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Weiße Segel am Horizont

Das Meer zum Baden - die Küste als Ort der Entspannung. Erst seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts stürzen wir uns in die Fluten. In Bolthagen tat dies der niederdeutsche Dichter, Fritz Reuter. Zu DDR-Zeiten galt nachts Strandverbot. Heute blüht der Tourismus.

Von Korbinian Frenzel |
    Welch ein Blick: unter uns spielt das wogende Wasser sein Spiel mit den Farben, hier ein kleines Aufblitzen der Sonne auf den Wellen, dann gleich wieder scheint es glasklar durch, das Licht der Mittagssonne, bis auf den Boden der Ostsee. Vielleicht zwei, vielleicht drei Meter unter der Wasseroberfläche liegt der weiße Sand. Und dann der Blick auf die Küste: der derselbe feine Sand, der sich hier unter uns im Wasser zeigt, er liegt da - ein weißer Streifen, kilometerlang. Strand zwischen dem Blau des Meeres und dem Grün der Dünen und der Bäume. Scheinbar nichts dahinter - nur Natur. Doch wo kommen sie her, all die Menschen, die spielenden Kinder, die kleinen Windschutzzelte und die unzähligen weißen Strandkörbe, die von hier aus - gut 300 Meter weg von der Küste, so klein aussehen. Versteckt sich da etwas, hinter den Baumwipfeln, zwischen den Kiefern.

    "Meine Damen, mein Herr, ich darf Sie herzlich begrüßen im Namen der Kurverwaltung Ostseebad Boltenhagen. Meine Name ist Christiane Meier. Und ich würde gerne mit Ihnen einen kleinen Spaziergang durch den Ort unternehmen."

    Da ist also wirklich etwas, ein Ort. Auf der Seebrücke steht die Frau in der grünen Sommerhose und dem kakifarbenen Hemd, und sie kann sich offenbar selbst noch immer an dem kleinen Versteckspiel erfreuen, dass die Natur im Verein mit ihrem Seebad spielt.

    "Das steht zwar nirgendwo, aber bislang hat man es eingehalten und man hält sich auch dran, dass kein Gebäude, was neu gebaut wird, höher sein darf als die Baumkronen. Das macht auch wirklich den Charme von Boltenhagen aus, dass es noch viele grüne Ecken gibt."

    Boltenhagen, acht Bauern und ihre Höfe. So sah es vor 200 Jahren aus. Heute sind es sehr viel mehr Häuser - und doch: von hier, von der Holzplanken der Seebrücke aus, das lässt sich nur ahnen, dass sie versteckt im Grün irgendwo schlafen werden, all diese Menschen, die ihre Sommerlaune am Strand verleben.

    Wir sind im zweitältesten Seebad an der mecklenburgischen Küste, das erfahren wir schnell von Christiane Meier. Nur Heiligendamm ist älter. Eine lange Geschichte - und auch eine kurze. Denn da, wo wir jetzt stehen, da hätten wir vor 20 Jahren noch nicht stehen können. Die Seebrücke von Boltenhagen, ein langer Arm in die Ostsee. So lang, dass es ihn nicht geben durfte. Für bald drei Jahrzehnte. Doch das ist eine Geschichte, die warten soll, die Geschichte über den westlichsten Badeort der DDR, über Urlaub am äußersten Rand des Arbeiter- und Bauernstaates.

    Denn das, was Christiane Meier uns erstmal zeigen will - es ist aus Junker-Hand. Eine ziemlich clevere Idee des Grafen von Bothmer. Wir haben die Seebrücke verlassen und gleich hinter den Dünen, an der Promenade steht dieses eigenartige Gefährt aus Holz. Ein Bade-Karren.

    "Hier vorne war das Pferd angespannt. Dann kletterten die Damen - da waren wirklich nur die Damen, die Herren durften ja so ins Wasser. Die ist dann hier hinten reingeklettert. Das ist eine Tür - auf der anderen Seite - und dann wurde dieser Vorhang hier runtergelassen. dann wurde der Badekarren ins Wasser gezogen. Die Dame ist dann ausgestiegen, hat schön geplanscht unter diesem Verdeck, denn man durfte ja kein Stückchen Haut sehen."

