"In Alkohol eingelegte Exemplare sehen mit den Jahren immer etwas traurig aus, weil sie schrumpfen und die Farbe verlieren."
"Es gibt immer noch Geheimnisse."
"Hier ist es, dieses kleine schwarze Ding hier, Saccopharynx hjorti."
Ingvar Byrkjedal holt ein Glas aus dem Regal, in dem sich ein schwarzes Fischchen krümmt, ein wurmförmiges Gebilde mit pfeilförmigem Kopf.
"Es gehört zu der Familie der Sackmaul-Aale, hat ein riesiges Maul und einen langen, dünnen Körper… Es ist schon ein besonderes Gefühl, alles, was wir von einer Art wissen, in der Hand zu halten."
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Zehntausende von Glasgefäßen stehen dicht an dicht in Verschieberegalen: die Fischsammlung der Universität Bergen, das Ergebnis von mehr als 100 Jahren Tiefseeforschung. Vorsichtig angelt Kurator Ingvar Byrkjedal Chauliodus sloani aus dem Glas ...
"Here are some of the beauties, you see…"
Eine handgroße Tiefsee-Schönheit, die den Forschern 1910 ins Netz gegangen ist - mit langen, aus dem Maul ragenden, gebogenen Zähnen, die an Stilette erinnern, oder die Gitterstäbe eines Käfigs.
"Er heißt Viperfisch und sieht fast wie eine Schlange aus. Er kann sein Maul um etwa 180 Grad aufreißen, denn seine Kehle besteht aus einer sehr dünnen Haut und ist weit dehnbar. Wenn die Beute erst einmal zwischen diesen Zähnen ist, kommt sie nie wieder heraus, und der Fisch kann sich mit der Verdauung Zeit lassen - vielleicht ist es unser Glück, dass sie nicht größer sind. Wenn wir Tiere wie dieses finden, ist das wie eine Reise zum Mond: Sie gewähren uns einen flüchtigen Einblick in das, was dort unten ist."
Die Ozeane sind unermesslich groß: Sie nehmen fast dreimal mehr Fläche ein als alles Land zusammen und stellen unglaubliche 99 Prozent der Biosphäre: Unter den Wellen erstreckt sich der größte Lebensraum der Erde: Ein dunkler Lebensraum, eiskalt, und es herrschen Drücke, die für Oberflächenwesen tödlich sind. Seine Erkundung verlangt den Einsatz von teurer und aufwendiger Technik - und von viel Zeit: unter anderem, weil man erst per Schiff irgendeinen entlegenen Punkt auf dem Ozean erreichen muss und es jedesmal Stunden dauert, ehe ein Gerät am Grund angekommen ist. Deshalb sind auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts 95 Prozent der Meere Terra incognita. Das sollte der Census of Marine Life ändern, die "Volkszählung" in den Weltmeeren. Eines der 17 Projekte ist Mar-Eco, das sich mit den Lebewesen am mittelatlantischen Rücken beschäftigte. Und für Mar-Eco war auch das norwegische Forschungsschiff "G.O.Sars" unterwegs.
Das Netz, das sich auf das Deck der "G.O. Sars" entleert, ist prall gefüllt. Tausende Fische türmen sich zu einem Berg. Auf den ersten Blick sind es Grenadiere, auch Rattenschwänze genannt, große Tiefseebewohner mit stumpfem Kopf und langgestrecktem Körper - dazu Rochen und kleine Samtdornfische, die zu den harmlosen Schlafhaien gehören. Sie alle krümmen sich, Mäuler schnappen, Kiemen klappen wild, Augen springen aus ihren Höhlen, kullern wie Murmeln über grün gestrichenes Metall, während die Meeresbiologen das Ergebnis sichten und Laborantinnen eilig die Beute ins Labor unter Deck schleppen, wo sie vermessen und untersucht wird. Einige der sterbenden Fische werden bald - in Alkohol eingelegt - in den Regalen wissenschaftlicher Sammlungen darauf warten, dass ein Zoologe sich für sie interessiert.
"I am Professor Monty Priede, director of the ocean lab at the University of Aberdeen in Scotland."
Monty Priede gehört zu den wissenschaftlichen Leitern der MarEco-Expeditionen. Die systematische Erforschung der Meere, erklärt er, sei eine junge Disziplin: Vor 150 Jahren gab es noch beträchtliche Zweifel, ob es im Meer unterhalb von 500 Metern überhaupt Leben gibt. Dass die Ozeane bis zum Grund mit Lebewesen gefüllt sind, diese Erkenntnis wuchs erst allmählich. Zunächst wurden bei Reparaturen an den zwischen den Kontinenten verlegten Telegraphenkabeln festgewachsene Tiere gefunden. Dann zeigten erste Expeditionen, dass am Meeresboden die unterschiedlichsten Lebewesen existierten. Priede:
"Diese ersten Ergebnisse führten dazu, dass 1872 die Challenger-Expedition in See stach. Sie markiert den Beginn der moderne Ozeanforschung. Mehrere Jahre lang erkundeten die Wissenschaftler an Bord die Meere rund um die Welt - und wohin sie auch schauten, sie fanden Leben."
Zur Zeit der HMS Challenger war Meeresforschung Knochenarbeit: Wenn die Tiefe vermessen oder Netze eingesetzt wurden, half den Matrosen lediglich eine 12-PS-Hilfsmaschine, zärtlich Dampfeselchen genannt. Dann kreischten die Winden ohrenbetäubend, stundenlang. Die Laboratorien unter Deck waren dunkel. Das Schiff war mit 264 Mann Besatzung und sechs Wissenschaftlern überfüllt: In den Mannschaftsquartieren gab es noch nicht einen Stuhl. Es stank bestialisch. Heute fährt die "G.O. Sars" mit 15 Mann Besatzung und hat Platz für 30 Wissenschaftler. Die Kommandobrücke: Dutzende von Computerdisplays sind da, Joysticks und geradezu schwebende Sessel. Sie erinnert an ein Raumschiff aus einem Science-fiction. Die Laboratorien sind auf dem modernsten Stand der Technik, die Kabinen bequem, und die Maschinen extrem leise. Aber ohne Trawls geht es heute so wenig wie damals. Und so spucken die Seegurken ihre letzte Schlammmahlzeit aus. Ein Seestern versucht zu fliehen. Diese Seite der Meeresforschung verlangt Nervenstärke.
Die Tiefsee des Atlantiks ist ein Reich des Schlamms, Abertausende von Quadratkilometern nichts als grauer Schlamm – bis sich aus dem Schlick ein vulkanisches Gebirge erhebt: der mittelatlantische Rücken. Priede:
"Für Mareco haben wir den mittelatlantischen Rücken zwischen Island und den Azoren untersucht."
Ein entlegenes Gebiet, zu dem die Forscher tagelang unterwegs sind und das sie deshalb eher selten besucht haben.
