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Wege und Umwege

In "Nachdenken über das 20. Jahrhundert" lassen zwei besorgte Intellektuelle das gerade abgelaufene Jahrhundert Revue passieren: Der Historiker Tony Judt, 1948 geboren, ist bei der Aufzeichnung seiner wöchentlichen Treffen mit dem 20 Jahre jüngeren Kollegen Timothy Snyder bereits todkrank - seine Biografie dient als Leitfaden des Dialogs.

Von Roland H. Wiegenstein | 09.04.2013
    "Dem Land geht es schlecht" - so hat Tony Judt, der 1948 geborene, 2010 gestorbene Historiker, sein letztes Buch überschrieben, das der Todkranke, der an ALS litt, einer Muskelkrankheit, die langsam den ganzen Körper lähmt, noch diktieren konnte: eine Verteidigung des Sozialstaats, den Margaret Thatcher in Großbritannien abgeschafft hatte: mit desaströsen Folgen für die Wohlfahrt der Briten. Kurz vorher war ein anderes Buch fertig geworden: "Nachdenken über das 20. Jahrhundert". Es entstand als Dialog mit dem rund zwanzig Jahre jüngeren amerikanischen Historiker Timothy Snyder, mit dem sich Judt einmal in der Woche traf: ihre Dialoge - es sind wirklich welche: Zwei gleichermaßen um den Zustand der Welt besorgte Intellektuelle lassen das gerade abgelaufene Jahrhundert Revue passieren, betrachten die Fortschritte und Rückschläge der Zeit und alle Irrtümer, die es hervorgebracht hat. Was dieses Buch einzigartig macht, ist seine literarische Form: Jedes Kapitel beginnt mit einem biografischen Rückblick Judts, in dem er von sich erzählt, davon, welche Wege und Umwege er nehmen musste, um zu seinen Einsichten zu kommen.

    Dann beginnt Snyder nachzufragen und ergänzt, er korrigiert und fordert so den Partner immer wieder dazu heraus, weiter zu denken und das, was er im Nachwort des Buchs die "verschiedenen Wahrheiten" nennt, zu formulieren. Vorweg: es gibt nur wenige Bücher, in denen man über das Jahrhundert der Ideologien, das ein Jahrhundert der Gewalt war, so viel erfährt und lernt, wie dieses.

    Zunächst beschreibt Judt seine Jugend, die eines jüdischen Kindes einer englischen Mittelstandsfamilie: die Eltern betrieben einen großen Frisiersalon, waren zu bescheidenem Wohlstand gekommen, zwei Generationen nach der Einwanderung der Sippe aus den verschiedenen polnischen, litauischen, ukrainischen Orten mit großer jüdischer Bevölkerung, dem "Schtetl". Ihre Wurzeln hat Judts Familie nie vergessen.

    "Es war ein ganz und gar jüdisches und insofern auch osteuropäisches Milieu."

    Doch kein orthodoxes: man feierte den Schabbat, Judt erlebte seine Bar-Mizwa, in der Schule aber, in die ihn der Vater schickte, wuchs er unter Engländern auf.

    "Ich wusste immer, dass wir anders waren. Einerseits waren wir nicht wie die anderen Juden, weil wir nichtjüdische Freunde hatten und ein ausgesprochen anglisiertes Leben führten. Aber wir konnten nie wie unsere nichtjüdischen Freunde sein, einfach weil wir Juden waren."

    Manifesten Antisemitismus hat er nur selten erlebt. Denn die Nachricht von der Schoa, die das osteuropäische Judentum weithin vernichtet hatte, war auch im englischen Mittelstand angekommen. Judt betrachtet diese arme und doch "ungewöhnlich gebildete" jüdische Herkunftswelt mit der Sympathie und Distanz des Historikers: die Zeit vor ihrer Vernichtung und das Überleben der Wenigen in einer nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs völlig verwandelten Welt. Auf der Schule hatte er davon wenig erfahren und auch in der Familie sprach man darüber nicht oft. Was er in der Schule lernte, entsprach dem noch ein wenig altmodischen englischen Curriculum, von dem ihm nicht viel mehr geblieben ist als die "Liebe zur englischen Sprache" (die er besser schreibt und spricht als viele seiner Zunftgenossen) und sein "Gefühl, ein Engländer zu sein." Ein Bürger. Und diese Gewissheit führt im Dialog mit Snyder zu der Frage, was denn Bürgerlichkeit sei, die vor allem auf dem Kontinent der Zwischenkriegszeit so umstandslos kritisiert werden konnte: diese Kritik von links wie rechts, so Judt, trug zu ihrem Untergang bei. In Großbritannien lagen die Dinge anders. Judt beschreibt die Lage an den wenigen großen Universitäten, Oxford und Cambridge vor allem, die er besuchte, und macht den Unterschied greifbar zwischen dem luxurierenden geistigen Habitus einer kleinen Bildungselite und den gleichzeitigen kontinentaleuropäischen intellektuellen Debatten, die, vor allem in Frankreich, den Kommunismus als Überwindung der Bürgerlichkeit ausriefen und dabei die Demokratie über die Klippe stießen.

    Dieses Kapitel analysiert die komplizierte Situation genau, etwa die Haltung von Sartre, aber auch die seines Gegenspielers Raimond Aron und lehrt sie begreifen - auch wenn man in den Büchern der Matadore von damals nicht mehr zu Hause ist. Dem kontrastiert er die so ganz anderen englischen Verhältnisse mit dem gleich nach dem Krieg eingeführten Sozialstaat mit seiner Vorstellung von einem anständigen Leben, wie unvollständig es auch gewesen sein mag und den Glasperlenspielen einer schmalen gebildeten Elite darüber, die immer noch vom Empire träumte und deren Kokettieren mit dem Kommunismus stets ein bisschen nach College schmeckte. Als Gegenwelt schildert er die entschiedene Feindschaft Weniger, Orwells und Köstlers zum Beispiel gegen die linken Fellow Travellers und Kolakowskis glänzende Analysen des Stalinismus, die dieser als Exilant vor allem in England geschrieben hat.