    Das Meer zum Baden - die Küste als Ort der Entspannung. Es ist eine junge Idee am Anfang des 19. Jahrhunderts. Und äußerst befremdlich für die Bauern und Fischer in Boltenhagen und anderswo an der See, sie hatten kaum das Bedürfnis im Meer zu baden.

    Ganz anders der Graf von Schloss Bothmer aus dem nahen Klütz, der 1803 zum ersten Mal mit diesem Karren an die Ostsee zog. Und es zog ihn an genau dieselbe Stelle wie heute Tausende von Urlaubern: an den kilometerlangen Sandstrand von Boltenhagen. Ein Pionier des Tourismus. Wenige Jahre später zählte der Ort schon ganze zehn Sommergäste. Und irgendwann entdeckten auch die erstaunten Bauern das Potenzial.

    "Also hatten sie dann die glorreiche Idee, diese kleinen Räume wurden ganz zu gemacht, Viehzeug raus. Es wurden Bohlen reingelegt, darauf kamen dann Bretter, die Wände wurden gekalkt. Es wurde ein Bett reingestellt. Und das Urlauberquartier war fertig. Und auf die Art und Weise haben sie dann richtig gut Geld verdient."

    Wir laufen entlang der Dorfstraße. Und wenn nicht immer wieder die Autos der Tagesbesucher an uns vorbeiführen, könnte man sich fast im Damals des alten Boltenhagen wähnen. Zwischen den alten Fachwerk- und Backsteinhöfen. Sie sind alle noch da, Reet bedeckt und liebevoll restauriert. Viel Platz dazwischen - und, wie sollte es anders sein - eingetaucht in das Grün der Wiesen und Bäume um sie herum. Im Boltenhagen von heute sind die Höfe etwas an den Rand gerückt, der Tourismus mit seinen Hotels, Cafés und Restaurants hat das Zentrum des Ortes nach Osten verlagert. Glück für die, die einige der wenigen Zimmer in den alten Häusern ergattern, sie könnten fast das Gefühl kriegen, Urlaub wie damals zu machen. Zum Beispiel wie Fritz Reuter. Dem niederdeutschen Dichter hat es offenbar gefallen - die Boltenhagener haben den Beweis in Stein gemeißelt, auf den Reuter-Stein an der Dorfstraße.

    "Da steht drauf: 'So habe ich das vergnügen, ihnen zu melden, dass ich hier ein Leben führe wie die Fliege in der Buttermilch.' das ist ein Ausspruch von Fritz Reuter - und zwar hat er das 1855 nach Hause geschrieben. Da hat er nämlich zum ersten Mal Urlaub hier gemacht."

    Reuter an allen Ecken: ein Weg, ein Haus, sogar eine Reuter-Währung gibt es in diesem Jahr - zum 200. Geburtstag des Dichters. Es gab auch mal einen Reuter-Saal. Doch der ist abgerissen - und die Erinnerungen an ihn, sie führen langsam auch zu der Geschichte, die von der Seebrücke erzählt. Urlaub in der DDR, 13 Tage Ostsee, zugewiesen vom FDGB, vom Gewerkschaftsbund - Essen gab's nach Plan.

    "Das Fritz-Reuter-Heim ist die zentrale Verpflegungsstätte gewesen, wo alle Urlauber gegessen haben. In den Ferienquartieren, da waren ja keine Möglichkeiten zu kochen. Das heißt, man hat alle Mahlzeiten in diesem Haus eingenommen. Und das bedeute das es da wirklich ganz feste Zeiten gab, in denen da gegessen wurde. Und die wurden alle in dem großen Saal verpflegt - in Schichten sozusagen."

    Heute steht hier, wo früher in Schichten gegessen wurde, das teuerste Hotel am Orte. Wir haben die Dorfstraße verlassen und blicken von der Strandpromenade auf das weiße Gebäude. Ganz oben, in der verglasten Etage, da sei das Schwimmbad, erzählt Christiane Meier. Und von dort soll man weit auf die Ostsee blicken können - auf die Fähren am Horizont, die Segel der Boote. Sehnsuchtsbilder. Vor allem für Menschen wie sie, die hier geboren und fast ihr ganzes Leben lang in Boltenhagen gelebt haben. Und die gesehen haben, wie Politik den Horizont verändern kann.

