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Weiße Weste in Gefahr

Menschenrechtsorganisationen vermuten, dass rund 2000 unschuldige junge Männer Anfang 2008 entführt, umgebracht und in Massengräbern verscharrt wurden. Sie wurden als im Gefecht gefallene FARC-Rebellen bezeichnet. Verteidigungsminister damals: Juan Manuel Santos, Kolumbiens heutiger Präsident.

Von Gottfried Stein |
    Im kolumbianischen Dschungel kämpft Militär gegen linke Guerilla. Präsident Uribe will die FARC mit allen Mitteln vernichten. Die Regierung lockt dabei mit makabren Anreizen – für militärische Erfolge gibt es Prämien, Urlaub und Beförderungen. Jeder tote Guerillero ist ein Erfolg – ein sogenannter Positivo. So wie angeblich die verschwundenen Söhne dieser Frauen:
    "Das letzte Mal haben sie ihn in Soacha um halb zwei Uhr weggehen sehen. Hier in Ocaña haben sie mir gesagt, dass er um halb fünf Uhr am Dienstagmorgen bereits tot war".

    "Der Arzt und der Richter haben mir gesagt, dass sie ihn getötet hätten, dass er am 5. März um 2.45 im Kampf ums Leben gekommen sei. Aber mein Sohn hat das Haus am 4. um halb neun Uhr morgens verlassen, und außerdem hatte er andere Stiefel an und andere Kleidung"."

    Was sich Anfang 2008 zwischen Soacha, einem ärmlichen Vorort von Bogota, und der 600 Kilometer entfernten Stadt Ocana abspielte, zeigte eine schier unglaubliche, kriminelle Praxis des kolumbianischen Militärs. Junge Leute, die gerade noch in ihrer gewohnten Umgebung ohne jegliche Auffälligkeiten gelebt hatten, wurden plötzlich als im Gefecht gefallene Guerilla bezichtigt. Eine Mutter:

    ""Er ging nachmittags mit einem Freund in eine Bar in der Nähe ein Bier trinken und seitdem haben wir ihn nie mehr gesehen. Er war tagelang verschwunden, wir haben über die Polizei, die Staatsanwaltschaft, im Krankenhaus nach ihm gesucht, ob er vielleicht tot sei, einen Unfall hatte oder so etwas, aber es kam gar nichts dabei heraus."

    Erst durch die Berichterstattung in den Medien kam ans Tageslicht, was sich offenbar seit Jahren abgespielt hatte. In Soacha waren Dutzende junge Männer von einem angeblichen Arbeitsvermittler nach Ocana gelockt worden, und wurden dort als angebliche FARC-Guerilla von Soldaten erschossen. Den Leichen wurden Uniformen angezogen, daneben wurden Gewehre, Handgranaten und Funkgeräte drapiert:

    "Das Einzige, was er mir gesagt hat, war, dass er sich mit jemandem treffen werde, um über eine Arbeitsstelle zu reden, und seither ist er nicht mehr zurückgekommen, das war am 2. März. Abends um sieben ist er weggegangen."

    In die Falle gerieten vor allem junge, manchmal minderjährige Arbeitslose, Tagelöhner und Bettler. Erst die massive Rekrutierung der Männer aus Soacha und ihre Ermordung alarmierte die Regierung. Inzwischen laufen Dutzende von Prozessen, die Staatsanwaltschaft ermittelt in 1300 Fällen. Menschenrechtsorganisationen vermuten, dass rund 2000 unschuldige junge Männer entführt, umgebracht und in Massengräbern verscharrt wurden. Eine Mutter:

    ""Die Prozesse müssen alles untersuchen, denn das kann so nicht bleiben, wir werden keine Ruhe geben, das darf nicht ungestraft bleiben, obwohl ich weiß, dass Kolumbien das Land der Straflosigkeit ist"."

    Nachdem die falsos positivos, die falschen Gefallenen von Soacha, bekannt wurden, trat das Militär die Flucht nach vorne an. Der inzwischen abgelöste Befehlshaber des Heeres räumte weitere falsche Erfolge ein. Politisch verantwortlich war der damalige Verteidigungsminister Juan Manuel Santos, der zukünftige Präsident des Landes. Ihn treffe keine Schuld, sagt er heute:

    ""Als wir entdeckten, was da vorging, haben wir vollkommen konsequent gehandelt. Es wurde noch nie so drastisch eingeschritten, dass man 28 Offiziere und Unteroffiziere und drei Generäle entlassen hätte, mehr noch: Heute werden wir kritisiert, weil wir zu entschieden gehandelt hätten. Wir haben das Problem korrigiert, denn von diesem Zeitpunkt an haben wir 15 Maßnahmen ergriffen, die sofortige Wirkung hatten". "

    Das harte Vorgehen von Präsident Uribe und seinem Verteidigungsminister gegen die FARC wurde von einem Großteil der Bevölkerung begrüßt – und politisch instrumentalisiert. Camillo Gonzales Pozo vom Institut für demokratische Entwicklung:

    ""Die Formeln der Regierung von Santos sind meiner Meinung nach völlig abgenutzt. Eine Regierung auf der Grundlage des Krieges gegen die FARC. Wie bei Uribe. Wenn es Arbeitslosigkeit gibt, ist die FARC daran schuld. Wenn es falsche Positive gibt, ist die FARC daran schuld. Wenn es Paramilitärs gibt, ist die FARC daran schuld. All diese Argumente haben sich verbraucht"."

    Ins Zwielicht gerät nicht nur das Militär. Auch der Geheimdienst DAS, der wegen Abhör- und Erpressungsvorwürfen ohnehin im Rampenlicht steht, wird zunehmend in den Sog der Affäre um die falsos positivos gezogen. Inzwischen scheint fest zu stehen, dass im Auftrag des Geheimdienstes Morde begangen wurden – die eventuell sogar im Präsidentenpalast Narinjo, also im Amtssitz von Präsident Alvaro Uribe toleriert wurden. Der Politikexperte Jaime Bejarano meint:

    ""Die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft, die bereits von Richtern bestätigt wurden, die auch Haftbefehle ausgestellt haben gegen Beamte des DAS, lassen keinen Zweifel daran, dass es ein kriminelles Unternehmen war und dass dieses im Narino-Palast seinen Ursprung hatte oder dass man dort Bescheid wusste"."

    Die Medien berichteten wochenlang ausführlich über den Skandal. Aber während Journalisten Präsident Uribe und seinen damals verantwortlichen Verteidigungsminister Santos ins Visier nahmen, prallten die Vorwürfe an den Wählern offenbar wirkungslos ab. Alfredo Rangel, Sicherheitsexperte in Bogota:

    ""Diese Skandale hatten keinen Einfluss auf das Ansehen der Regierung oder des Präsidenten. Also kann man annehmen, dass die öffentliche Meinung zwischen der Verantwortung der Regierung und der persönlichen Verantwortung der in die Skandale verwickelten Beamten unterscheidet. Sonst hätte das Ansehen der Regierung Schaden genommen, wäre während der Skandale der vergangenen Monate gewaltig gesunken"."

    Wie es aussieht, werden die "falschen Gefallenen" keine Belastung für den neugewählten Präsidenten Kolumbiens darstellen. Nur die Mütter der Getöteten von Soacha schwören, keine Ruhe zu geben:

    ""Wir werden weitermachen, wir werden weiter kämpfen, damit die nicht ungestraft davon kommen. Damit diese Feiglinge ins Gefängnis kommen. Denn wir haben um unsere Söhne geweint. Also sollen auch ihre Familien leiden". "