann – demokratisch, ökonomisch und sozial. Ich bin aber optimistisch. Die Einsicht wächst, dass wir hier die historische Möglichkeit in der Hand halten, Europa zu vereinen und die Grundlage für dauerhaften Frieden, für Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in unserem Teil der Welt zu schaffen. Nein, diese Chance, die dürfen wir einfach nicht vertun.
Eine Grundhaltung, die Bertel Haarder, der dänische Europaminister, teilt. Auch er appelliert an alle Beteiligten, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um eine Entscheidung über die Erweiterung bis zum Ende des Jahres zu ermöglichen. Sollte das nicht gelingen, drohe ein Verlust von Stabilität und Vertrauen – in Ost wie West:
Das wäre ein fürchterlicher Verlust von Prestige, vor allem: Dynamik. Die Regierungen der Bewerberstaaten stünden ja in einer ganz verzweifelten Situation, wenn sie, nachdem sie ihren Parlamenten und Bürgern jahrelang gesagt haben, wir müssen die Reformen vorantreiben, um die Aufnahmekriterien bis zum Gipfel von Kopenhagen rechtzeitig zu erfüllen, nun zurückkehren müssten, nur um zu verkünden: Nein, es hat nicht geklappt, die Sache ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Und ähnliches gilt für die EU-Staaten selbst. Auch hier müssen sich die Bürger fragen: Sind wir überhaupt noch handlungsfähig? Aber an solche Szenarien will ich jetzt gar nicht denken, auch nicht an die Volksabstimmung in Irland. Wir hoffen, ja wir beten, dass alles gut gehen wird.
"Wir beten, dass alles gut gehen wird” – überzeugt, ja optimistisch klingt das nicht. Vielleicht aber steckt darin eine leise Vorahnung, dass die Größe der Probleme den Willen einiger EU Staaten, sie zu lösen, derzeit übersteigt.
"EU erstarrt vor Erweiterung vor Erlahmung”, kommentierte der Züricher Tages-Anzeiger das Treffen des Europäischen Rates in Sevilla. Nicht zuletzt dieser Gipfel machte erneut deutlich, wie viele Hürden es in den kommenden Monaten noch zu nehmen gilt – allen voran die Einigung über die künftige Verteilung der Agrar- und Strukturfonds. Doch so schwerwiegend die Probleme auch sein mögen: Am Zeitplan, so der dänische Ministerpräsident Rasmussen, werde sich nichts ändern:
Das ist ein sehr ambitionierter Zeitplan: Bis Ende September wollen wir alle Probleme gelöst haben, die nicht mit Haushalt und Finanzen zu tun haben; im Oktober, spätesten Anfang November widmen wir uns den Agrar- und finanziellen Fragen; und auf dem Gipfel in Kopenhagen im Dezember müssen wir die politischen Probleme lösen – zum Beispiel die Zypern-Frage, das künftige Verhältnis zu Russland und den EU-Anrainerstaaten.
Hinzu kommt, dass Deutschland am 22. September wählt. Bis dahin, so weiß man, wird in den entscheidenden Punkten nicht viel passieren. Und auch danach will eine Regierung, welcher Couleur auch immer, erst einmal gebildet werden. Zwar zeigt man sich in Kopenhagen überzeugt, dass auch für eine Regierung Stoiber das Wort des jetzigen Kanzlers, die Erweiterung dürfe an kleinlicher Agrar-Münze nicht scheitern, gelten wird. Dennoch, so Lykke Friis, EU-Forscherin am Außenpolitischen Institut Dänemarks, könnte die Zeit am Ende davonlaufen:
Die Auswirkung ist halt, dass man warten muss, so lange, bis Schröder oder Stoiber dann gewählt worden ist. Man hat eigentlich von vorne herein gewusst, es wird jetzt nicht viel passieren in Deutschland zum Thema Erweiterung; also, das hat man gewusst, aber es ändert natürlich nichts daran, dass die Zeit unheimlich knapp wird. Wenn man wirklich optimistisch ist, dann kann man sagen: Es gibt 80 Tage. Aber dann rechnet man ab dem 23. September – und da ist die neue deutsche Regierung ja noch nicht im Amt – bis zum 12./13. Dezember, wo der Gipfel hier in Kopenhagen stattfindet.
Alles in allem also nicht viel Zeit für die dänische Ratspräsidentschaft, den Berg der Probleme abzutragen. Noch dazu: Wer weiß heute bereits zu sagen, was in den kommenden Monaten passieren mag? Ein erneuter Terroranschlag? Eine unvorhergesehene politische Krise? Ein weiteres "No” der Iren zum Vertrag von Nizza? Schreckensszenarien gibt es viele. Und dennoch hält sich bei den Verantwortlichen so etwas wie Optimismus. Schließlich habe ja nicht Dänemark bestimmt, dass die Osterweiterung in Kopenhagen beschlossen werden soll, sondern die Union, meint Kim Jørgensen vom Außenministerium.