    "Es durfte auch bis auf Luftmatratzen nichts im Wasser verwendet werden, womit man hätte weiterschwimmen können - zum Beispiel Schlauchboote oder so. Wir haben früher immer gesagt, wie toll muss es aussehen, wenn man am Horizont weiße Segel sehen könnte. Heute haben wir sie - und man kann nur sagen: ja, schön!"

    Bis vor 20 Jahren, da war Boltenhagen nicht nur ein sehr beliebter Badeort der DDR. Er war auch stets etwas besonderes, denn weiter als bis hierhin ging es nicht. Zur Grenze, die durch Deutschland ging, da waren es zwar noch gut 15 Kilometer entlang der Steilküste. Doch die waren abgesperrt, eingezäunt und weggemauert, damit ja keiner rüberschwimmen konnte in die Lübecker Bucht, in den Westen. Doch auch in Boltenhagen war so einiges anders. Vor allem nachts: Scheinwerfer leuchteten die Küste in der Dunkelheit ab. Von acht Uhr abends bis sechs Uhr morgens herrschte Strandverbot. Teenager-Erinnerungen:

    "In der Jugend, da geht man dann doch mal gerne runter. Und möchte dann unten sitzen gemütlich oder Musik hören. Oder was auch immer. Also man hat sich kaum hingesetzt, da standen da schon die Grenztruppen vor einem. Man musste den Ausweis vorzeigen. Und wenn man den nicht hatte, wurde man mitgenommen. Egal wie oft, aber man wurde jedes Mal mitgenommen. Und wenn man einen hatte und sich wirklich ausweisen konnte, dass man hier aus dem Ort war, dann wurde man einfach nur so nach Hause geschickt."

    Zu nah war der internationale Schifffahrtsweg vom westlichen Travemünde nach Schweden und Finnland, als dass die DDR auch in Boltenhagen zu viele Freiheiten riskieren wollte. Und eine Seebrücke, der Stolz des Badeortes bis zum Krieg, sie sollte, sie brauchte es auch nicht geben. Schiffsverkehr gab es ohnehin nicht mehr.

    Gerd Stachow ist ein groß gewachsener Mann, das sommerliche weiße Hemd ist weit aufgeknöpft. Und die Erinnerungen, sie sind lebendig. Ob er es war, der Manager und Texteschreiber der DDR-Kultband Winnie zwei, der sein Herz in Boltenhagen ließ?

    "Hier im Ostseebad kursieren ja so wunderbare Geschichten, dass einer unser Musiker mal eine Liaison mit einem Mädchen, mit der Tochter eines Strandkorbvermieters hatte. Ich will gar nicht abstreiten, dass einer unser Musiker in den 70ern, da waren wir sehr oft in Boltenhagen, dass da mal eine Liaison gewesen ist. Ich wüsste allerdings nicht wer. Die Wahrheit ist, dass das ganze ein Auftragswerk war und dass der Kurt Demmler das Ding geschrieben hat."

    Es ist erst wenige Woche her, dass Winnie zwei mal wieder aufgetreten ist in Boltenhagen - in der Konzertmuschel im Kurpark. Ein kleines Revival der Band. In den 70er-Jahren sind sie viel an der Ostsee entlang getourt, erzählt Stachow. Er selbst war zunächst nur nach Feierabend dabei, quasi als Freizeitmanager der Band. Sein Beruf war bis 1981 ein anderer: Abteilungsleiter Kultur der Kreisstadt, zehn Kilometer Land einwärts: Grevesmühlen. Doch dann lud er die Beatles-Revival-Band aus Frankfurt am Main ein in die kleine Stadt in Mecklenburg. Und sprach offenbar ein bisschen zu viel mit den Musikern aus dem Westen.

