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Weimarer Nietzsche-Kolleg
Die Philosophie auf die Straßen hinaustragen

Um die breite Öffentlichkeit für die Philosophie zu begeistern, richtet das Weimarer Kolleg Friedrich Nietzsche regelmäßig seine Tagung aus. In diesem Jahr ging es um die kritische Theorie und die Frage, wo der Mensch sich in den stürmischen Zeiten im Kapitalismus wiederfindet.

Von Henry Bernhard |
    Der Sozialphilosoph Oskar Negt
    Auch der Sozialphilosoph Oskar Negt referierte in Weimar. (picture alliance / dpa / Holger Hollemann)
    Der Philosoph Ernst Bloch schrieb in seinem zentralen Werk "Das Prinzip Hoffnung": "Die Menschen haben keinen aufrechten Gang, wenn das gesellschaftliche Leben selber noch schief liegt." Eine Art Blochsche Variante von Adornos "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." Das Weimarer Nietzsche-Kolleg nahm sich Blochs Sentenz an, wie der Leiter des Kollegs, Rüdiger Schmidt-Grépály, erklärt.
    "Der Titel der Veranstaltung lautet "Der aufrechte Gang im windschiefen Kapitalismus". Ein Wortspiel auf Ernst Bloch, der immer versuchte, uns beizubringen, davon sprach, der aufrechte Gang sei überhaupt erst zu lernen. Und dann in den jetzigen stürmischen Zeiten, in denen wir uns befinden, oder denken sie an die Regenschirme, auch an Windschirme, mit denen man Banken rettet: So kam es von unserem Fellow Henry Pickford zu diesem schönen Wortspiel und Titel der Tagung."
    Es ging vom Donnerstagabend bis zum Sonntagmittag im Weimarer Goethe-Nationalmuseum um die kritische Theorie, um deren Schwäche nach dem Ende des Staatssozialismus, um ein Dennoch gegen die bestehenden, selbstzerstörerischen Verhältnisse des weltumspannenden Kapitalismus, der sich verschiedenste Häute oder auch Schafspelze umlegen kann, wie Schmidt-Grépály beklagt.
    "Der Kapitalismus hat die Kritik nötiger denn je! Ja, aber: Sehr erfolgreich in China! Kapitalismus ist sehr wandlungsfähig offenbar! Also, Kapitalismus stört sich nicht! Der kann nationalsozialistisch sein, er kann faschistisch sein, er kann sich wie in China kommunistisch nennen; er kann auch sehr gebändigt sein wie in Skandinavien; er kann islamisch werden. Und schockierend ist, dass es die Verbindung vom Kapitalismus zur Demokratie nicht gibt. Das ist eher die große Gefahr, wie wir die Demokratie innerhalb der kapitalistischen Gesellschaften, die jetzt erschüttert werden, wie wir die Demokratie bewahren können! Der Kapitalismus selber ist dermaßen flexibel."
    Als einer der ersten referierte der Sozialphilosoph Oskar Negt, der, durchaus immer auch am Praktischen orientiert, bekannte, dass etwas gewaltig schief gelaufen sei und dass die Linke ein Aufarbeitungsproblem habe:
    "Das heißt, der normative Überhang hat die Sozialisten davor geschützt, die realen Verhältnisse wirklich zu erkennen. Denn ich bin auch Mitherausgeber der "Praxis" gewesen, dieser Zeitschrift, dieser jugoslawischen. Und ich habe sie jetzt noch einmal durchgesehen: Die jugoslawischen Probleme kommen überhaupt nicht vor."
    Die Philosophie müsse hinaus, auf die Straßen, in die Schulen, um den Menschen Urteilskraft zu geben. Burghart Schmidt, der letzte Assistent von Ernst Bloch und Herausgeber von dessen Gesamtwerk, referierte über den "Vorrang der Ästhetik vor der Ethik". Wer da jedoch den Triumph der Schönheit über den Inhalt heraushören wollte, lag falsch. Vielmehr ging es Schmidt um die nötigen Einwände, die die Kunst immer gegen enge rationale Gerechtigkeits- und Gleichheitsbestrebungen angemeldet habe und weiter anmelden müsse:
    "Und dagegen hat die Kunst immer protestiert; das ist eine ihrer Hauptfronten: Die Verengung des Glücksbegriffs unter dem Druck der Not. Aber wir haben doch ein breiteres Verlangen nach Leben und Existenz, als dass nur gerade alle Notlagen ausgebügelt würden. Wie wir ja bei allen Fanatikern der Gerechtigkeit verfolgen können: Wie haben sie prima aus solchem Fanatismus heraus Höllen hergestellt auf der Welt!"
    Das Weimarer Publikum der Tagung des Nietzsche-Kollegs war eher männlich und nicht mehr ganz jung. Unter den 27 Referenten waren drei Frauen. Abseits aller Theorie-Debatten macht sich der Leiter des Kollegs, Rüdiger Schmidt-Grépály, Sorgen um die Zukunft der kritischen Theorie, die von einer postmodernen Beliebigkeit beiseitegeschoben worden sei. Unter seinen Studenten kenne keiner mehr Adorno, Horkheimer oder Sartre. Ihn selbst sähen sie wie ein Fossil. Und so sei dieses Kolleg zur Not immer noch eine Chance, die kritische Theorie durch die Nacht zu bringen, die Vorträge würden schließlich archiviert.
    "Adorno sagt, Philosophie bleibt nötig gerade im Angesicht der Verzweiflung. Für Momente etwas aufscheinen zu lassen, Momente der Hoffnung und so. Aber das ist dann relativ wenig. Es ginge vielen sicher besser, also mir ginge es besser, wenn diese Theorie nicht in meinem Kopf wäre! Aber nun ist die einmal da, und wie Adorno sagt, "Was einmal triftig gedacht wurde, kann und wird immer wieder triftig gedacht.", da kommt man ja nun nicht wieder von weg. Also müssen wir versuchen, weiter kritisch zu denken und dennoch gute Laune zu behalten."