"Früher war in den Karten des Atlantischen Ozeans kein untermeerisches Gebirge eingezeichnet. Zwar wussten damals die Forscher der Challenger, dass es mitten im Atlantik Plateaus am Meeresboden gibt, aber dass sich eine Tausende Meter hohe Gebirgskette durch alle Ozeane zieht, haben wir erst in den 1950er Jahren erkannt. Nun haben wir im Rahmen von Mar-Eco gelernt, dass dieser mittelatlantische Rücken auch ein sehr wichtiger Lebensraum für Meerestiere ist."
"Show me the way, my friend"
"I will show you"
"In the middle."
Könnten die Wissenschaftler der Challenger das technische Arsenal ihrer Kollegen im 21. Jahrhundert sehen, sie wären begeistert: Sie kannten noch keine Fächersonare, die ein dreidimensionales Bild vom Meer unter dem Schiff zeichnen, keine Lander, auf denen Fotoapparate, Sensoren oder Echolote monatelang das Geschehen am Ozeanboden ausspionieren. Es gab auch keine Forschungs-U-Boote und keine ROV: kamerabestückte, vom Schiff aus ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge, die gezielt Proben nehmen und Livebilder an Bord übertragen. Alles, was ein Meeresforscher im 19. Jahrhundert sah, waren Netze voll Schlamm samt mehr oder weniger zerdrückten Exemplaren von Tiefseewesen, von denen oft nichts anderes geblieben war als ein Häufchen Glibber.
"Stupid guy,stupid fish…"
Der Kontrollraum von Victor 6000. Dieses ROV gehört dem französischen Meeresforschungsinstitut Ifremer. Der Raum ist dunkel, vollgestopft mit Technik. Lediglich die vielen Bildschirme spenden schummriges Licht. Sie zeigen, was am Meeresgrund passiert. Konzentriert bewegt einer der drei ROV-Piloten einen Manipulator – und 2500 Meter tiefer packt ein Maschinenarm in eine geöffnete Schublade an der Unterseite des Tauchboots, zieht ein mit einem Drehverschluss versehenes Plastikrohr heraus, einen Pushcorer. Mit ihm werden Proben aus dem Tiefseeboden gezogen - damit später im Labor das Bodenleben untersucht werden kann.
Das Bodenleben hängt letztendlich von den Algen ab, die an der Oberfläche wachsen - genau wie fast alle anderen Tiefseeorganismen auch, erläutert ...
"Tracey Sutton from the Virginia Institute of Marine Science."
Tracey Sutton ist einer der Fisch-Spezialisten von Mar-Eco. Die Volkszählung am mittelatlantischen Rücken sei ein großer Erfolg, erläutert er. Viele neue Arten seien gefunden worden:
"It is not uncommon to find new species when you sample an environment that hasn‘t been sampled very much."
Dass man in kaum untersuchten Meeresregionen neue Arten entdecke, sei zu erwarten gewesen. Unerwartet seien jedoch die vielen neuen Erkenntnisse zu den Ökosystemen:
"Am mittelatlantischen Rücken war alles ganz anders als erwartet. Er erwies sich als so etwas wie ein Hotspot des Lebens."
Das verdanken die Seevögel, Meeressäuger, Fische, Kalmare, Kraken, Quallen und was sich sonst noch alles dort versammelt dem mittelatlantischen Rücken selbst: An und über ihm entstehen turbulente Strömungen, die Plankton nach unten wirbeln und gleichzeitig Nährstoffe aus der Tiefe an die Oberfläche schaffen, was das System fruchtbar macht. Monty Priede:
"Es ist, als ob es mitten im Ozean einen zusätzlichen Kontinent gäbe, den wir bislang übersehen haben. Denn während die Schlammebenen der Tiefsee rund 4000 bis 5000 Meter unter der Meeresoberfläche liegen, bietet der mittelatlantische Rücken seinen Bewohnern Wassertiefen zwischen 2000 und 3000 Metern - und das ist ein sehr wichtiger Lebensraum für Ozeanbewohner. Wir können die Biologie des Atlantiks nicht verstehen, wenn wir den mittelatlantischen Rücken ignorieren."
Tracey Sutton:
"Über den weiten Schlammebenen der Tiefsee hängen sehr viele Tiere von dem ab, was an abgestorbenem Plankton oder Fäkalien mehr oder weniger spärlich herabrieselt. Sobald es jedoch Berge gibt, scheinen viele Lebewesen an ihren Flanken aufzusteigen, um sich weiter oben vollzufressen und dann als potentielle Beute in tiefere Tonen zurückzukehren und so aktiv Kohlenstoff nach unten zu schaffen. An untermeerischen Bergen scheint dieser Teil der Nahrungskette wichtiger zu sein als über den Ebenen."
Und so ist am mittelatlantischen Rücken die Nahrungskette von der Alge bis zum Spitzenräuber sehr kurz und effizient - überraschenderweise:
"It seems to be a short food-chain, very efficient, those were the biggest surprises."
Die Alge wird vom Ruderfußkrebs verspeist, der vom kleinen Laternenfisch, wenn er nachts zum Fressen an de Oberfläche kommt, der vom Anglerfisch, der in der Tiefe auf ihn lauert… - nach maximal fünf Mäulern war die höchste Stufe erreicht. Wer satt werden will, hat es am felsigen mittelatlantischen Rücken deutlich einfacher als seine Verwandten über dem Tiefseeschlamm. So gesehen ist der mittelatlantischen Rücken für Tiefseeverhältnisse fast ein Schlaraffenland.
Die gängige Meinung ist, dass die Meere in punkto Artenvielfalt nicht mit den Kontinenten mithalten können: Der tropische Regenwald erscheint als das Non-plus-ultra. Allenfalls die tropischen Riffe sollten ihm Paroli bieten. Aber der Rest der Meere: große Fischschwärme, reichlich Biomasse, ansonsten Monotonie. Diese Sicht zeugt im Grunde nur von unserer Unkenntnis: Wir wissen nicht, wer beispielsweise so alles in dem Raum unterhalb von 200 Metern Tiefe lebt, wo vom Sonnenlicht nur noch ein bläulicher Schimmer bleibt, der mit der Tiefe zunehmend verblasst und in eine ewige Nacht übergeht. Dort dehnt sich bis etwa 100 Meter über dem Boden ein Wasseruniversum aus, das schon aufgrund seiner Größe schwierig zu erforschen ist - auch mit den modernen Mitteln des Meereszensus.
Im 19. Jahrhundert hielten die Wissenschaftler der Challenger dieses "Zwischenwasser" für leer, überlegten tatsächlich, ob sich das Leben in den Meeren nur auf die Oberfläche und den Grund konzentrieren könnte. Sie ahnten nichts vom Reichtum dieser Zone, dass dort Giganten wie der Riesenkalmar Architeuthis zu Hause sind und unzählige zarte, kleine Fische und Quallen. Diesen zerbrechlichen Lebewesen und ihren Überlebenstricks spüren die Forscher des Meereszensus mit großem technischen Aufwand nach:
"I am Steve Haddock and I am a research scientist at the Monterey Bay Aquarium Research Institute."