    "Und wir haben uns über Musik unterhalten, all das was uns interessierte eben. es kamen kaum politische Gespräche zustande. Aber eine Woche später war ich meinen Job los wegen Kontaktaufnahme zu BRD-Bürgern, musste meinen Schreibtisch abgeben, die Schlüssel abgeben. Und dann war ich so, denk ich mal, der erste Arbeitslose in der DDR."

    Verbitterung, Zorn auf die DDR - man wird sie bei dem freundlichen Mann dennoch nicht finden. Nicht heute, wo er auf einer weißen Bank in dem kleinen, aber feinen Kurpark sitzt. Und auch damals nicht. Fast schon dankbar sei er für den Rausschmiss. Hat er doch seine Karriere als Berufsmusiker überhaupt erst angestoßen. Und damals hatte er schon etwas in der Tasche, was nur wenige DDR-Bürger ihr eigen nennen konnten: eine Lizenz als staatlich geprüfter Schallplattenunterhalter.

    "Da waren wir mal im Jugendclub und das sagte ein Mädel zu mir, irgendwann, nachts halb eins: Du, hast Du Lust mit mir baden zu gehen. Und dann haben wir da eben nackig rumgeplanscht und sind hinterher wieder in die Diskothek rein. - Sind Sie da nicht in die Scheinwerfer geraten? Es gab doch immer diese Scheinwerfer auch. - Die waren relativ weit weg. Den Scheinwerferstrahl, den hat man hier schon gesehen. Aber es war nicht so, dass man hier sofort festgenommen wurde, wenn man nachts um halb eins am Strand war. Das sind Ammenmärchen. Und wir sind auch nie festgenommen wurden. Es liefen zwar nachts dann hier Streifen lang, die NVA-Leute zu zweit mit einer MP. Das gab es und die haben einen dann auch gesehen. Aber mein Gott, das waren auch alles junge Leute. Die wussten, wie das ist, wenn man mit einem Mädel im Strandkorb sitzt. Die hätten's sicherlich selber gerne getan, aber die hatten als Mädel nur ihre Kalaschnikow umhängen."

    Er war sowieso an so mancher Stelle, der 50-jährige Mann, die damals Tabu war für die Menschen in der DDR. Zum Beispiel in dem 15 Kilometer langen Grenzstreifen, der am westlichen Ende von Boltenhagen begann. Heute ist der ehemalige Kolonnenweg, auf dem die Grenztruppen patrouillierten, ein Fahrrad und Wanderweg - entlang der Steilküste bis zum Priwall, bis zur Grenze bei Travemünde. Gerd Stachow musste nicht bis Mauerfall warten, um diesen Landstrich kennenzulernen. Er war als ganz junger Mann im Fernmeldebautrupp. Die Aufgabe: Aufbau und Wartung der Kommunikationsdrähte entlang des Zauns. Beobachtungen aus einer anderen Zeit:

    "In diesem Bereich waren ja keine Urlauber und kaum Menschen, weil die Küste ja gesperrt war. Und dann sind da CocaCola-Flaschen angeschwemmt worden oder irgendwas. So Sachen, die heute wirklich Müll sind, die hat man damals aufgesammelt, weil es aus dem Westen war. Und hat sich aus einer CocaCola-Dose dann den Schriftzug ausgeschnitten und irgendwo hingetan, weil das war eben etwas anderes. Das kam aus einer anderen Welt, nicht aus einem anderen Land, das kam aus einer anderen Welt. Das war so das Gefühl, was man hatte."

    Nostalgie, ja. Doch sie soll keine Ostalgie sein. Gerd Stachow freut sich über die gelungene Restaurierung seit der Wiedervereinigung, die Häuser, die wieder in schönen Farben erscheinen. Hier um den Kurpark, an der Mittelpromenade, die sich parallel zur Strandpromenade durch den Ort schlängelt. Alle Häuser haben unten kleine Geschäfte oder Restaurants - so wollte es die Gemeinde nach der Wende, damit die Promenade ein öffentlicher, lebendiger Raum wird. Und lebendig ist es hier an diesem Sommertag. Paare schlendern, Kinder rollen auf allerlei Gefährten, eine Fischräucherei lockt mit ihren Gerüchen in ihren Garten zu einer kleinen Sause. Unweit davon strecken auf einmal sieben Männer ihre Brustkörbe raus.