    Judt will verstehen, wie sich unter Intellektuellen das unreine Gemisch des Nachdenkens über Politik in der Nachkriegszeit ergab, und so zeigt er auf der einen Seite die Bloomsbury-Clique, aus der nicht nur Virginia Woolf kam, sondern jene vier Spione für die Sowjetunion entstammten, die viel zu spät aufflogen, zum Teil flüchteten oder sogar in Großbritannien blieben, wie der kaum belangte Kunsthistoriker Blunt, der die Zugehörigkeit zur Elite ausspielte, auf der anderen die simplen und probaten Ansichten seines Großvaters, der noch in Polen dem linkssozialistischen "Bund" beigetreten war und dessen rudimentärer Marxismus ihn den englischen Labour-Sozialismus als passend und menschenwürdig empfinden ließ.

    Den brillante Studenten und rasch in der akademischen Hierarchie aufsteigenden Forscher Judt, der sich so befremdend intensiv mit den kontinentalen marxistischen Strömungen befasste - Snyder nennt ihn einen "linken Rebellen" - bringt erst seine zionistische Phase auf andere Geleise als die französischen, denen er seine ersten Studien in Paris gewidmet hatte: er geht nach Israel, arbeitet in einem Kibbuz und beschäftigt sich ausführlich mit der anderen "Katastrophe des Jahrhunderts": dem Faschismus und Nationalsozialismus. Er konstatiert, "dass die Marxisten Theorien haben, die Faschisten aber Haltungen" ohne theoretisches Unterfutter. Er beschäftigt sich dabei auch mit jenen faschistischen Intellektuellen, die keine Parteileute waren: Brasillach, Jünger, Cioran zum Beispiel und macht auf die Mitschuld der Linken bei ihrem Auftreten aufmerksam. Er will verstehen, auch wenn das wehtut. So wie er versucht, auch Israel nach seinen Aufenthalten dort zu verstehen.

    Hier vertritt er eine ebenso plausible wie umstrittene Theorie, die heute so gar keine Chance mehr zu haben scheint, für die es vermutlich definitiv zu spät ist: die des einen Staats für Juden und Palästinenser. Der alte Martin Buber verfocht diese Theorie schon in Zeiten der englischen Mandatsverwaltung. Judt ist auch darin ein Außenseiter, den all seine Erfahrungen und Studien immer wieder auf Abweichungen verweisen. Und das geht so weiter: Er kritisiert die von Hajek und anderen in die Welt gesetzte Theorie eines ungebremsten, allein von den Marktkräften gesteuerten Kapitalismus und plädiert für den Wohlfahrtsstaat, in dem die öffentliche Hand eingreifen darf und muss, um den Wohlstand der Massen zu sichern. Darin lässt er auch nicht beirren, als er an amerikanischen Universitäten zu lehren beginnt. Nun mischt er sich nicht nur in seinen Büchern ein, sondern in vielen Zeitschriftenaufsätzen, die ihm heftige Gegnerschaft eintragen. Er destruiert Mythen: Siegermythen, Opfermythen, Furchtmythen, verurteilt die Bushregierung und den Irakkrieg scharf und verteidigt die Menschenrechte so glühend wie distinkt. Der "Linke" als den sich Judt bis zu seinem Tode betrachtet, kritisiert aber auch die amerikanische Linke:

    "Von Gut und Böse spricht es leichter, wenn es um eine andere Zeit (oder einen anderen Ort) geht. Wir können leichter sagen, Hexenverbrennungen sind schlecht oder die Gestapo war schlecht. Aber wir wissen nicht, wie wir Kritik beispielsweise an der weiblichen Genitalverstümmelung in Ostafrika formulieren sollen - aus lauter Angst, jemanden zu verletzen. Und davon profitieren diejenigen (in der Regel, aber nicht immer, sind es Rechte) die immer genau wissen, was richtig und falsch ist. Die ethische Verunsicherung hat zwei Generationen von Linken geschwächt."

    Wem ein solcher Satz gewagt vorkommt, der kann versichert sein, dass bei Judt jede seiner Thesen im Gespräch mit dem hellwachen Historiker Snyder begründet wird, intensiv, genau, allen Schlagworten feind. Judt ist ein skrupulöser Denker und dazu einer, der das, was er zu sagen hat, so einfach zu sagen sich bemüht, wie es komplexe Sachverhalte und Ideen verlangen und erlauben. Der Historiker, der in seinem Rollstuhl sitzt und sich, je weiter die Gespräche fortschreiten, desto weniger bewegen kann, bis ihm nur noch die schwache Stimme bleibt, versucht alles, um so klar und plausibel zu sein wie möglich. Der Publizist, als der er nach so vielen Büchern auch in New York noch berühmt und berüchtigt wurde, war ein Moralist, den keine Abweichung irremachte, wenn er sie nur gut genug begründen konnte.

    Seinen glänzenden Stil hat Matthias Fienbrock treulich aufgenommen, die deutsche Ausgabe ist auch darin gelungen. Es gebührt sich, Tony Judt zu den großen Geistern des 20. Jahrhunderts zu zählen, des Jahrhunderts, dem seine wissenschaftliche Arbeit galt.

    Tony Judt: Nachdenken über das 20. Jahrhundert, übersetzt von Matthias Fienbrock, Hanser 2013, 24,90 Euro