"Wir haben versucht, für den Zensus abzuschätzen, wer alles in diesem freien Zwischenwasser lebt und dafür mit Spezialnetzen alle möglichen Organismen gesammelt - Fische, Krebstiere, Kraken oder Quallen. Aus den Daten haben wir ihre Biomasse berechnet und versucht, die Bedeutung der einzelnen Tiergruppen für dieses Ökosystem herauszubekommen. Dabei stellte sich heraus, dass die 'Jellies' dort eine höchst wichtige Rollen spielen."
Unter "Jellies" fallen viele verschiedene gallertartige Meerestiere. Da sind Nesseltiere wie Quallen, Rippenquallen oder die beeindruckenden Staatsquallen, die viele Meter lang werden können. Da sind aber auch die Salpen, tonnenförmige Wesen, die durchsichtig wie Kristall im Meer schweben. Sie sind Manteltiere und damit frühe Ahnen der Wirbeltiere. Haddock:
"Wenn wir die Tiefsee mit Hilfe von ferngesteuerten ROV erkunden, sehen wir, dass der tiefere Teil des Meeres von diesen "Jellies" dominiert wird - egal, ob wir Tiefsee-Canyons untersuchen, die Schlammebenen oder die mittelozeanischen Rücken. Unterhalb von 300, 400 Metern erfüllen sie alle möglichen ökologischen Rollen: Einige fressen mikroskopisch kleine Partikel, andere Krebse, wieder andere Fische oder andere Quallen. Sie sind wichtige Spieler im Ökosystem des Zwischenwassers."
Viel wichtiger als gedacht. Zum einen, weil sie selbst gerne fressen - und zum anderen, weil sie auch von vielen anderen gefressen werden. Zwar sind ihre Gallertkörper nicht unbedingt nahrhaft, aber es gibt viele, dass mancher durch die Masse satt wird. Für die "Volkszählung" arbeitete Steven Haddock in einer Gruppe, die sich mit dem Zooplankton beschäftigt, den Tieren, die ihr Leben im Wasser treibend verbringen - wie Quallen beispielsweise oder Ruderfußkrebse. Ein paar von ihnen warten gerade im Meerwasserlabor des Monterey Bay Aquarium Research Institute auf ihren Einsatz für die Wissenschaft. Es ist kalt hier drin, vier Grad Celsius - und dunkel. Nur das Rotlicht erhellt spärlich den Raum. Unter Dunstabzügen stehen Dutzende großer und kleiner Aquarien. Steve Haddock:
"In these jars we have some of the deep-sea-copepods that we are working on, see if I can find one. There is one, I hope that you can see the bioluminescence."
Der kleine Ruderfußkrebs, den Steven Haddock aufscheucht, soll eine leuchtende Wolke ausstoßen:
"Das Geheimnis, hinter das wir bei diesem Projekt kommen wollen, ist, wo die evolutionären Wurzeln des Moleküls liegen, das die Organismen für die Erzeugung des Lichts einsetzen. Diese kleinen Kerle werden uns dabei helfen, das herauszufinden."
Aber heute gibt es keine Leuchtwolke. Der Ruderfußkrebs hat anscheinend keine Lust. Im Grunde hat er recht, denn hier ist kein Feind, der abgeschreckt werden müsste. Viele Tiefseetiere erzeugen selbst Licht oder lassen es mit Hilfe von leuchtenden Bakterien erzeugen. Ohne diese biologischen Lichter wäre das Überleben in der Tiefsee viel schwieriger: Man kann sie als Tarnkappe nutzen, um mit dem Restlicht zu verschmelzen, wenn man in der Zwielichtzone lebt, wo das Meer noch bläulich schimmert. Oder man kann - wie der Ruderfußkrebs im Aquarium - eine Lichtwolke ausstoßen, um seine Feinde zu verwirren - und darauf hoffen, dass der Lichtblitz einen anderen Räuber auf eben diesen Feind aufmerksam macht… Man kann sich mit einem potentiellen Partner verständigen, Beute anlocken - aber auch Forscher. Das ist einigen Staatsquallen "gelungen". Haddock:
"Staatsquallen sind die Cousins der Quallen, die wir aus dem Flachwasser kennen, aber sie können bis zu 30 Meter lang werden. Wenn man so will, sind sie Vorhänge aus Tentakeln, mit denen sie ihre Mahlzeit aus dem Wasser fischen."
Staatsquallen ähneln auf den ersten Blick Nordsee-Quallen. Aber sie sind Wohngemeinschaften von Hunderten oder Tausenden hoch spezialisierter Nesseltiere, die fast so etwas wie die Organe eines Organismus bilden. Es gibt Fresspolypen, Tastpolypen, Wehrpolypen, Geschlechtspolypen, Deckpolypen, Schwimmbojen.
"Wir beschreiben gerade eine neue Art von Staatsquallen, die wir bei der Volkszählung der Meere gefunden haben. Sie lebt in der Zwielichtzone und lockt ihre Beute mit leuchtenden Anhängen an ihren Tentakeln an. Der Krill kann diesem grünen Leuchten nicht widerstehen und wird gefressen. In 1500 Metern Tiefe, wo es absolut dunkel ist, haben wir eine andere Staatsqualle entdeckt, die zwischen ihren Tentakeln kleine rote Lichter leuchten lässt. Die haben die Form von Ruderfußkrebsen, und so lockt sie die Fische wie ein Angler an, in dem sie ihren leuchtenden Köder hinauf und hinab bewegt."
Diese Staatsqualle gaukelt ihrem hungrigen Opfer eine fette Beute vor - und wenn es sich verführen lässt, wird es selbst verdaut. Genau dieses Täuschungsmanöver öffnet nun eine wissenschaftliche Diskussion, denn es rüttelt an einer Lehrbuchweisheit: In der Tiefsee wirkt rotes Licht schwarz und wird deshalb gerne zur Tarnung eingesetzt. Außerdem sollen die Augen der meisten Tiefseetiere Rot nicht wahrnehmen. Trotzdem werden immer mehr Jäger bekannt, die mit Rotlicht täuschen. Wäre es wirklich nicht zu erkennen, gäbe es diese Anpassung nicht.
Es war der in Schweden geborene Biologe Per Scholander, der in den 1930er Jahren auf die Idee kam, bei der Meeresforschung Tiere als Messgehilfen einzusetzen: Er befestigte einen einfachen, mechanischen Tiefenmesser an einem Finnwal, um zu sehen, wie tief er taucht. Heute werden die unterschiedlichsten Tiere mit Hightech-Messgeräten ausgestattet, mit Biologgern, die Daten über Wassertemperatur, Tiefe, Schwimmgeschwindigkeit oder über den Zustand des Lebewesens selbst sammeln. Eines der Zensus-Projekte, die mit diesen Biologgern arbeiten heißt TOPP: Tagging of Pacific Predators. Es machte Hunderte von pazifischen Meeresräubern zu "Hilfswissenschaftlern".