    Langsam verliert sich der Kosakenchor aus unserem Blick. Denn uns zieht es weiter in die "Weiße Wiek". Das sollten wir uns unbedingt anschauen, so hatte es uns Christiane Meier noch mit auf den Weg gegeben. Schließlich sei es so etwas wie ihr Kind - aus der Zeit, als sie Bürgermeisterin war. Auf dem Fahrrad geht's schneller, denn immerhin sind es zwei, drei Kilometer, erst entlang der Strandpromenade, dann quer rüber über den Tarnewitzer Huk, eine künstlich aufgeschwemmte Halbinsel. Die Nazis haben sie geschaffen in den 30er Jahren - für Schießübungen. In der DDR hat man dieses Erbe auf eigene Weise gepflegt. In der Weißen Wiek, am östlichen Ende der Halbinsel, lag der Hafen der "Grenzbrigade Küste". Man sollte es im Hinterkopf behalten, dann, wenn man sieht, was heute hier ist. Eine Marina haben sie erst vor zwei Jahren geschaffen. Platz für Segelboote und Yachten, da wo früher Grenzboote lagen. Drum herum erhebt sich mächtig eine Hotelanlage, doch die fast schon Prora'schen Ausmaße - sie sind verziehen, wenn man weiß, dass hier vorher alles streng abgeschirmt war von der Außenwelt.

    Heutzutage soll es hier übrigens auch dieses kleine Restaurant geben, das mit dem guten Fisch. In der Abendsonne wiegen sich die Masten der Boote im leichten Auf und Ab der Wellen. Ein traumhafter Blick von der Terrasse des Fischereihofs. Ja, sie ist in der Tat gut die Scholle. Und das Geheimnis, es soll sich morgen früh lüften. Das verspricht der Wirt. Treffpunkt sechs Uhr. Unten am Steg.

    Es ist noch ganz still in dem Hafen - und auch aus dem Hotel drum herum dringt noch kein Laut. Dafür steht die Sonne in ihrer morgendlichen Pracht da. Am Steg beim Restaurant sind sie schon startbereit, Uwe Dunkelmann und sein Kollege Jens.

    "Uschi" heißt das kleine schwarze Holzboot. Dunkelmann hat sich einen orange-farbenen Overall angezogen. Jetzt steuert er das kleine Boot heraus aus dem Hafen, auf die ruhig daliegende Ostsee. Er ist einer von fünf Fischern, die es noch gibt in Boltenhagen. Jetzt geht es raus aufs Meer - wie jeden Tag.

    "Wir fahren jetzt an die Riffkanten raus, wo so das Hauptfanggebiet ist momentan für Schollen. Wassertiefe so zwischen sechs und zwölf Metern. Laufen über das Riff rüber, auf die andere Seite, auf die Westseite. Da haben wir unsere Netze stehen und die wollen wir einfach an Bord holen."

    Am Mittag werden sie schon zu essen sein - in seinem Restaurant. Eine selbst geschaffene Verwertungskette. Dann und wann nimmt Dunkelmann auch Touristen mit - auf der kleinen Holzbank. Denn Fischen, um über den Verkauf Geld zu verdienen, das würde sich heute kaum noch lohnen. Anders als früher. Ein Leben lang schon fährt der schlanke, 51-jährige Mann raus aufs Meer. Das Boot ist nach der Mutter benannt, schon der Vater war Fischer. Und die Jungs mussten mit anpacken.

    "Wenn dann die großen Sommerferien waren, dann war das nichts für uns an den Strand zu gehen, sondern wir mussten damals schon in der Fischerei mithelfen. Was aus damaliger Sicht nicht immer so gut war, ne, wenn andere zum Baden gegangen sind, dann mussten wir mit raus zum Fischen."

