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"Weil sie die männliche Triebkraft fördern"

Das Hamburger Institut für Sozialforschung legt eine Studie der Historikerin Regina Mühlhäuser vor, die sich mit sexuellen Gewalttaten deutscher Soldaten in Osteuropa auseinandersetzt. Das Militär hat sich darum vor allem aus einem Grund gekümmert: Die Zahl geschlechtskranker Soldaten war bedrohlich hoch.

Von Mirko Smiljanic | 18.10.2010
    Das Leben an der Front war hart, allerdings gab es auch Lichtblicke. Wenn Wehrmachtsangehörige bei ihren Einsätzen beispielsweise Alkohol und echten Bohnenkaffee fanden, oder wenn sie – was in vielen Dörfern die Regel war – junge Mädchen und Frauen trafen. Berauscht vom Wodka und der extremen Situation des Krieges, ließen viele alle Hemmungen fallen: Sie suchten sexuelle Kontakte zu den einheimischen Frauen – und fanden sie auch. Oft bei Prostituierten, standen die nicht zur Verfügung, wurden die Frauen vergewaltigt. Einzeln, in Gruppen, nicht selten wurden sie anschließend erschossen. Die Palette sexueller Gewalttaten ist breit.

    Mühlhäuser: "Ich fasse darunter erzwungene Nacktheit, also das erzwungene Entkleiden, unterschiedliche Formen von sexueller Folter, Vergewaltigung, Gruppenvergewaltigung, sexuelle Versklavung, erzwungene Schwangerschaft. Und dann geht das natürlich fließend über in zum Beispiel Schutzprostitution oder Nahrungsmittelprostitution, wo ja die Grenzen zwischen Gewalt und sexuellem Tauschhandel, Freiwilligkeit, auch fließend sind."

    Regina Mühlhäuser beschäftigt sich mit einem Tabuthema: mit den sexuellen Übergriffen deutscher Soldaten während des Zweiten Weltkrieges. Die Greueltaten japanischer Soldaten sind bekannt, aber auch die sexuellen Übergriffe der Roten Armee an deutsche Frauen. Angesichts solcher fast schon ritualisierter "Eroberungen" erscheint es unwahrscheinlich, dass die insgesamt 17 Millionen an allen Fronten eingesetzten deutschen Soldaten eine Ausnahme darstellen. Immerhin: Die Wehrmachtskriminalstatistik spricht eine andere Sprache: Bis 1944 wurden knapp fünfeinhalbtausend Männer wegen Sittlichkeitsverbrechen verurteilt. Zum Vergleich: 1,5 Millionen Urteile gab es wegen Fahnenflucht oder Zersetzung der Wehrkraft. Die tatsächliche Zahl der sexuellen Übergriffe dürfte aber dramatisch höher liegen, wie Regina Mühlhäuser aus Tagebüchern, Briefen, Aktenvermerken und Schilderungen einheimischer Frauen schließt. Und es ist klar, dass sich die Wehrmachtsführung mit dem Problem auseinandergesetzt hat. Pragmatisch denkende Offiziere kamen rasch zur Erkenntnis, dass den Soldaten im Felde vieles zugemutet werden kann, nur bitte kein "Triebstau". Die Probleme lagen für das Militär an anderer Stelle: Die Zahl geschlechtskranker Soldaten war bedrohlich hoch. Also wurden in einigen Bereichen Bordelle eingerichtet.

    "Die Idee ist einerseits zu sagen, wir können die Männer sowieso nicht kontrollieren, es wird einfach davon ausgegangen, dass der Mann alleine im Feld sexuelle Kontakte haben muss. Und es wird davon ausgegangen, dass gegen Gesetze, die man erlässt, immer verstoßen wird. Und auf der anderen Seite wird gesagt, wir brauchen die heterosexuellen Kontakte, weil sie eben die männliche Kampfkraft fördern, dann bindet das natürlich auch den Einzelnen an die Armee."

    Je länger der Krieg dauerte, je "friedlicher" sich das Leben in der Etappe entwickelte, desto intensiver wurde die Sehnsucht der Soldaten nach "Normalität". Viele Soldaten verliebten sich in einheimische Frauen und wollten heiraten. Die einvernehmlichen sexuellen Kontakte, zu denen letztlich auch die Prostitution zählte, darf nicht unterschätzt werden.

    "Zahlreiche Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion betonen in ihren Erzählungen, dass die Deutschen anders gewesen seien als die Männer, die sie bis dahin gekannt hatten. Sie schildern einen 'Reiz des Fremden', der anziehend und interessant auf sie gewirkt habe. Die damals 16jährige Aija, die am Rande eines deutschen Feldflugplatzes lebte, schilderte die Kampfflieger, die sie dort beobachten konnte: Ganz jung seien die Offiziere gewesen, sympathisch und lebenslustig, höflich und schneidig."

    Die Militärführung war gespalten: Die einen lehnten Ehen mit Russinnen und Osteuropäerinnen grundsätzlich ab, andere, die Pragmatiker, sahen darin die Chance einer größeren Akzeptanz bei der Bevölkerung in den eroberten Gebieten. Und ein weiteres Problem musste gelöst werden. Viele Frauen wurden schwanger. Auch hier gab es unterschiedliche Vorschläge: Die einen wollten die Kinder möglichst unauffällig verschwinden lassen.

    "Es gibt aber 1942 einen Generaloberst Schmidt, der macht eine Tischvorlage für Hitler, in der er sagt, im Osten stehen sechs Millionen deutsche Männer, die Hälfte dieser Männer hat sexuelle Kontakte mit einheimischen Frauen, in wiederum der Hälfte der Fälle werden aus diesen sexuellen Kontakten Kinder entstehen, und er ist sich dann auch nicht zu blöd zu sagen, 750.000 Mädchen und 750.000 Jungen pro Jahr, wir müssen mit diesen Kindern umgehen."

    "Eroberungen – Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941-1945" wird die Debatte um die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg neu entfachen. Und es verweist auf manche aktuellen Debatten um sexuelle Übergriffe etwa von NATO-Soldaten während ihrer Missionen. Das Buch ist gut lesbar. Es ist angereichert mit historischen Bildern von Soldaten, deren Auswahl die Fotohistorikerin Petra Bopp übernommen hat. Und es wirft auch einen Blick auf die Nachkriegszeit.

    "Nach Ende des Krieges entschieden die meisten Männer sich, ihre sexuellen Erlebnisse zu verschweigen. Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee wurden ebenso zum Thema wie die Tatsache, dass manche Frauen Verhältnisse mit alliierten Soldaten oder Kriegsgefangenen eingegangen waren. Dabei wurde den Frauen immer wieder vorgeworfen, die Männer verraten zu haben: "Hat die deutsche Frau versagt?", fragte beispielsweise der "Stern" 1948."

    Regina Mühlhäuser: Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941 – 1945, 416 Seiten, 32 Euro, Hamburger Edition