Lustvoll erzählt Politycki von einer unentschlossenen, aber keineswegs gelangweilten Generation, den "Achtundsiebzigern", einer Generation jenseits allen aufflammenden politischen Aktionismus, fern auch einer um sich greifenden Null-Bock-Stimmung. Das ganze Leben - eine einzige Collage aus Alltagsglück und Alltagsschmerz. Ein bißchen Demo, ein bißchen Fernsehen am Samstag abend, Fußball-WM sowieso, ein bißchen Männer-unter-uns-Seligkeit, Hauptsache: die Musik ist gut, das Studium locker und lang, die Kneipe billig und laut - und - die "Weiber" sind erreichbar.
Wenn letzteres gelingt, begint unserem Phänotypen der Siebziger das Herz zu rasen, werden langsame Platten aufgelegt. "Stairway to Heavan" von Led Zeppelin! Immer noch stark. Mit romantischer Ironie erzählt Matthias Politycki von einer Generation, die so gerne heftig wäre, besonders im Umgang mit Frauen, am Ende aber in beinahe allen Lebenslagen nur sympathisch dasteht, so sympathisch, daß sie einem fast schon wieder leid tun kann. Gregor - ein Mann, der die Frauen liebt, einer, der gerne ein Weiberhld wäre, - und doch nicht erwachsen wird. Einer, der es gern mindestens so tragisch hätte wie die Serien-Liebhaber bei Truffaut, am Ende aber immer nur ganz prosaisch verlassen wird, ohne daß die Frauen in diesen Affären selbst das Gefühl hätten, jemanden verlassen zu haben. Das ist hart.
Drei Liebesgeschichten in einem Roman, drei Frauen - drei Niederlagen. Gewidmet einer - naturgemäß unsterblichen - ewig unschuldigen Jugendliebe im westfälischen Lengerich, einer ansatzweise herrlich versauten Beziehungskiste in Wien und der endgültigen Traumfrau in Stuttgart, mit der alles klappt, nur nicht das, was mit der süßen Wienerin ausschließlich gut funktionierte . . . Die Stuttgarterin schließlich, sehr blond, sehr kühl, sehr groß und metropolenbewußt, schon ganz ein Typ aus den achtziger Jahren: für Gregor, dem ewigen Literaturstudenten und verhinderten Schriftsteller jedenfalls eine Nummer zu anstrengend. "Weiberroman" - kein Angriff auf den Feminismus, eher ein männlich-herzoffenes Eingeständnis ins Scheitern aller Bemühungen um die Frau an und für sich. Von daher ist der "Weiberroman" ein sehr altmodisches Buch.
Was bleibt und nach dem Zuklappen wie eine einzige Klangwolke weiterschwebt über dem Buch ist die Rockmusik jener Zeit. Sie spielt die eigentlich tragende Rolle im Text. Der Roman liest sich wie die Hommage auf die Blütezeit des Pop. Jüngste Tendenzen in der Mode (die Schlaghose, die langen Haare, der Mittelscheitel!), in der Musik ( siehe MTV!) und in der Kneipenkultur (man gege einmal ins Münchner "Atomic Café!) bestätigen alle derzeitigen Wiederbelebungsversuche der "goldenen Siebziger". Bei Reclam ist gar ein "Wörterbuch der siebziger Jahre" erschienen. Und Hans-Joachim Kulenkampff, unser "Kuli", kehrt in Kürze auch wieder auf den Bildschirm zurück, mit eine neuen Quizz-Sendung zur besten Sendezeit.
Matthias Politycki erzählt unaufgeregt und doch aufgekratzt, sentimental und doch nicht nostalgisch von der Musik, den Moden und den Gefühlen der siebziger Jahre, ohne deren fragwürdiges ästethisches Bekenntnis zur "Neuen Innerlichkeit" zu kopieren. Ohne den Anspruch eines Epochenromans vor sich herzutragen, schafft er es leichten Fußes, daß sich seine Leser - das richtige Alter, vorausgesetzt - in den Stimmungen jener Zeit wiedererkennen. Mit Erfahrungsliteratur, wie wir sie in den Siebzigern zu hauf hatten, haben wir es gleichwohl nicht zu tun. Für diejenigen, die in den siebziger Jahren tatsächlich das eigentliche goldene Jahrzehnt sehen, ist der Roman jetzt schon ein Kultubuch .
Die literaturtheoretische Flanke zu seinem "Weiberroman" hat der Autor, Profi durch und durch, selbst geschlagen. Im Rahmen seiner Münchner Poetikvorlesung im vergangenen Juni setzte sich der in Hamburg lebende Politycki vehement für eine Generation ein, die der Essayist Reinhard Mohr einmal die "Achtundsiebziger-Generation" nannte und in seinem Buch als "Zaungäste" der vorangegangenen Generation, den Achtundsechzigern also, brüsk in die Ecke stellte.
