Sonntag, 12. Mai 2024

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Weit unterhalb des Möglichen

Der 1941 geborene Historiker John Lewis Gaddis veröffentlichte 1972 ein Buch über "Die Vereinigten Staaten und die Ursprünge des Kalten Krieges". 1987 folgte der Band "Der lange Friede: Untersuchungen über die Geschichte des Kalten Krieges" der vor allem bei Gegnern von Abrüstung und Entspannung auf Zustimmung stieß. Gut fünfzehn Jahre nach Auflösung der Sowjetunion ist nun die deutsche Übersetzung von Gaddis Gesamtgeschichte des Kalten Kriegs erschienen. Eine Rezension mit Bernd Greiner.

Moderation: Hermann Theißen | 26.03.2007
    Die Berliner Mauer in Kreuzberg, 1962
    Die Berliner Mauer in Kreuzberg, 1962 (Deutschlandradio)
    In seinem neuen Werk verspricht John Lewis Gaddis nichts weniger als eine "neue Geschichte" des Kalten Krieges. Und sein deutscher Verleger macht das Publikum erst recht neugierig. "Gaddis präsentiert" - so der Klappentext - "neue und überraschende Ergebnisse seiner jahrelangen Forschungen in westlichen und östlichen Archiven." "Neu" und "überraschend": Höher kann man die Latte kaum legen, zumal angesichts der Tatsache, dass der Kalte Krieg im vergangenen Jahrzehnt mehr wissenschaftliches Interesse geweckt hat als je zuvor und unbestritten zu den "Wachstumsbranchen" der zeithistorischen Forschung zählt.

    Dass die Erwartungen dennoch auf der ganzen Linie enttäuscht werden, mag man kaum glauben. Mit jedem neuen Kapitel hofft der Leser auf eine Wende zum Besseren, auf einen unkonventionellen Gedanken, eine neue Einsicht - und muss am Ende von knapp 400 Seiten feststellen, alles schon einmal und in der Regel viel differenzierter gehört zu haben. Gewiss, Gaddis beherrscht den Stoff, kennt die Daten und Fakten, versteht sich auf das Zeichnen großer Linien und besticht wie gewohnt mit einem flüssigen, sehr gut lesbaren Stil. Ein begabter Erzähler ist Gaddis also zweifellos. Aber seine Geschichten drehen sich um das immer Gleiche: Beeindruckende Männer mit ihren nicht immer beeindruckenden Entscheidungen, Kabinettssitzungen, Protokolle, öffentliche Inszenierungen von Macht, Drohgebärden, Konflikte zwischen den Bündnissen und Streitereien unter den Verbündeten. Jenseits der politischen Haupt- und Staatsaktionen gewinnt der Kalte Krieg keine Kontur.

    Die in jüngster Zeit vorgelegten Arbeiten zur Kultur-, Umwelt- oder Gesellschaftsgeschichte spielen schlicht keine Rolle, sie kommen noch nicht einmal im Literaturverzeichnis vor. In anderen Worten: Statt mit einer neuen Geschichte des Kalten Krieges haben wir es nur mit einem neuen Buch von John Lewis Gaddis zu tun. Genauer gesagt: Mit einem abermaligen Aufguss dessen, was er über die Jahre erarbeitet und publiziert hat. Selbstverständlich wäre es ungerecht, von einem Diplomatiehistoriker der alten Schule einen radikalen Wechsel der Perspektive zu erwarten oder einzufordern. Doch selbst innerhalb des Rahmens einer konventionellen Ereignisgeschichte bleibt Gaddis weit unterhalb des Möglichen.

    Nehmen wir die wechselvollen Beziehungen zwischen den Hegemonialmächten USA und UdSSR mit ihren Verbündeten in der Dritten Welt als Beispiel. Die in jüngster Zeit zugänglichen Dokumente aus kubanischen, chinesischen, südkoreanischen oder vietnamesischen Archiven geben Anlass zu nachhaltigen Korrekturen an der traditionellen Lesart des Kalten Krieges. So zeigt sich im Vorfeld der Kriege in Korea oder Vietnam, dass die vermeintlich Kleinen alles andere als einflusslos waren. Im Gegenteil. Autokraten vom Schlage eines Kim Il-Sung, Syngman Ree oder Diem verstanden es trefflich, ihre großen Verbündeten in Zugzwang zu bringen, wenn nicht zu erpressen - entweder mit der mehr oder weniger versteckten Drohung, ins gegnerische Lager zu wechseln oder mittels maßlos übertriebener Behauptungen vom bevorstehenden Zusammenbruch ihrer Gesellschaften. Dergleichen verfehlte seine Wirkung nicht. Die Eliten in Moskau und Washington legten nämlich ob ihrer Glaubwürdigkeit willen größten Wert darauf, auch an der Peripherie ihres Machtbereichs keinen Fußbreit an Einfluss zu verlieren. Aus diesem Stoff - der Widerborstigkeit der Schwachen einerseits und der Selbstverblendung der Starken andererseits - können packende Kapitel von Zeitgeschichte geschrieben werden. Gaddis freilich verspielt diese Chance. Was er uns über die Vorgeschichte der in Asien geführten Kriege zu erzählen hat, fällt meilenweit hinter den Forschungsstand zurück. Stattdessen wartet er mit einer wuchtigen These auf: Die Großen hätten im Würgegriff der Kleinen gar keine andere Chance gehabt, als sich zu fügen. In anderen Worten: Dass der Kalte Krieg kein Ende fand und die Welt von einer Krise in die nächste stolperte, geht zu einem Gutteil auf das Konto skrupelloser Klientelstaaten. Die zur Begründung angeführten Belege - dürre Verweise auf Memoiren beteiligter Politiker - würde man noch nicht einmal Studenten im Grundstudium durchgehen lassen.