    Doch was sie durften, das durfte sonst keiner, weder die Boltenhagener noch die Urlaubsgäste in DDR-Zeiten. Raus fahren mit dem Schiff. Den Blick genießen, der sich uns jetzt eröffnet auf die Tarnewitzer Huk, das ehemalige militärische Sperrgebiet, das jetzt unter Naturschutz steht, auf die Boltenhagen-Bucht, auf die Strände und die Steilküste, an die sich die Rapsfelder anschmiegen. Am Horizont zeichnet sich die schleswig-holsteinische Küste ab, noch davor der internationale Schifffahrtsweg nach Schweden. Soweit auf dem Wasser waren sonst nur die Grenzschützer. Doch den wenigen Fischern blieb das Privileg - trotz Mauerbau und Grenzverschärfung.

    "Sie wollten uns damals zu DDR-Zeiten natürlich auch schon raus haben. Das war klar, wenn da Privatpersonen im militärischen Bereich immer rein und raus sind. Aber Wilhelm Piek hat damals ein Schriftstück fertig gemacht. Und hat gesagt, die Fischer sind hier im Tarnewitzer Hafen auf Lebzeiten zu integrieren. Und das Recht steht heute noch - und da kann man auch nichts gegen machen. Und so ist das entstanden, dass wir hier auch jetzt nen schönen Fischereihafen erhalten haben."

    Ein Motor zieht die Netze aus dem Wasser - und neben den Schollen hat sich auch so mancher Krebs in den Maschen verfangen. Dunkelmann und sein Kompagnon befreien die Tiere mit schnellen Griffen, die Kisten füllen sich langsam mit den zappelnden flachen Fischen.

    Und über uns kreischen die, die hoffen, etwas von der Beute abzubekommen. Spätestens dann, wenn auf die beiden Männer auf Rückfahrt anfangen, die Fische auszunehmen. In den Jahren der Teilung lagen sie mit im Hafen der Grenzbrigade, die Boote der Fischer. Damit niemand sich ihrer einfach bedienen konnte um vielleicht zu fliehen. Doch es gab genug, die es auch einfach versuchten, indem sie schwammen.

    "Man hat auch manchmal dann Flüchtlinge gesehen, wenn sie die erwischt haben. Wenn sie sie dann in ihrem Hafen ausgezogen hatten- auf Pollern gesetzt haben, wenn's Herbst war. Die haben gefroren und so. Das war schon immer ein trauriges Bild. Aber man konnte nichts machen, sonst saß man gleich daneben. Das war eine schwierige Situation, eigentlich wollte man 'nen großen Bogen drum machen. Aber man konnte da nicht eingreifen, weil man keine Handhabe hatte."

    Wir machen noch einen kleinen Abstecher zur Sandbank. Da, wo sich eigentlich um diese Stunde die Seehunde tummeln, erste Sonnenstrahlen tanken; doch sie zeigen sich heute nicht. Also zurück, volle Kraft gen Hafen. Zumindest den Besuchern knurrt jetzt der Magen. Frühstückszeit. Das Boot läuft in den Hafen ein.

    Jetzt heißt es wieder selber in die Pedalen treten, es geht zurück zur Seebrücke. Schnell noch einen Kaffee und die Suche nach dem Stein am Fuße der Seebrücke, den wir uns unbedingt anschauen sollten. Das hatte uns Christiane Meier noch mit auf den Weg gegeben. Und dort liegt er: "Über der Ostsee leuchtet für uns das Licht der Freiheit. Den DDR-Flüchtlingen 1949-1989." So steht es da eingraviert, genauso wie auf dem Gedenkstein, der parallel im schleswig-holsteinschen Dahme gesetzt wurde. Da stand der Leuchtturm - das Licht der Freiheit - an dem sich so viele orientierten, die in die Freiheit schwimmen wollten. Knapp 6000 Menschen haben das versucht in den Jahren der Teilung. Der letzte im September 1989 - einer übrigens, der es schaffte. Der Großteil aber, er schaffte es nicht. Und für mindestens 174 Menschen bedeutete der Versuch zu fliehen den Tod.

    Für uns endet die Reise auf der Seebrücke. Mit dem Schiff geht es nach Travemünde. Kein weiter Weg, 20, 30 Seemeilen. Einstmals eine unüberwindliche Distanz. Doch im ewigen Rauschen der Wellen der Ostsee - das strahlt Boltenhagen heute aus - doch nicht viel mehr als eine Episode.