Politycki ist angetreten, die "Achtundsiebziger" über den Zaun zu heben und ins Flutlicht der Medien zu stellen, nachdem die "Achtundsechziger" lange genug den Ton im intellektuellen Deutschland angegeben und den Marsch durch die Institutionen längst gewonnen haben. Überall hocken sie bekanntlich, die Festangestellten, die Besserverdienenden, in Universitäten, Redaktionen, Kultureinrichtungen jedweder Art, mit dreizehntem Monatsgehalt, Urlaubsgeld und genügend Zeit für den Ferienwohnsitz in der Toscana oder in Irland, sie, die Ex-Achtundsechziger, die unausgesprochenen Antihelden in Matthias Polityckis Suche nach der wirklich verlorenen Zeit.
Die "Achtundsiebziger" dagegen, also diejenigen zwischen 35 und 45 etwa: sie sind nicht mehr rangekommen an die begehrten Jobs. Sie haben in einem Jahrzehnt des "zweiten Bildungswegs" und Reformübermuts, des Herumhängens und Moserns, lustigen Kiffens und von Aidsgefahr noch nicht bedrohten Herumhurens so lange studiert, bis alles zu spät war und am Ende gar von den "Neunundachtziger" überrundet wurden. Von all den gut frisierten und gekleideten Yupppies (welcher vernünftige Jüngling "macht" heute noch "in" Sozialpädagogik oder Germanistik?) all den BWL-Studenten, Computerfachlsuten, PR-Beratern, Laptoppern, Handymännern, die es den zehn Jahre älteren Sozialschwärmern so richtig zeigen, wo es lang geht, heute.
Daß die Achtundsiebziger, wenn schon nicht im Sinne des Bruttosozialprodukts, so doch aber intellektuell sehr wohl etwas geleistet haben, belegt Matthias Politycki unrter anderem mit dem Hinweis auf die Erfindung der Postmoderne. Die hätte sich freilich nur durchgesetzt, weil die Achtundsiebziger zuvor mit ihren Visionen und Utopien gescheitert seien. Keine uninteressante These, das. Und sind es nicht die Achtundsiebziger, die nach der hochmütigen Proklamation des Endes aller Literatur am Ende der sechziger Jahre, die Szene wieder zurück zur Literatur gelotst haben?
An Selbstbewußtsein jedenfalls mangelt es Matthias Politycki nicht, wiewohl seine schneidige Poetikvorlesung immer auch aus der Deffensive heraus formuliert ist. O-Ton-Politycki, Poetik-Vorlesung München: "Die Beschreibung, die Reinhard Mohr - selbst 1955 geboren - von dieser angeblich 'historisch überflüssigen Zwischengeneration' gibt, fällt entsprechend ätzend aus: Abgesehen von ihrer Fähigkeit, jeden gleich niederzudutzen und sich in Männerselbsthilfegruppen an die Erstellung von Selbstgehäkeltem zu begeben, haben die Vertreter nicht viel zu bieten: sei's dem Betroffenheitsfachmann, sei's der WG-Gleichstellungsbeauftragten in Sachen Geschirrspülen, sei's dem feministischen Softi, dem Latzhosen-Zorro für einen politisch korekten Orgasmus - Mohr bescheinigt ihnen allen kaum mehr als larmoyante Mittelmäßigkeit. Müßig zu sagen, daß ich Mohrs Einschätzung für mittlerweile überholt halte. (...) Das ist ja das Schöne, das Bezeichnende an unserer Generation, daß wir nicht (wie die Achtundsechziger) von einem Großereignis geprägt wurden, sondern uns vielmehr in Richtung Cordoba, aber auch in Richtung Gorleben oder Stammheim wenden konnten: die 78er, das ist eine Generation aus lauter Individualisten!"
Das mag stimmen oder nicht, die sentimentale Reise, auf die Matthias Politycki seinen Romanhelden schickt, ist ein literarisches Glückserlebnis für den Leser. Und wann sonst kann man heute, da ein universeller Ernst die Verlagsprogramme bestimmt, von einem gut gelaunten schon Buch sagen, daß es nicht peinlich ist, nicht tirvial und nicht überflüssig? Wie schrieb doch Wolf Wondratschek, Vorkämpfer aller Achtundsiebziger: "Immer mit der Ruhe Junge/ lies die Zeitung nochmal/Trink noch'n Whisky/einen auf die siebziger Jahre/dieses elende großzügige Jahrzehnt".