Und auch Lykke Friis ist optimistisch, dass die EU bis zum Dezember alle wichtigen Fragen lösen wird; nicht zuletzt, weil sie sich angesichts des ohnehin schon engen Terminkalenders keine Verzögerung leisten kann. Und Dänemark sei – gerade aufgrund seiner Größe – ein guter Vermittler; Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen verfüge nicht allein über genügend politische Erfahrung, sondern auch über das notwendige Geschick:
Die dänische Präferenz Nummer Eins ist die Erweiterung. Und die Präferenz Nummer Eins für die Europäische Union ist auch die Erweiterung, jedenfalls offiziell. Und insofern glaube ich, dass er da nicht die ganz großen Probleme bekommen wird. Er wird nicht versuchen, alle möglichen dänischen Kleinkram auf die Tagesordnung zu bringen. Er wird sich total auf diese Aufgabe konzentrieren – und das ist die Erweiterung. Ich glaube, insofern ist es eigentlich ganz gut, dass man Dänemark hat. Und ich denke, Anders Fogh Rasmussen, das ist ein Macher! Nicht so wie Helmut Schmidt, aber das ist ein Macher! Der möchte jetzt Resultate haben, Ergebnisse – er ist sehr, sehr pragmatisch.
Außerdem will Dänemark die Ratspräsidentschaft nutzen, um die Europäische Union den Menschen näher zu bringen. Nur eine offene, transparente, eine bürgernahe Union hat eine Zukunft, mahnt der dänische Europaminister Bertel Haarder:
Ich finde es ganz wichtig, dass die politischen Debatten in den EU-Ministerräten die Menschen in Dänemark, in Deutschland, in ganz Europa erreichen. Sie müssen all das in ihren Wohnzimmern am Fernseher verfolgen können – und zwar so, dass sie nicht länger nur schwarze Limousinen vorfahren sehen, aus denen Politiker aussteigen, die dann hinter einer Glastür verschwinden. Ihre Argumente – die sind wichtig: Warum fordert ein Land dies, das andere etwas anderes; warum, zum Beispiel, hat Deutschland bei der Altautoverordnung eine Kehrtwende vollzogen, während andere Länder sie befürworteten? Es ist wichtig, dass die Europäische Union kein anonymes, fernes Monstrum verbleibt, das an allem schuld ist. Die Menschen müssen sehen können, dass die Union eine politische Versammlung ist, wo Politiker Standpunkte und Interessen vertreten und um sie ringen. Dadurch würde das Ganze menschlich, und nicht diese große, anonyme Bürokratie, die die Menschen jetzt vor Augen haben.
Vertrauensbildende Maßnahmen! Doch ohnehin scheint sich im Verhältnis der Dänen zu Europa etwas zu bewegen. Knapp zwei Jahre nach dem verlorenen Referendum über die Einführung des Euro zeigen Umfragen nun eine massive Mehrheit dafür. Auch die Unterstützung für die drei anderen dänischen Vorbehalte scheint zu bröckeln.
Dazu trägt erstaunlicherweise ausgerechnet das Thema Osterweiterung bei. Denn sogar die profiliertesten dänischen EU-Widersacher, wie etwa Jens Peter Bonde, stehen der Erweiterung positiv gegenüber. Ein Grund ist die traditionell enge Verbindung Dänemarks mit den baltischen Beitrittskandidaten.
Also in Dänemark gibt es eine große Mehrheit für die Erweiterung. Und wir sind auch bereit, das zu bezahlen – so ist es in Deutschland leider nicht, in Schweden leider nicht, in Holland leider nicht. Auch andere reiche Länder sind nicht so gewillt wie wir. Ich finde, es gibt keine Alternative. Das ist eine Investition in den Frieden.
Nicht zuletzt deshalb hofft die dänische Regierung, ein erfolgreicher Abschluss der Ratspräsidentschaft werde die europapolitische Debatte auch daheim beleben und die selbstangelegten Fesseln in nicht allzu ferner Zukunft sprengen.