Zu Zeiten der Challenger war an so etwas gar nicht zu denken, man war schon froh, dass die Bestimmung der Meerestiefe vernünftig klappte: Zuverlässige Lotsysteme waren damals die Speerspitze der Technik.
"Wenn Leute 'Zensus der Meereslebewesen' hören, denken sie, wir ziehen los, um neue Arten zu finden und die Fische zu zählen. Aber Biologger? Stellen Sie sich doch einmal die Serengeti vor. Sie sitzen mit einem Fernglas auf einem Hügel und beobachten die Löwen und Hyänen. Dann wüssten sie, wo sich die Pflanzenfresser aufhalten, selbst wenn sie kein Zebra sehen und keinen Büffel. Genau das haben wir bei TOPP gemacht: Wir sind den großen Raubtieren gefolgt, um die Orte in den Meeren zu finden, an denen das Leben am reichsten ist. Wir haben 23 verschiedene Meeresräuber mit elektronischen Tags ausgestattet und verfolgt. Es waren mehrere Arten von Thunfischen, Haien, Walen, Seevögeln, Seelöwen, See-Elefanten, Robben, sogar Kalmare."
Randy Kochevar von der Hopkins Marine Station der Stanford University in Kalifornien ist einer der leitenden Wissenschaftler von TOPP.
"Wir erkennen Bewegungsmuster. So gibt es hier vor der Westküste Nordamerikas Hotspots, durch die im Lauf eines Jahres Hunderttausende von Tieren ziehen. Es gibt anscheinend überall im Meer Korridore, die von vielen verschiedenen Tieren genutzt werden."
So fühlen sich Haie, Schildkröten, Albatrosse oder See-Elefanten von einem Korridor angezogen, der an der Grenze zwischen dem kalten Polarwasser im Nordpazifik und dem wärmeren Wasser südlich davon verläuft. Durch ihn ziehen sie quer über den Pazifik und zurück: kreuz und quer, mal auf der einen Seite der Front, mal auf der andere. Im warmen Wasser fühlen sie sich wohler, im kalten, sauerstoffreichen fressen sie. Kochevar:
"Wenn sie immer an der Grenze bleiben, bekommen sie das Beste aus beiden Welten: genug zu fressen und angenehme Temperaturen."
Zu den besonders spektakulären Aktionen, die im Rahmen dieses Projekts durchgeführt worden sind, gehört das Taggen der Weißen Haie. Die versammeln sich vor den nordkalifornischen Farrallon Inseln, um sich an schwabbeligen Meeressäugern gütlich zu tun, die sie sehr schätzen: an den Seeelefanten und Robben. Dort versah der Zoologe Scot Anderson vom National Park Service am Point Reyes National Seashore die Haie mit Biologgern.
"Ich benutze dafür einen Köder, der die Form eines kleinen Seelöwen hat und der den Hai an die Oberfläche locken soll."
Das kleine Motorboot schaukelt sanft auf der Dünung. Scot Anderson wirft eine an einer Angel befestigt Seelöwenattrappe ins Meer, die mit ein wenig Fischtran "parfümiert" worden ist. Schon bald zeigt ein riesiger weißer Hai Interesse.
"Die Haie kommen heran, umschwimmen den Köder, prüfen ihn - und das ist für uns die Chance, sie mit einem Biologger zu versehen."
Scot Anderson zieht langsam die Angel ein, der Hai kommt näher, bis er direkt neben dem Boot ist. Zunächst nimmt der Forscher ihn mit einer Videokamera auf, die er an einem Stock ins Wasser hält. Dann wartet er, bis das Tier ihm die Flanke zuwendet - und stößt mit einem langen, spitzen Stab den Biologger in die Haihaut. Für die nächsten ein oder zwei Jahre ist der Hai "getaggt". Die Biologger verraten, dass die Raubtiere an der Spitze der Nahrungskette erstaunliche Strecken zurücklegen: Ein Thunfisch etwa, der vor der Küste Südkaliforniens markiert worden war, schwamm in weniger als einem Jahr nach Japan und zurück. Dann allerdings landete er in einem Fischernetz - und sein Implantat kam zu den Forschern zurück. Auch weiße Haie sind anscheinend gern unterwegs. Randy Kochevar:
"Die weißen Haie, mit denen wir arbeiten, kommen auf ihrer jährlichen Wanderung in jedem Herbst bei den Farrallon-Inseln in Nordkalifornien vorbei. Dann schwimmen sie in die Mitte des Pazifiks, nach Hawaii, und von da aus geht es nach Süden bis vor die kalifornische Halbinsel. Dann tauchen sie pünktlich vor den Farrallon-Inseln auf. Wir hatten keine Ahnung, dass ihre Wanderwege so gut nachvollziehbar sind."
Genauso wenig wussten die Biologen, dass es auf diesen Wege seltsame Zwischenziele gibt:
"Wann immer ein Tier große Distanzen zurücklegt, sollte man annehmen, dass es ein Ziel verfolgt. Vielleicht gibt es dort etwas Besseres zu Fressen, vielleicht findet man dort am einfachsten einen Partner oder kann am besten seine Jungen gebären oder großziehen. Der Weiße Hai ist nicht so leicht zu durchschauen. Mitten im Pazifik - auf halbem Weg zwischen Hawaii und der kalifornischen Halbinsel - gibt es eine 'blaue Wüste', wo es kaum etwas zu fressen gibt, und doch verbringen die Weißen Haie dort Jahr für Jahr Zeit - mitten im Meer. Wir haben diesen Ort das 'Café zum Weißen Hai' genannt. In ein Café kann man gehen, um einen Happen zu essen - auch wenn wir in dem Fall keine Ahnung haben, was. Man kann dort Freunde treffen, sehen und gesehen werden. Keine Ahnung, was die Haie in ihrem Café machen. Aber eines ist sicher: Sie sind dort gerne und bleiben auch eine ganze Weile."
Immerhin ein halbes Jahr, wie die Biologger verraten. Die verraten auch, dass Männchen und Weibchen umherschwimmem, abtauchen, manchmal alle zehn Minuten, bis hinunter in Tiefen von 300 Metern. Nur, warum? Vielleicht suchen sie sich ihre Partner aus? Jedenfalls steht das Hai-Café jetzt im Zentrum des Forscherinteresses.
Hinweis: An den Osterfeiertagen ist der "Zensus des marinen Lebens" der Gegenstand einer dreiteiligen Serie in "Wissenschaft im Brennpunkt".Der erste Teil Vergangener Reichtum wurde Karfreitag gesendet, den dritten Teil Zukunftsmodell Meer können Sie Ostermontag, 16:30 Uhr, hören.
