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Weiche Formen

Seine Großplastiken auf öffentlichen Plätzen und vor Regierungsgebäuden machten Henry Moore berühmt. In der Londoner Tate ist nun eine umfassende Retrospektive zu sehen, die auch weniger bekannte Seiten des britischen Künstlers zeigt.

Von Hans Pietsch |
    Das Bild, das man von Henry Moore hat, ist das eines gemütlichen, fast onkelhaften Künstlers - typisch englisch -, der leicht verdauliche moderne Skulpturen schuf. Sanft abgerundete Frauenkörper, abstrakte, auf Kieseln und Knochen basierende Formen, in der Landschaft oder in Parks aufgestellt - die beruhigende Sprache der Natur.

    Zunächst bestätigt sich dieses Bild beim Gang durch die Ausstellung, sieht alles mehr oder minder vertraut aus: der Einfluss afrikanischer Masken, der Steinplastiken der Maya und des Surrealismus in den 20er-Jahren, die allmähliche Hinwendung zur Abstraktion in den Dreißigern, die bekannten Motive wie die Liegende oder Mutter und Kind.

    Doch nach und nach beginnt sich ein anderer Henry Moore herauszuschälen, einer, dem man bisher nicht begegnet ist: eckiger, kantiger, aggressiver, düsterer. Man versteht plötzlich, warum ein Kritiker in den 50er-Jahren schrieb: "Seine Kunst ist alles andere als sanft" und warum der Direktor der Tate in den Dreißigern schwor, niemals eines seiner Werke für sein Museum zu erwerben. Genau darauf will die Ausstellung hinaus: diesen neuen, alten Moore gegen sich selbst zu verteidigen.

    Zugegeben: Sie hilft ein bisschen nach, indem sie die Plastiken vor blutrote oder giftgrüne Wände platziert. Die Arbeiten brauchen eine solche Dramatisierung eigentlich gar nicht. Der erste Raum etwa spürt dem Einfluss sogenannter primitiver Kunst nach. Er strotzt nur so von Sexualität - afrikanische Kunst, so schrieb Moore, ist "Religion und Sex". Die erotische Ausstrahlung der voluminösen Formen seiner weiblichen Figuren überwältigt, eine "Skulptur" genannte Arbeit von 1937 reduziert die Frau gar auf eine von einer Art Schraubzwinge umschlungene Brust.

    Moore, so argumentiert die Schau, reagierte mit seiner Kunst auf die Zivilisationskrise des 20. Jahrhunderts, verarbeitete Freuds Psychoanalyse ebenso wie die Traumfantasien des Surrealismus. Ein "Stillendes Kind" von 1930 stellt eine Brust dar, an die sich das Kind klammert, der aggressive "Helm" von 1939, der eine stehende Figur umschließt, könnte ein Symbol für den Spanischen Bürgerkrieg sein - Moore war glühender Antifaschist.

    Die psychologischen Auswirkungen der traumatischen Erlebnisse als Soldat im Ersten Weltkrieg spielte Moore immer herunter: Er war einer von nur 50 Überlebenden seiner 400 Mann zählenden Einheit. Man sprach nicht über Gefühle, seine verzerrten, gebrochenen Formen drücken aus, was er empfunden haben muss. Noch in den 50er-Jahren schuf er gestürzte Krieger, manche mit fehlenden Gliedmaßen. Einer von ihnen, "Krieger mit Schild" von 1954, so schrieb der linke Kritiker John Berger damals, könnte der Kampagne für nukleare Abrüstung als Logo dienen - Moore war einer der Mitbegründer der pazifistischen Organisation.

    Dazu kommen die im Krieg in den als Luftschutzkeller benutzten Londoner U-Bahnschächten entstandenen Zeichnungen, auf denen er - so die bisherige Interpretation - den Heroismus und die stoische Haltung des Inselvolkes im Angesicht der deutschen Bombardierungen darstellte. Hier sehen sie düster aus, er zeichnete Leidende, nicht Helden. Die dicht an dicht liegenden Körper erinnern beinahe an die furchtbaren Fotos von Überlebenden der Konzentrationslager.

    In die Lesart der Schau passt Henry Moores Spätwerk allerdings nicht hinein. Es setzt sich nicht mehr mit seiner Zeit auseinander, so argumentieren die Kuratoren, es bezieht sich mehr auf sich selbst. Kunst als Nabelschau und Kunst am Fließband. So endet die Ausstellung nicht mit den späten Bronzen, sondern mit einer, wenn auch interessanten, Ausflucht: mit dem Blick auf eines seiner dominanten Motive - die Liegende. Zwischen Anfang der Dreißiger bis Ende der Siebzigerjahre schuf er sechs monumentale Liegende aus Ulmenholz. Vier von ihnen stehen im letzten Raum. Ihre Sexualität ist greifbar und sie zeigen auch das technische Können des Plastikers: wie er etwa die Maserung des Holzes einsetzt, um Knie und Brüste zu artikulieren, oder Gliedmaßen zu verlängern - der würdige Abschluss einer längst überfälligen Rehabilitierung.

    Die Ausstellung in der Tate Britain läuft noch bis zum 8. August 2010.