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Wegmarken 2010: Wohlstand ohne Wachstum? (Teil 3)

Woran liegt es, dass Wachstum nicht wirklich glücklich macht? Menschen nehmen offenbar ihr jeweiliges Wohlstandsniveau wie selbstverständlich. Sie können sich kaum noch daran erinnern, dass es ihnen früher schlechter ging.

Von Rainer Hank | 03.01.2010
    Wohlstand ohne Wachstum? Die Frage ist bereits beantwortet
    Gegen Ende des 5. Jahrhunderts nach Christus gab es schon einmal einen groß angelegten Menschheitsversuch, ob denn ein Leben ohne Wachstum möglich und wünschenswert sei. Das römische Großreich neigte zur Dekadenz: Die Grundbedürfnisse vieler Bürger – essen, trinken, wohnen – waren längst gesättigt. Allenthalben habe sich ein kruder Materialismus breitgemacht, kritisierten die christlichen Intellektuellen. Und die Freunde der Umwelt bemängelten, es müsste für Schmuck und Gebrauchsgüter viel zu viel Blei, Kupfer oder Silber geschmolzen werden – mit verheerenden Folgen einer zunehmenden Verschmutzung der Atmosphäre. Wer es nicht glauben wollte, der brauchte sich nur den Monte Testaccio am linken Tiberufer Roms ansehen: einen 50 Meter hohen künstlichen Scherbenhaufen, alles in allem geschätzte 53 Millionen Amphoren, Gefäße, die für den Transport von Öl, Wein oder Getreide benötigt wurden. Es war der gigantische Abfallhaufen des ersten globalen Weltreiches, die Hinterlassenschaft einer Wohlstandsgesellschaft.

    Das Wachstum fand jäh seinen Abbruch, als das römische Westreich sich seit dem 5. Jahrhundert aufzulösen begann. Eine Welt, die die Grenzen des Wachstums erreicht hatte, sah sich überraschend schnell konfrontiert mit den unerwünschten Effekten der Wachstumsverweigerung: dem abrupten Ende der Zivilisation. Der internationale Handel brach zusammen und machte lokalen Wirtschaftsbeziehungen Platz – auf erbärmlich einfachem Niveau. Literarische Hochkultur, architektonische Begabung und industrielle Spezialisierung: all das verarmte. Quantitative Ergebnisse der Archäologie lassen keinen Zweifel: Seit dem 5. Jahrhundert schrumpfte der Wohlstand dramatisch. Den Beweis dafür liefern Bohrungen im Grönlandeis. Dort lässt sich das Maß atmosphärischer Umweltverschmutzung früherer Jahrhunderte präzise nachweisen. Dabei zeigt sich: Der römischen Antike quantitativ vergleichbare Emissionen wurden erst wieder im 16. Jahrhundert erreicht, als sich der Frühkapitalismus in Europa auszubreiten begann.

    Die Antike hatte die Grenzen des Wachstums getestet. Aber um welchen Preis? Die Geldwirtschaft kam zum Erliegen; sie wurde ersetzt durch primitiven Tausch. Eine ganze Weltgesellschaft von England bis nach Karthago hatte vergessen, was sie ehedem erreicht hatte. Breite Schichten versanken über viele Jahrhunderte in bittere Armut. Das Christentum denunzierte das Wachstumsversprechen Roms als Ideologie. Der traurige Erfolg blieb nicht aus: Die Christen predigten die Armut – und bekamen sie auch.

    Der Blick auf den Zusammenbruch des römischen Weltreiches ist deshalb so lehrreich, weil er beweist, was bei kurzem Nachdenken zu erwarten ist: Wachstum ist zwar nicht alles. Aber ohne Wachstum ist alles nichts. Dies sich zu vergegenwärtigen wäre allen romantischen Träumern anzuraten, die neuerdings wieder prophezeien, der Wohlstand des 21. Jahrhunderts werde statt in Geld und materiellen Gütern künftig in immateriellen Kategorien wie Vertrauen, gelungenen Beziehungen und gesellschaftlicher Teilhabe gemessen werden oder die das Wachstum als "Fetisch" gänzlich entsorgen und durch "andere Formen des Wirtschaftens und Lebens" ersetzen wollen. Welche könnten das sein? Und was wäre der Preis?