"Es gibt immer noch Geheimnisse."
"Hier ist es, dieses kleine schwarze Ding hier, Saccopharynx hjorti."
Ingvar Byrkjedal holt ein Glas aus dem Regal, in dem sich ein schwarzes Fischchen krümmt, ein wurmförmiges Gebilde mit pfeilförmigem Kopf.
"Es gehört zu der Familie der Sackmaul-Aale, hat ein riesiges Maul und einen langen, dünnen Körper… Es ist schon ein besonderes Gefühl, alles, was wir von einer Art wissen, in der Hand zu halten."
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Zehntausende von Glasgefäßen stehen dicht an dicht in Verschieberegalen: die Fischsammlung der Universität Bergen, das Ergebnis von mehr als 100 Jahren Tiefseeforschung. Vorsichtig angelt Kurator Ingvar Byrkjedal Chauliodus sloani aus dem Glas ...
"Here are some of the beauties, you see…"
Eine handgroße Tiefsee-Schönheit, die den Forschern 1910 ins Netz gegangen ist - mit langen, aus dem Maul ragenden, gebogenen Zähnen, die an Stilette erinnern, oder die Gitterstäbe eines Käfigs.
"Er heißt Viperfisch und sieht fast wie eine Schlange aus. Er kann sein Maul um etwa 180 Grad aufreißen, denn seine Kehle besteht aus einer sehr dünnen Haut und ist weit dehnbar. Wenn die Beute erst einmal zwischen diesen Zähnen ist, kommt sie nie wieder heraus, und der Fisch kann sich mit der Verdauung Zeit lassen - vielleicht ist es unser Glück, dass sie nicht größer sind. Wenn wir Tiere wie dieses finden, ist das wie eine Reise zum Mond: Sie gewähren uns einen flüchtigen Einblick in das, was dort unten ist."
Die Ozeane sind unermesslich groß: Sie nehmen fast dreimal mehr Fläche ein als alles Land zusammen und stellen unglaubliche 99 Prozent der Biosphäre: Unter den Wellen erstreckt sich der größte Lebensraum der Erde: Ein dunkler Lebensraum, eiskalt, und es herrschen Drücke, die für Oberflächenwesen tödlich sind. Seine Erkundung verlangt den Einsatz von teurer und aufwendiger Technik - und von viel Zeit: unter anderem, weil man erst per Schiff irgendeinen entlegenen Punkt auf dem Ozean erreichen muss und es jedesmal Stunden dauert, ehe ein Gerät am Grund angekommen ist. Deshalb sind auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts 95 Prozent der Meere Terra incognita. Das sollte der Census of Marine Life ändern, die "Volkszählung" in den Weltmeeren. Eines der 17 Projekte ist Mar-Eco, das sich mit den Lebewesen am mittelatlantischen Rücken beschäftigte. Und für Mar-Eco war auch das norwegische Forschungsschiff "G.O.Sars" unterwegs.
Das Netz, das sich auf das Deck der "G.O. Sars" entleert, ist prall gefüllt. Tausende Fische türmen sich zu einem Berg. Auf den ersten Blick sind es Grenadiere, auch Rattenschwänze genannt, große Tiefseebewohner mit stumpfem Kopf und langgestrecktem Körper - dazu Rochen und kleine Samtdornfische, die zu den harmlosen Schlafhaien gehören. Sie alle krümmen sich, Mäuler schnappen, Kiemen klappen wild, Augen springen aus ihren Höhlen, kullern wie Murmeln über grün gestrichenes Metall, während die Meeresbiologen das Ergebnis sichten und Laborantinnen eilig die Beute ins Labor unter Deck schleppen, wo sie vermessen und untersucht wird. Einige der sterbenden Fische werden bald - in Alkohol eingelegt - in den Regalen wissenschaftlicher Sammlungen darauf warten, dass ein Zoologe sich für sie interessiert.
"I am Professor Monty Priede, director of the ocean lab at the University of Aberdeen in Scotland."
Monty Priede gehört zu den wissenschaftlichen Leitern der MarEco-Expeditionen. Die systematische Erforschung der Meere, erklärt er, sei eine junge Disziplin: Vor 150 Jahren gab es noch beträchtliche Zweifel, ob es im Meer unterhalb von 500 Metern überhaupt Leben gibt. Dass die Ozeane bis zum Grund mit Lebewesen gefüllt sind, diese Erkenntnis wuchs erst allmählich. Zunächst wurden bei Reparaturen an den zwischen den Kontinenten verlegten Telegraphenkabeln festgewachsene Tiere gefunden. Dann zeigten erste Expeditionen, dass am Meeresboden die unterschiedlichsten Lebewesen existierten. Priede:
"Diese ersten Ergebnisse führten dazu, dass 1872 die Challenger-Expedition in See stach. Sie markiert den Beginn der moderne Ozeanforschung. Mehrere Jahre lang erkundeten die Wissenschaftler an Bord die Meere rund um die Welt - und wohin sie auch schauten, sie fanden Leben."
Zur Zeit der HMS Challenger war Meeresforschung Knochenarbeit: Wenn die Tiefe vermessen oder Netze eingesetzt wurden, half den Matrosen lediglich eine 12-PS-Hilfsmaschine, zärtlich Dampfeselchen genannt. Dann kreischten die Winden ohrenbetäubend, stundenlang. Die Laboratorien unter Deck waren dunkel. Das Schiff war mit 264 Mann Besatzung und sechs Wissenschaftlern überfüllt: In den Mannschaftsquartieren gab es noch nicht einen Stuhl. Es stank bestialisch. Heute fährt die "G.O. Sars" mit 15 Mann Besatzung und hat Platz für 30 Wissenschaftler. Die Kommandobrücke: Dutzende von Computerdisplays sind da, Joysticks und geradezu schwebende Sessel. Sie erinnert an ein Raumschiff aus einem Science-fiction. Die Laboratorien sind auf dem modernsten Stand der Technik, die Kabinen bequem, und die Maschinen extrem leise. Aber ohne Trawls geht es heute so wenig wie damals. Und so spucken die Seegurken ihre letzte Schlammmahlzeit aus. Ein Seestern versucht zu fliehen. Diese Seite der Meeresforschung verlangt Nervenstärke.
Die Tiefsee des Atlantiks ist ein Reich des Schlamms, Abertausende von Quadratkilometern nichts als grauer Schlamm – bis sich aus dem Schlick ein vulkanisches Gebirge erhebt: der mittelatlantische Rücken. Priede:
"Für Mareco haben wir den mittelatlantischen Rücken zwischen Island und den Azoren untersucht."
Ein entlegenes Gebiet, zu dem die Forscher tagelang unterwegs sind und das sie deshalb eher selten besucht haben.