Überraschenden Beistand erhält die bürgerliche Regierung dabei von der Opposition. Vor allem die noch bis vor kurzem amtierenden Regierungsparteien, die Sozialdemokraten und Sozialliberalen, drängen mit einem Mal auf eine schnelle Volksabstimmung. Die vier Vorbehalte schadeten den dänischen Interessen. Außerdem dürfe man das europapolitische Feld nicht länger rechtspopulistischen Gruppierungen wie beispielsweise der Dänischen Volkspartei überlassen. Der ehemalige Außenminister und heutige Fraktionsvorsitzende der sozialdemokratischen Folketingsgruppe, Mogens Lykketoft:
Das Problem mit den rechtspopulistischen Parteien in Europa ist doch – einmal abgesehen davon, dass ihre Standpunkte unsympathisch sind und nicht selten rassistische Untertöne haben –, dass sie ohne Abstriche sagen: Wie müssen die Einwanderung, die Entwicklungshilfe und die europäische Zusammenarbeit stoppen. Wenn wir aber das Problem der Zuwanderung in Zukunft kontrollieren wollen, müssen wir die Entwicklungshilfe wie auch die europäische Zusammenarbeit verstärken. Die rückwärtsgewandte Politik der Rechtspopulisten in Europa enthält keine konstruktiven Antworten.
Doch ist Dänemark – was die Europaskepsis betrifft – tatsächlich wie alle anderen auch? Die vier Vorbehalte nichts als eine Laune der Geschichte? Dänemarks Ruf nur ein Klischee?
Was ist das für ein Land, das in den kommenden sechs Monaten die Zukunft des Kontinents in seinen Händen hält? Das das historische Projekt der Osterweiterung zu einem erfolgreichen Abschluß führen soll?
Ach, ich würde sagen, Dänemark ist ein normales europäisches Land. Ich denke nicht, das Dänemark total anders ist. Und ich denke, wenn man die Meinungsumfragen in Deutschland sieht, ist die Bevölkerung auch – ja, nicht skeptisch, aber halt so wie die dänische Bevölkerung: Wenn man gefragt wird, dann hat man auch immer einen ganz großen "Nein”-Anteil. Dänemark ist also nicht so sehr viel anders. Das, was uns unterscheidet ist, dass wir über diese Themen abstimmen; und bei einer Volksabstimmung kann es immer rund gehen. Das hat man vor einem Jahr auch in Irland gesehen.
Ganz anders sieht es Georg Metz, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Information, heute Autor und scharfzüngiger Publizist. Im Grunde hätten Dänemark und die Dänen den Kern der europäischen Integration nie begriffen:
Dänemark steht da, wo es seit Generationen, ja, vielleicht seit 1864 steht: Eine Art Sonderstatus; ein Gefühl, das kleine auserwählte Volk zu sein, das sich selbst genügt und bei dem alles besser ist. Die Linken und zunehmend auch das bürgerliche Lager, vergessen völlig die Erfahrungen, die wir im 20. Jahrhundert mit seinen beiden Weltkriegen gemacht haben. Wir haben nie begriffen, wie dicht wir in den Jahren 1940 bis 1945 daran waren, von der Landkarte zu verschwinden. Im Gegenteil: Wir kamen davon und waren am Ende wohlhabender als zuvor – die dänische Landwirtschaft blühte ja und verkaufte, was sie konnte, an das Dritte Reich. Mit anderen Worten: Die schmerzhaften Erfahrungen, die andere Länder durchleiden mussten, haben wir in Dänemark nie gemacht. Was wir heute erleben ist ein geradezu ahistorisches Verständnis von Europa – so, dass es zum Himmel schreit.
Auch Michael Ehrenreich, Chefredakteur der Tageszeitung Berlingske Tidende, attestiert den Dänen ein allzu pragmatisches Verhältnis zu Europa. Die dänische Europadebatte sei ebenso rational wie egozentrisch, ohne Pathos und ohne Vision:
Was die Europapolitik anbelangt, nähert sich Dänemark einer Wegscheide. Vermutlich wird die große, endgültige Schlacht in einer Volksabstimmung geschlagen, die sich zeitlich in der Nähe der kommenden Regierungskonferenz bewegt. Und wenn wir diese Schlacht gewinnen wollen, müssen die dänischen Politiker nun endlich, nach jahrelanger Verspätung, damit anfangen, die EU politisch zu diskutieren, anstatt immer nur Kosten-Nutzen-Rechnungen aufzustellen – da gerät man immer in die Defensive. Es ist die politische Vision, die eigentliche Ideengrundlage der Union, die jetzt betont werden muss – je eher, desto besser.
Die heute beginnende Ratspräsidentschaft Dänemarks könnte hierfür einen Anlass bieten. Immerhin, so hat es nicht zuletzt der dänische Ministerpräsident Rasmussen immer wieder betont, steht mit der Osterweiterung die Vereinigung Europas auf dem Spiel. Sollte sie gelingen, stünde vielleicht auch Dänemark in Sachen Europa vor einem Neuanfang.