    Stetes Wachstum – Alles andere als ein Fetisch
    Doch halten wir einen Moment inne. Was verstehen wir überhaupt unter Wachstum? Nehmen wir eine simple Definition: Das Wirtschaftswachstum beschreibt die Änderung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) eines Landes. Es errechnet sich aus der Summe der Preise der in einer Volkswirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen von einer Periode zur nächsten. Das darf man sich ganz konkret vorstellen. Statistiker des Wiesbadener Bundesamtes addieren Quartal für Quartal Zahlen: Hotelübernachtungen, Baugenehmigungen und Autoreparaturen. Alles, was einen Preis hat und bezahlt wird, geht in diese Rechnung ein. Übersteigt diese Addition den Wert des vorausgegangenen Quartals, haben wir ein positives Wachstum. Wenn nicht – wie es von 2008 bis zum ersten Quartal 2009 der Fall war – dann sagen wir, eine Volkswirtschaft sei geschrumpft. Weil positives Wachstum hierzulande etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts der Normalfall war, haben wir es inzwischen ganz schön weit gebracht: Wir sind um ein Vielfaches gesünder als unsere Großeltern. Wir leben länger, und wenn wir krank werden, gibt es Ärzte und Medizin, die sich darum bemühen, dass der Verlust an Lebensqualität sich im Rahmen hält. Mehr noch: Wir reisen, wohin wir wollen. Wir essen beim Italiener, beim Japaner oder beim Hessen. Und wir wohnen in hübsch wärmegedämmten Häuschen im Grünen. Wachstumserfolge sind Freiheitsgewinne.

    Ein Bruttoinlandsprodukt je Einwohner von gut 38000 Dollar errechnen die Fachleute für uns Deutsche. Zum Vergleich: In China, wo die Wirtschaft nun schon seit Jahren mit zweistelligen Raten wächst, ist man erst bei gut 4000 Euro angekommen. Kaufkraftbereinigt, also bezogen darauf, was man sich mit einem Dollar im jeweiligen Land leisten kann, schrumpft der Unterscheid nur unwesentlich. Die Differenz zwischen Deutschland und China markiert die unterschiedlichen Wohlstandsniveaus beider Länder: als die Zahl und Qualität der Autos, iPods, Bäder, Borsalinos und Kinos, die es in Schanghai oder Frankfurt gibt.

    Niemand behauptet im Übrigen, dass Wachstum, so wie wir es messen, alle wirtschaftlichen Aktivitäten spiegelt. Kochen, Putzen, Waschen, Rasenmähen, typische Hausarbeiten also, gehen nicht in die Statistiken ein, solange sich die Familie darum selbst kümmert. Stellen die Leute aber Koch, Gärtner und Kindermädchen an und werden Rechnungen fällig, so tauchen diese Dienstleistungen in den Zahlen des Bruttosozialproduktes auf. Das hat den paradoxen Effekt, dass eine Gesellschaft wächst, wenn sie Haushaltsarbeiten outsourct, obwohl die Summe der Dienstleistungen konstant bleibt, der Wohlstand sich somit nicht vergrößert.

    Wachstum ist, anders als die Wachstumskritiker unterstellen, eine einigermaßen unideologische Angelegenheit. Womöglich führt der Begriff in eine falsche Richtung, weil wir uns eine Wachstumswirtschaft unweigerlich immer fetter vorstellen. Doch das Bild der übergewichtigen Wirtschaft ist schief: Denken wir nur an die Sandkörner an den Stränden Kaliforniens, Silicon, aus dem die Garagenkünstler des Silicon Valley den Mikrochip gemacht haben – und damit eine riesige neue Industrie der Computer begründeten. Das ist Wachstum! "Wachstum ist nichts anderes als gegebene Ressourcen und ihre Beschränkungen intelligenter nutzen, um einen Mehrwert zu erhalten"; sagt Paul Romer, Nestor der neuen Wachstumstheorien an der Universität Stanford.

    Das nimmt der grünen und romantisch-konservativen Wachstumskritik seit Dennis Meadows und dem Club of Rome (1972) ziemlich viel Wind aus den Segeln. Denn anders als im alten Rom ist es dem Erfindungsgeist der Menschen inzwischen sogar geglückt, die Umwelt zu schonen und gerade damit Wachstum zu generieren. Obwohl der Wohlstand in unserem Land zunimmt, sinken Ölverbrauch und Kohlendioxid-Ausstoß schon seit Jahren. Während hierzulande der Primärenergieverbrauch seit 1990 um gut sieben Prozent zurückgegangen ist, stieg im selben Zeitraum das Bruttoinlandsprodukt um über 30 Prozent. Darin spiegelt sich zum Beispiel die Anstrengung der Automobilindustrie, spritsparende Fahrzeuge auf den Markt zu bringen. Es ist mehr als nur eine Metapher, wenn gesagt wird, die grüne Technologie der Deutschen sei eine Wachstumsindustrie für den Export.