    Apropos Krisen im Kalten Krieg: Was Gaddis darüber zu erzählen hat, nimmt sich ausgesprochen harmlos aus. Die Großen geraten sich mitunter in die Wolle, drohen, hauen auf die Pauke und vertragen sich wieder. Man fragt sich, was daran außergewöhnlich sein soll und sucht vergeblich nach einer Antwort. Gaddis misst allem, was nicht in sein starres, seit Jahren gepflegtes Interpretationsmuster passt, keine Bedeutung zu: Die Atombombe, so seine These, hat uns alle gerettet. Ihr allein ist es zu verdanken, dass Konflikte und Krisen nicht aus dem Ruder liefen, sie hat uns einen sechzigjährigen Frieden beschert.

    In der Tat wird niemand ernsthaft bestreiten können, dass die Möglichkeit atomarer Selbstvernichtung mäßigend wirkte und die Akteure in Ost und West zu einer Vorsicht zwang, die sie unter anderen Umständen möglicherweise nicht hätten walten lassen. Doch eine umfassende Geschichte des Kalten Krieges zu schreiben, bedeutet, auch die Kehrseite der Medaille kenntlich zu machen. Dazu gehört die trotz aller Abschreckung und Selbstabschreckung regelmäßig geübte Verantwortungslosigkeit im Umgang mit dem Risiko. Dazu gehört der gesellschaftliche Preis der Hochrüstung - die immense Vernichtung von Ressourcen, die in allen beteiligten Gesellschaften zu Buche schlug und am Ende einen der Beteiligten, die Sowjetunion nämlich, in den Ruin trieb. Und dazu gehört nicht zuletzt, dass der große Krieg zwar ausblieb, aber hunderte kleiner Kriege geführt wurden - bisweilen gerade deshalb, weil die Atommächte trotz der Bombe ihre militärische Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen wollten. Dafür ließen in der Dritten Welt nach 1945 mehr Menschen ihr Leben als im Zweiten Weltkrieg. Für Gaddis schrumpft diese Dimension des Kalten Krieges zu einer bedauerlichen Fußnote, zu einem wohligen Schauer angesichts des Umstands, dass wir im Zentrum noch einmal davongekommen sind.

    Im Grunde offeriert uns Gaddis eine Heilsgeschichte. Genauer gesagt: Eine aus provinzieller Perspektive formulierte Heilsgeschichte, deren Protagonisten in der US-amerikanischen Hauptstadt zu finden sind. Ihnen allein - den umsichtigen und mitunter auch verwegenen Strategen - hat es die Welt zu verdanken, dass die Demokratie ihren wohl verdienten Triumph über den Totalitarismus davontrug.

    Man kann aus alldem dreierlei Fazit ziehen: Wer großzügig und milde argumentiert, wird Gaddis einen im triumphalistischen Gestus gehaltenen Blick auf die Geschichte unterstellen. Der Westen, genauer gesagt: Der von den USA weise geführte Westen, hat gesiegt, weil er siegen musste und den Sieg verdient hatte. Wer genauer hinschaut, wird eine altmodische, auf das Lobpreisen großer Männer fixierte Historiographie entdecken. Man könnte drittens aber auch zu dem Schluss kommen, dass es Gaddis weniger um Geschichtsschreibung als um eine politische Lektion geht. Und schlicht um eine Botschaft: Einer Hegemonialmacht, die im Kalten Krieg keine nennenswerten Fehler gemacht hat, kann man auch getrost die Definitionsmacht über das Hier und Heute und über die Zukunft anvertrauen. Wo die Weltanschauung ihr Recht verlangt, muss die Wissenschaft pausieren. Man merkt die Absicht und ist verstimmt.

    Literaturliste:

    Volker Ullrich über:
    Götz Aly, Michael Sontheimer: Fromms. Wie der jüdische Kondomfabrikant Julius F. Unter die deutschen Räuber fiel
    Verlag S. Fischer, Frankfurt/Main 2007; 217 Seiten, €19,19

    Bernd Greiner über:
    John Lewis Gaddis: Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte. Aus dem Amerikanischen von Klaus-Dieter Schmidt
    Siedler Verlag, München 2007; 450 Seiten, € 24,45

    Autorengespräch mit Peter Bender über:
    Deutschlands Wiederkehr – Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte
    Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2007; 330 Seiten, € 23,50

    Autorengespräch mit Bernd Stöver über:
    Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters, 1947 – 1991
    Verlag C. H.Beck, München 2007; 528 Seiten, € 24,90