"Früher war in den Karten des Atlantischen Ozeans kein untermeerisches Gebirge eingezeichnet. Zwar wussten damals die Forscher der Challenger, dass es mitten im Atlantik Plateaus am Meeresboden gibt, aber dass sich eine Tausende Meter hohe Gebirgskette durch alle Ozeane zieht, haben wir erst in den 1950er Jahren erkannt. Nun haben wir im Rahmen von Mar-Eco gelernt, dass dieser mittelatlantische Rücken auch ein sehr wichtiger Lebensraum für Meerestiere ist."
"Show me the way, my friend"
"I will show you"
"In the middle."
Könnten die Wissenschaftler der Challenger das technische Arsenal ihrer Kollegen im 21. Jahrhundert sehen, sie wären begeistert: Sie kannten noch keine Fächersonare, die ein dreidimensionales Bild vom Meer unter dem Schiff zeichnen, keine Lander, auf denen Fotoapparate, Sensoren oder Echolote monatelang das Geschehen am Ozeanboden ausspionieren. Es gab auch keine Forschungs-U-Boote und keine ROV: kamerabestückte, vom Schiff aus ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge, die gezielt Proben nehmen und Livebilder an Bord übertragen. Alles, was ein Meeresforscher im 19. Jahrhundert sah, waren Netze voll Schlamm samt mehr oder weniger zerdrückten Exemplaren von Tiefseewesen, von denen oft nichts anderes geblieben war als ein Häufchen Glibber.
"Stupid guy,stupid fish…"
Der Kontrollraum von Victor 6000. Dieses ROV gehört dem französischen Meeresforschungsinstitut Ifremer. Der Raum ist dunkel, vollgestopft mit Technik. Lediglich die vielen Bildschirme spenden schummriges Licht. Sie zeigen, was am Meeresgrund passiert. Konzentriert bewegt einer der drei ROV-Piloten einen Manipulator – und 2500 Meter tiefer packt ein Maschinenarm in eine geöffnete Schublade an der Unterseite des Tauchboots, zieht ein mit einem Drehverschluss versehenes Plastikrohr heraus, einen Pushcorer. Mit ihm werden Proben aus dem Tiefseeboden gezogen - damit später im Labor das Bodenleben untersucht werden kann.
Das Bodenleben hängt letztendlich von den Algen ab, die an der Oberfläche wachsen - genau wie fast alle anderen Tiefseeorganismen auch, erläutert ...
"Tracey Sutton from the Virginia Institute of Marine Science."
Tracey Sutton ist einer der Fisch-Spezialisten von Mar-Eco. Die Volkszählung am mittelatlantischen Rücken sei ein großer Erfolg, erläutert er. Viele neue Arten seien gefunden worden:
"It is not uncommon to find new species when you sample an environment that hasn‘t been sampled very much."
Dass man in kaum untersuchten Meeresregionen neue Arten entdecke, sei zu erwarten gewesen. Unerwartet seien jedoch die vielen neuen Erkenntnisse zu den Ökosystemen:
"Am mittelatlantischen Rücken war alles ganz anders als erwartet. Er erwies sich als so etwas wie ein Hotspot des Lebens."
Das verdanken die Seevögel, Meeressäuger, Fische, Kalmare, Kraken, Quallen und was sich sonst noch alles dort versammelt dem mittelatlantischen Rücken selbst: An und über ihm entstehen turbulente Strömungen, die Plankton nach unten wirbeln und gleichzeitig Nährstoffe aus der Tiefe an die Oberfläche schaffen, was das System fruchtbar macht. Monty Priede:
"Es ist, als ob es mitten im Ozean einen zusätzlichen Kontinent gäbe, den wir bislang übersehen haben. Denn während die Schlammebenen der Tiefsee rund 4000 bis 5000 Meter unter der Meeresoberfläche liegen, bietet der mittelatlantische Rücken seinen Bewohnern Wassertiefen zwischen 2000 und 3000 Metern - und das ist ein sehr wichtiger Lebensraum für Ozeanbewohner. Wir können die Biologie des Atlantiks nicht verstehen, wenn wir den mittelatlantischen Rücken ignorieren."
Tracey Sutton:
"Über den weiten Schlammebenen der Tiefsee hängen sehr viele Tiere von dem ab, was an abgestorbenem Plankton oder Fäkalien mehr oder weniger spärlich herabrieselt. Sobald es jedoch Berge gibt, scheinen viele Lebewesen an ihren Flanken aufzusteigen, um sich weiter oben vollzufressen und dann als potentielle Beute in tiefere Tonen zurückzukehren und so aktiv Kohlenstoff nach unten zu schaffen. An untermeerischen Bergen scheint dieser Teil der Nahrungskette wichtiger zu sein als über den Ebenen."
Und so ist am mittelatlantischen Rücken die Nahrungskette von der Alge bis zum Spitzenräuber sehr kurz und effizient - überraschenderweise:
"It seems to be a short food-chain, very efficient, those were the biggest surprises."
Die Alge wird vom Ruderfußkrebs verspeist, der vom kleinen Laternenfisch, wenn er nachts zum Fressen an de Oberfläche kommt, der vom Anglerfisch, der in der Tiefe auf ihn lauert… - nach maximal fünf Mäulern war die höchste Stufe erreicht. Wer satt werden will, hat es am felsigen mittelatlantischen Rücken deutlich einfacher als seine Verwandten über dem Tiefseeschlamm. So gesehen ist der mittelatlantischen Rücken für Tiefseeverhältnisse fast ein Schlaraffenland.
Die gängige Meinung ist, dass die Meere in punkto Artenvielfalt nicht mit den Kontinenten mithalten können: Der tropische Regenwald erscheint als das Non-plus-ultra. Allenfalls die tropischen Riffe sollten ihm Paroli bieten. Aber der Rest der Meere: große Fischschwärme, reichlich Biomasse, ansonsten Monotonie. Diese Sicht zeugt im Grunde nur von unserer Unkenntnis: Wir wissen nicht, wer beispielsweise so alles in dem Raum unterhalb von 200 Metern Tiefe lebt, wo vom Sonnenlicht nur noch ein bläulicher Schimmer bleibt, der mit der Tiefe zunehmend verblasst und in eine ewige Nacht übergeht. Dort dehnt sich bis etwa 100 Meter über dem Boden ein Wasseruniversum aus, das schon aufgrund seiner Größe schwierig zu erforschen ist - auch mit den modernen Mitteln des Meereszensus.
Im 19. Jahrhundert hielten die Wissenschaftler der Challenger dieses "Zwischenwasser" für leer, überlegten tatsächlich, ob sich das Leben in den Meeren nur auf die Oberfläche und den Grund konzentrieren könnte. Sie ahnten nichts vom Reichtum dieser Zone, dass dort Giganten wie der Riesenkalmar Architeuthis zu Hause sind und unzählige zarte, kleine Fische und Quallen. Diesen zerbrechlichen Lebewesen und ihren Überlebenstricks spüren die Forscher des Meereszensus mit großem technischen Aufwand nach:
"I am Steve Haddock and I am a research scientist at the Monterey Bay Aquarium Research Institute."