    Auch der Klimawandel setzt dem Wachstum keine Grenze
    Es ist deshalb auch ganz und gar nicht einzusehen, warum der Klimawandel die sogenannte "Wachstumsideologie" der westlichen Welt zum Einsturz bringen müsste, oder warum die globale Erderwärmung – an der wissenschaftlich wohl kein Zweifel ist – das "Ende der Welt, wie wir sie kannten" bedeutet, so ein aktueller Buchtitel der Sozialwissenschaftler Claus Leggewie und Harald Welzer. Gewiss, die Transformation der Weltenergiegewinnung weg von den Treibhausgasen hin zu einer umweltfreundlicheren Wirtschaft gibt es nicht umsonst. Kosten zwischen einem und zwei Prozent des jährlichen Weltbruttoinlandsprodukts veranschlagt der renommierte britische Umweltökonom Nikolas Stern. Wenn man weiß, dass das WeltBIP derzeit rund 50 Billionen Dollar beträgt, dann sind das 0,5 bis eine Billion Dollar jährlich. Doch das Geld ist gut angelegt. Man kann die Summe als eine Art Versicherungsprämie zum Reduzieren der Klimarisiken bezeichnen.

    Die Gegenrechnung ist einfach: Tun wir nichts, kostet uns der Klimawandel zwischen fünf und maximal sogar 20 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts, weil in vielen Regionen dann langfristig nicht mehr gut zu wirtschaften ist. Die Versicherung gegen die schlimmsten Folgen des Klimawandels, welche die Welt sich seit Kyoto oder Kopenhagen in einem mühsamen Prozess der Abstimmung auferlegt hat, beziffert also den Preis, den die Menschheit zu zahlen hat, damit auch künftig auf der Erde Wirtschaftswachstum möglich bleibt. Der Klimawandel zwingt uns, die Kosten seiner Drosselung in unsere Wachstumsgeschichte "einzupreisen". Das bedeutet aber gerade nicht das Ende einer erfolgreichen Wachstumsgeschichte, sondern ihre Fortsetzung unter veränderten Umweltbedingungen. Menschen sind in der Lage, Unsicherheiten in Risiken zu überführen, indem sie Wahrscheinlichkeiten und Preise berechnen.

    Dass der Prozess des steten Wirtschaftswachstums irgendwann an ein natürliches Ende kommen wird, haben viele Sättigungstheoretiker immer wieder behauptet. Sie wurden von der wirtschaftlichen Entwicklung freilich stets dementiert. Wer wollte sich anmaßen zu definieren, was die Grundbedürfnisse der Menschen sind? Brot und Butter gehören dazu, Nutella aber nicht? Natürlich ist ein Leben ohne iPhone als menschenwürdiges Leben möglich. Bis vor ein paar Jahren ist das ja auch normal gewesen. Aber von wem sollten wir uns unsere Fortschrittsgeschichte verbieten lassen? Wir wollen uns schon gar nicht von Intellektuellen umerziehen lassen, die uns mit kulturpessimistischem Unterton über unsere wahren Bedürfnisse belehren wollen.

    Wachstum heißt: Mehr Wohlstand. Aber auch: Mehr Freiheit
    Gewiss ist eine Welt denkbar, die sich entschließt auf Wachstum zu verzichten. Dort ließe sich sogar die Produktivität verbessern, wenn Kapital und Arbeit effizienter eingesetzt würden. Aber jeder, der in dieser Welt aus einer neuen Idee ein Geschäftsmodell machen wollte, und jeder, der bei dieser Unternehmung mitarbeiten und Geld verdienen wollte, müsste sich seinen Wunsch versagen: denn das liefe ja auf Wachstum hinaus. Mit anderen Worten: Eine Welt ohne Wachstum wäre eine Welt ohne Erfindungen, ohne Unternehmer und ohne Arbeit. Keine schöne Welt.

