Freitag, 29. März 2024

Archiv

Weihnachtslieder
Die instrumentalisierte "Stille Nacht"

Es gab Zeiten, da waren traditionelle Weihnachtslieder in Studierenden- und Forscherkreisen eher verpönt – beispielsweise in den wilden 1968-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Das hat sich ziemlich geändert. An der Uni Freiburg ist das wohl bekannteste Weihnachtslied sogar zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden – mit erstaunlichen Ergebnissen.

Von Thomas Wagner | 23.12.2015
    Eine Sternschnuppe leuchtet am Nachthimmel über Halle/Saale (Sachsen-Anhalt) auf.
    Von "Stille Nacht, heilige Nacht" existieren über 100 verschiedenen Versionen. (dpa / picture alliance / Hendrik Schmidt)
    (Musik: Traditionelle Fassung von "Stille Nacht, heilige Nacht")
    So kennen es die meisten von uns – das wohl bekannteste deutsche Weihnachtslied, das der Dorfschullehrer Franz Xaver Gruber und der Pfarrer Joseph Mohr für den Heiligabend-Gottesdienst 1818 in Oberndorf bei Salzburg komponierten. Und so kennen die meisten von uns "Stille Nacht" – eher nicht.
    (Musik: Arbeiterfassung "Stille Nacht, heilige Nacht")
    Eine Schellack-Platte aus den 20er-Jahren, die Michael Fischer, Direktor des Zentrums für Populäre Kultur und Musik der Uni Freiburg, im Keller seines Institutsgebäudes gefunden hat.
    Obwohl kaum mehr verständlich, stellt jeder Zuhörer doch fest: Hier hat jemand den Text verändert - richtig!
    "Es handelt sich hier um die Arbeiter-Stille-Nacht, die weit verbreitet war: Stille Nacht, heilige Nacht, rings umher Lichterpracht. In der Hütte nur Elend und Not, kalt und öde, kein Licht und kein Brot, schläft die Armut auf Stroh."
    Immer wieder hört sich Michael Fischer diese, wie er es formuliert, "Parodie" des alten Weihnachtsliedes an, das in der Arbeiterbewegung um das Jahr 1900 herum gesungen wurde – für den. Und: Fischer hat viele solcher "Parodien" entdeckt und ausgewertet: "Da liegen diese Mappen auf dem Tisch: Das sind jetzt diese drei Schuber. Und da sind hunderte von Belegen drin.
    Von Gewerkschaften, Militär und Machthabern instrumentalisiert
    Textbelegen mit den unterschiedlichsten Abwandlungen der ursprünglichen "Stille Nacht"-Version; nur ganz wenige davon sind auch als Tondokumente überliefert. Das hat Fischer neugierig gemacht. Und so wurden die Funde Gegenstand seiner ganz persönlichen Vorweihnachts-Forschungsarbeit.
    (Musik: "Stille Nacht, heilige Nacht, Arbeitsvolk, aufgewacht!")
    "Stille Nacht, heilige Nacht, Arbeitsvolk, aufgewacht!": Gerade beim Abspielen der alten Schellack-Platten wird deutlich: Über die Jahrhunderte hinweg wurde "Stille Nacht" von Gewerkschaften, vom Militär, aber auch von den jeweiligen Machthabern jeweils für ihre Zwecke instrumentalisiert und mit neuem Text versehen. Michael Fischer hat dazu ein ganz krasses Beispiel entdeckt. Eine "Stille-Nacht"-Version aus den späten 1930er-Jahren.
    "Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einfach wacht / Adolf Hitler für Deutschlands Geschick, führt uns zu Größe, zu Ruhm und zu Glück."
    Ein Glück, dass diese Version seinerzeit in der Bevölkerung kaum auf große Resonanz gestoßen ist: "Soweit wir das beurteilen kennen, eher nicht. In Büchern wird ja vieles gedruckt. Und diese völkische Religion hat ja nur wenige begeistert." So Michael Fischer, der "Stille-Nacht"-Forscher an der Uni Freiburg. Ein Weihnachtslied erobert die Welt, wird durch die Jahrzehnte hinweg verändert, instrumentalisiert – und ist heute wieder genauso beliebt wie vor über 200 Jahren, auch bei Studierenden.
    Über 100 Versionen werden ausgewertet
    "Carolin Bohn aus Freiburg, Zahnmedizin."
    "Julian Lerch, ich studiere Lehramt für Geschichte, Politikwissenschaften und Wirtschaft."
    "Stille Nacht, heilige Nacht.."
    "...alles schläft, einsam wacht: Nur das traute hochheiliger Paar/Blende."
    "Das ist natürlich der Ursprung, warum wir Weihnachten feiern – und warum es so schöne Lieder gibt."
    "Also ich bin katholisch erzogen. Für mich hat das Lied schon noch einen Wert."
    Doch über den Werdegang der "Stillen Nacht" durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte haben Carolin Bohn und Julian Lerch noch nie so richtig nachgedacht. Dass es weit über 100 Versionen gibt, die nun im Zentrum für populäre Kultur und Musik ausgewertet werden, haben die Studierenden bislang nicht gewusst.
    "Das ist schon wichtig, dass man erfährt, für was das alles instrumentalisiert wurde, dass man weiß, dass die Leute halt das missbraucht haben für andere Zwecke."
    "Ja, weil es eben so ein emotionales Lied ist, ist es auch klar, dass man damit arbeiten kann: Nazifassung et cetera pp."
    "Stille Nacht, heilige Nacht"
    Aus den Kehlen der Freiburger Studierenden dringt aber ausschließlich die Ursprungsfassung von 1818, das allerdings mit deutlich erkennbarer Inbrunst. Anders dagegen "Stille-Nacht"-Forscher Michael Fischer. Der bleibt – erstaunlich still, wenn's ums "Stille-Nacht"-Singen geht.

    "Ne, da gibt's einfach eine Trennung von Beruf und privat. Ich bin kein Freund von Weihnachten. Es ist mir, glaub' ich zu viel außen rum. Und da kann ich wenig anfangen."