"Wir haben versucht, für den Zensus abzuschätzen, wer alles in diesem freien Zwischenwasser lebt und dafür mit Spezialnetzen alle möglichen Organismen gesammelt - Fische, Krebstiere, Kraken oder Quallen. Aus den Daten haben wir ihre Biomasse berechnet und versucht, die Bedeutung der einzelnen Tiergruppen für dieses Ökosystem herauszubekommen. Dabei stellte sich heraus, dass die 'Jellies' dort eine höchst wichtige Rollen spielen."
Unter "Jellies" fallen viele verschiedene gallertartige Meerestiere. Da sind Nesseltiere wie Quallen, Rippenquallen oder die beeindruckenden Staatsquallen, die viele Meter lang werden können. Da sind aber auch die Salpen, tonnenförmige Wesen, die durchsichtig wie Kristall im Meer schweben. Sie sind Manteltiere und damit frühe Ahnen der Wirbeltiere. Haddock:
"Wenn wir die Tiefsee mit Hilfe von ferngesteuerten ROV erkunden, sehen wir, dass der tiefere Teil des Meeres von diesen "Jellies" dominiert wird - egal, ob wir Tiefsee-Canyons untersuchen, die Schlammebenen oder die mittelozeanischen Rücken. Unterhalb von 300, 400 Metern erfüllen sie alle möglichen ökologischen Rollen: Einige fressen mikroskopisch kleine Partikel, andere Krebse, wieder andere Fische oder andere Quallen. Sie sind wichtige Spieler im Ökosystem des Zwischenwassers."
Viel wichtiger als gedacht. Zum einen, weil sie selbst gerne fressen - und zum anderen, weil sie auch von vielen anderen gefressen werden. Zwar sind ihre Gallertkörper nicht unbedingt nahrhaft, aber es gibt viele, dass mancher durch die Masse satt wird. Für die "Volkszählung" arbeitete Steven Haddock in einer Gruppe, die sich mit dem Zooplankton beschäftigt, den Tieren, die ihr Leben im Wasser treibend verbringen - wie Quallen beispielsweise oder Ruderfußkrebse. Ein paar von ihnen warten gerade im Meerwasserlabor des Monterey Bay Aquarium Research Institute auf ihren Einsatz für die Wissenschaft. Es ist kalt hier drin, vier Grad Celsius - und dunkel. Nur das Rotlicht erhellt spärlich den Raum. Unter Dunstabzügen stehen Dutzende großer und kleiner Aquarien. Steve Haddock:
"In these jars we have some of the deep-sea-copepods that we are working on, see if I can find one. There is one, I hope that you can see the bioluminescence."
Der kleine Ruderfußkrebs, den Steven Haddock aufscheucht, soll eine leuchtende Wolke ausstoßen:
"Das Geheimnis, hinter das wir bei diesem Projekt kommen wollen, ist, wo die evolutionären Wurzeln des Moleküls liegen, das die Organismen für die Erzeugung des Lichts einsetzen. Diese kleinen Kerle werden uns dabei helfen, das herauszufinden."
Aber heute gibt es keine Leuchtwolke. Der Ruderfußkrebs hat anscheinend keine Lust. Im Grunde hat er recht, denn hier ist kein Feind, der abgeschreckt werden müsste. Viele Tiefseetiere erzeugen selbst Licht oder lassen es mit Hilfe von leuchtenden Bakterien erzeugen. Ohne diese biologischen Lichter wäre das Überleben in der Tiefsee viel schwieriger: Man kann sie als Tarnkappe nutzen, um mit dem Restlicht zu verschmelzen, wenn man in der Zwielichtzone lebt, wo das Meer noch bläulich schimmert. Oder man kann - wie der Ruderfußkrebs im Aquarium - eine Lichtwolke ausstoßen, um seine Feinde zu verwirren - und darauf hoffen, dass der Lichtblitz einen anderen Räuber auf eben diesen Feind aufmerksam macht… Man kann sich mit einem potentiellen Partner verständigen, Beute anlocken - aber auch Forscher. Das ist einigen Staatsquallen "gelungen". Haddock:
"Staatsquallen sind die Cousins der Quallen, die wir aus dem Flachwasser kennen, aber sie können bis zu 30 Meter lang werden. Wenn man so will, sind sie Vorhänge aus Tentakeln, mit denen sie ihre Mahlzeit aus dem Wasser fischen."
Staatsquallen ähneln auf den ersten Blick Nordsee-Quallen. Aber sie sind Wohngemeinschaften von Hunderten oder Tausenden hoch spezialisierter Nesseltiere, die fast so etwas wie die Organe eines Organismus bilden. Es gibt Fresspolypen, Tastpolypen, Wehrpolypen, Geschlechtspolypen, Deckpolypen, Schwimmbojen.
"Wir beschreiben gerade eine neue Art von Staatsquallen, die wir bei der Volkszählung der Meere gefunden haben. Sie lebt in der Zwielichtzone und lockt ihre Beute mit leuchtenden Anhängen an ihren Tentakeln an. Der Krill kann diesem grünen Leuchten nicht widerstehen und wird gefressen. In 1500 Metern Tiefe, wo es absolut dunkel ist, haben wir eine andere Staatsqualle entdeckt, die zwischen ihren Tentakeln kleine rote Lichter leuchten lässt. Die haben die Form von Ruderfußkrebsen, und so lockt sie die Fische wie ein Angler an, in dem sie ihren leuchtenden Köder hinauf und hinab bewegt."
Diese Staatsqualle gaukelt ihrem hungrigen Opfer eine fette Beute vor - und wenn es sich verführen lässt, wird es selbst verdaut. Genau dieses Täuschungsmanöver öffnet nun eine wissenschaftliche Diskussion, denn es rüttelt an einer Lehrbuchweisheit: In der Tiefsee wirkt rotes Licht schwarz und wird deshalb gerne zur Tarnung eingesetzt. Außerdem sollen die Augen der meisten Tiefseetiere Rot nicht wahrnehmen. Trotzdem werden immer mehr Jäger bekannt, die mit Rotlicht täuschen. Wäre es wirklich nicht zu erkennen, gäbe es diese Anpassung nicht.
Es war der in Schweden geborene Biologe Per Scholander, der in den 1930er Jahren auf die Idee kam, bei der Meeresforschung Tiere als Messgehilfen einzusetzen: Er befestigte einen einfachen, mechanischen Tiefenmesser an einem Finnwal, um zu sehen, wie tief er taucht. Heute werden die unterschiedlichsten Tiere mit Hightech-Messgeräten ausgestattet, mit Biologgern, die Daten über Wassertemperatur, Tiefe, Schwimmgeschwindigkeit oder über den Zustand des Lebewesens selbst sammeln. Eines der Zensus-Projekte, die mit diesen Biologgern arbeiten heißt TOPP: Tagging of Pacific Predators. Es machte Hunderte von pazifischen Meeresräubern zu "Hilfswissenschaftlern".