    Ganz abgesehen davon, dass die "Wette auf Wachstum" vollends absurd würde, welche noch jede Regierung – ganz besonders aber die neue schwarz-gelbe Regierung Angela Merkels – eingehen muss, um die hohe Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen. Der Zusammenhang zwischen Schulden und Wachstum ist einfach zu demonstrieren: Staatliche Wohltaten werden durch die Steuern der Bürger finanziert. Reicht dieses Geld nicht aus und traut sich die Regierung nicht, die Steuern zu erhöhen, bleibt nur der Ausweg, Schulden zu machen. Doch die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Zinsen müssen bedient und das Geld muss zurückgezahlt werden. Steuern aber können spätere Generationen nur abgeben, wenn sie zuvor etwas erwirtschaftet haben. Ein Steuerstaat ist somit stets auf Wachstum angewiesen, gerade wenn er mit Umverteilung die Unterschiede zwischen Arm und Reich minimieren will, Sozialsysteme, also Altersvorsorge und Gesundheit, ausbauen, und viele öffentliche Leistungen wie Schulen, Kindergärten und Straßen bereit halten möchte. Wachstum braucht es längst nicht nur für die Reichen: Wachstum ist vor allem für die Armen da.

    Das alles muss nicht heißen, dass wir das Wirtschaftswachstum verabsolutieren. Geld macht nicht glücklich, sagt man gerne. Wirklich arme Menschen müssen diesen Satz als zynisch empfinden. Aber bezogen auf reiche Gesellschaften wie die unsere, steckt viel Wahres darin: Seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir unser Wirtschaftswachstum mehr als verdoppelt, glücklicher sind wir deshalb aber nicht geworden.

    Woran liegt es, dass Wachstum nicht wirklich glücklich macht? Menschen nehmen offenbar ihr jeweiliges Wohlstandsniveau wie selbstverständlich. Sie können sich kaum noch daran erinnern, dass es ihnen früher schlechter ging. Zwar wollte niemand von uns mit den materiellen Lebensbedingungen unserer Eltern oder gar Großeltern tauschen. Man muss sich dazu nur die alten Familienfotos ansehen. Da wir das aber nicht täglich machen, verflüchtigt sich das Glück über den inzwischen erreichten Wohlstand. Glück und Unglück bemessen sich nämlich mehr an der Differenz als an absoluten Niveaus. Geht es anderen in unserer Umgebung besser als uns selbst, werden wir unzufrieden, selbst dann, wenn unser eigenes Wohlstandsniveau sich über dem Durchschnitt bewegt. So sind wir Menschen eben.

    Doch sollen wir deshalb das Bruttoinlandsprodukt durch einen Wohlergehensindikator ersetzen? Sollen in Zukunft Glück und Zufriedenheit die angemessenen Fingerzeige für sozialen Fortschritt abgeben? Darüber denken manche Regierungen und Ökonomen – in England oder Frankreich - tatsächlich ernsthaft nach. Gewiss: Gute Beziehungen, Gesundheit, persönliche Freiheit – und nicht allzu viel Ungleichheit, all das ist den meisten von uns wichtiger als materieller Wohlstand. Doch wollen wir tatsächlich unser Glücksmaß künftig von einem statistischen Glücksamt berechnen lassen? Der Versuch der genannten Länder, von Regierungskommissionen prüfen zu lassen, ob neue Gesetze das Glück ihrer Bürger befördern oder behindern, lässt einen schaudern. Denn vom Glücksindikator ist nur ein kurzer Weg zur Glücksplanung. Welche Anmaßung! Wachsender Wohlstand lässt den Menschen die Freiheit, wie sie diesen nutzen wollen. Ein Staat aber, der sich anschickt zu entscheiden, was das Glück seiner Bürger befördert, ist nichts anderes als ein totalitärer Staat. Ein Staat aber, der die Bedingungen des Wachstums befördert, bleibt ein freiheitlicher Staat.

    "Well-Being ist more than having more", sagen die Engländer knapp: Wohlbefinden ist mehr als mehr zu haben. Aber Wohlstand ohne Wachstum? Das bleibt eine gefährliche rückwärts gewandte Utopie. Wir würden alle viel ärmer und unfreier werden. Wie heißt es doch am Ende von Bernard Mandevilles "Bienenfabel" aus dem Jahre 1705: "Wer will, dass eine goldne Zeit/zurückkehrt, sollte nicht vergessen/man musste damals Eicheln fressen."