Zu Zeiten der Challenger war an so etwas gar nicht zu denken, man war schon froh, dass die Bestimmung der Meerestiefe vernünftig klappte: Zuverlässige Lotsysteme waren damals die Speerspitze der Technik.
"Wenn Leute 'Zensus der Meereslebewesen' hören, denken sie, wir ziehen los, um neue Arten zu finden und die Fische zu zählen. Aber Biologger? Stellen Sie sich doch einmal die Serengeti vor. Sie sitzen mit einem Fernglas auf einem Hügel und beobachten die Löwen und Hyänen. Dann wüssten sie, wo sich die Pflanzenfresser aufhalten, selbst wenn sie kein Zebra sehen und keinen Büffel. Genau das haben wir bei TOPP gemacht: Wir sind den großen Raubtieren gefolgt, um die Orte in den Meeren zu finden, an denen das Leben am reichsten ist. Wir haben 23 verschiedene Meeresräuber mit elektronischen Tags ausgestattet und verfolgt. Es waren mehrere Arten von Thunfischen, Haien, Walen, Seevögeln, Seelöwen, See-Elefanten, Robben, sogar Kalmare."
Randy Kochevar von der Hopkins Marine Station der Stanford University in Kalifornien ist einer der leitenden Wissenschaftler von TOPP.
"Wir erkennen Bewegungsmuster. So gibt es hier vor der Westküste Nordamerikas Hotspots, durch die im Lauf eines Jahres Hunderttausende von Tieren ziehen. Es gibt anscheinend überall im Meer Korridore, die von vielen verschiedenen Tieren genutzt werden."
So fühlen sich Haie, Schildkröten, Albatrosse oder See-Elefanten von einem Korridor angezogen, der an der Grenze zwischen dem kalten Polarwasser im Nordpazifik und dem wärmeren Wasser südlich davon verläuft. Durch ihn ziehen sie quer über den Pazifik und zurück: kreuz und quer, mal auf der einen Seite der Front, mal auf der andere. Im warmen Wasser fühlen sie sich wohler, im kalten, sauerstoffreichen fressen sie. Kochevar:
"Wenn sie immer an der Grenze bleiben, bekommen sie das Beste aus beiden Welten: genug zu fressen und angenehme Temperaturen."
Zu den besonders spektakulären Aktionen, die im Rahmen dieses Projekts durchgeführt worden sind, gehört das Taggen der Weißen Haie. Die versammeln sich vor den nordkalifornischen Farrallon Inseln, um sich an schwabbeligen Meeressäugern gütlich zu tun, die sie sehr schätzen: an den Seeelefanten und Robben. Dort versah der Zoologe Scot Anderson vom National Park Service am Point Reyes National Seashore die Haie mit Biologgern.
"Ich benutze dafür einen Köder, der die Form eines kleinen Seelöwen hat und der den Hai an die Oberfläche locken soll."
Das kleine Motorboot schaukelt sanft auf der Dünung. Scot Anderson wirft eine an einer Angel befestigt Seelöwenattrappe ins Meer, die mit ein wenig Fischtran "parfümiert" worden ist. Schon bald zeigt ein riesiger weißer Hai Interesse.
"Die Haie kommen heran, umschwimmen den Köder, prüfen ihn - und das ist für uns die Chance, sie mit einem Biologger zu versehen."
Scot Anderson zieht langsam die Angel ein, der Hai kommt näher, bis er direkt neben dem Boot ist. Zunächst nimmt der Forscher ihn mit einer Videokamera auf, die er an einem Stock ins Wasser hält. Dann wartet er, bis das Tier ihm die Flanke zuwendet - und stößt mit einem langen, spitzen Stab den Biologger in die Haihaut. Für die nächsten ein oder zwei Jahre ist der Hai "getaggt". Die Biologger verraten, dass die Raubtiere an der Spitze der Nahrungskette erstaunliche Strecken zurücklegen: Ein Thunfisch etwa, der vor der Küste Südkaliforniens markiert worden war, schwamm in weniger als einem Jahr nach Japan und zurück. Dann allerdings landete er in einem Fischernetz - und sein Implantat kam zu den Forschern zurück. Auch weiße Haie sind anscheinend gern unterwegs. Randy Kochevar:
"Die weißen Haie, mit denen wir arbeiten, kommen auf ihrer jährlichen Wanderung in jedem Herbst bei den Farrallon-Inseln in Nordkalifornien vorbei. Dann schwimmen sie in die Mitte des Pazifiks, nach Hawaii, und von da aus geht es nach Süden bis vor die kalifornische Halbinsel. Dann tauchen sie pünktlich vor den Farrallon-Inseln auf. Wir hatten keine Ahnung, dass ihre Wanderwege so gut nachvollziehbar sind."
Genauso wenig wussten die Biologen, dass es auf diesen Wege seltsame Zwischenziele gibt:
"Wann immer ein Tier große Distanzen zurücklegt, sollte man annehmen, dass es ein Ziel verfolgt. Vielleicht gibt es dort etwas Besseres zu Fressen, vielleicht findet man dort am einfachsten einen Partner oder kann am besten seine Jungen gebären oder großziehen. Der Weiße Hai ist nicht so leicht zu durchschauen. Mitten im Pazifik - auf halbem Weg zwischen Hawaii und der kalifornischen Halbinsel - gibt es eine 'blaue Wüste', wo es kaum etwas zu fressen gibt, und doch verbringen die Weißen Haie dort Jahr für Jahr Zeit - mitten im Meer. Wir haben diesen Ort das 'Café zum Weißen Hai' genannt. In ein Café kann man gehen, um einen Happen zu essen - auch wenn wir in dem Fall keine Ahnung haben, was. Man kann dort Freunde treffen, sehen und gesehen werden. Keine Ahnung, was die Haie in ihrem Café machen. Aber eines ist sicher: Sie sind dort gerne und bleiben auch eine ganze Weile."
Immerhin ein halbes Jahr, wie die Biologger verraten. Die verraten auch, dass Männchen und Weibchen umherschwimmem, abtauchen, manchmal alle zehn Minuten, bis hinunter in Tiefen von 300 Metern. Nur, warum? Vielleicht suchen sie sich ihre Partner aus? Jedenfalls steht das Hai-Café jetzt im Zentrum des Forscherinteresses.
Hinweis: An den Osterfeiertagen ist der "Zensus des marinen Lebens" der Gegenstand einer dreiteiligen Serie in "Wissenschaft im Brennpunkt".Der erste Teil Vergangener Reichtum wurde Karfreitag gesendet, den dritten Teil Zukunftsmodell Meer können Sie Ostermontag, 16:30 Uhr, hören.