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Weiter Blick ins tiefe Nichts

Der Bau des sagenumwobenen Leuchtturms "Ar-Men" vor der bretonischen Küste dauerte 14 Jahre. 1881 wurde er schließlich in Betrieb genommen. Das karge und riskante Leben als Leuchtturmwärter auf "Ar-Men" Anfang der 60er-Jahre inspirierte Jean-Pierre Abraham zu einem philosophischen Logbuch.

Von Michaela Schmitz | 10.01.2011
    Um Licht zu finden, muss man das Dunkel suchen. Das ausgerechnet auf einem Leuchtturm zu tun, scheint absurd. Wo doch gerade sein Lichtzeichen die Schiffe leiten soll. Nur der Leuchtturmwärter kennt die Dunkelheit im Inneren des Turms: das durch schmale Luken erhellte Treppenhaus, die dämmrigen Schlafräume und die Küche – oft sogar ohne jedes Tageslicht, wenn bei Sturm schwere Metallplatten die Fenster vor der Gewalt mächtiger Wellen schützen. Letzte Lichtquelle bleibt dann die Petroleum-Lampe. Einzige Orientierung auch während der endlosen Nächte, in denen die Wärter im Wechsel über das Leuchtfeuer wachen. Für die meisten wäre dieses Leben die "Hölle der Höllen" – so wird der westlichste Punkt des bretonischen Festlandes genannt.

    Dort steht "Ar-Men", der am weitesten dem Meer ausgesetzte Leuchtturm vor der Pointe du Raz. Sein Name bedeutet bretonisch "der Stein". Benannt ist "Ar-Men" nach dem nur wenige Tage im Jahr sichtbaren Fels, auf dem er gebaut ist. Einer seiner Wärter Anfang der 60er-Jahre ist der Ich-Erzähler von Jean-Pierre Abrahams Roman. Für ihn wird "Ar-Men" zum Zentrum seiner Sehnsucht nach Erkenntnis. Ihm erscheint der mythische Leuchtturm als Meeres-Kathedrale, die eher dem Himmel als der Erde anzugehören scheint.

    "Fährt man mit dem Schiff heran, sieht man in der unendlichen Weite mitunter rein gar nichts. Das geschulte Auge erkennt an seiner Stelle vielleicht eine Spiegelung, eine blasse Erscheinung, die jedoch eher in der Vorstellung existiert. Man muss noch näher zufahren, möglicherweise in eine andere Luftlandschaft vorstoßen. Wenn er dann unerwartet seine ganze Höhe offenbart, scheint er gleichsam aus dem Himmel hervorzutauchen."

    Medium seiner metaphysischen Sehnsucht ist das Licht. Beinahe wissenschaftlich genau registriert er die ständig wechselnden Wetter- und Lichtverhältnisse im Dialog zwischen Himmel und Meer ebenso wie das Wechselspiel von Hell und Dunkel im Inneren des Turms. Er wolle auf einen anderen Schimmer hinaus, schreibt er einmal. Diesen Widerschein des Lichts glaubt er auch in Gemälden von Vermeer wie "Das Mädchen mit dem Perlenohrring" oder der "Briefleserin am offenen Fenster" auszumachen. Ein Vermeer-Bildband ist eins von drei Büchern, die er mit auf den Leuchtturm genommen hat.

    Das zweite Buch enthält Gedichte von Pierre Reverdy. Dieser treibe die Zeilen bis an den Abgrund. Reverdy wird zum Leitbild seiner eigenen asketischen Poesie-Studien. Es gehe darum, die Schlichtheit in Worten auszudrücken. Doch Wörter, erkennt er im Lauf seiner nächtlichen Schreib-Exerzitien im Leuchtturm, bedeuten weniger als ihr Umfeld. Wie sonst könnte es sein, dass ein paar tief in der Nacht zum Kollegen gesprochene simple Worte wie "Ja! Die Sicht ist gut. Der Wind kommt aus West. Das Leuchtfeuer ist klar." ihn so ergreifen?

    Dichtung wäre also der Widerschein eines Lichts jenseits der Sprache? Dem Dichter fiele demnach die Aufgabe zu, dieses Leuchten zu empfangen und in Worten widerzuspiegeln? Der Ich-Erzähler jedenfalls ist davon überzeugt, der Autor müsse im Dienste der Poesie "lichtdurchlässig" werden. Seine eigene poetische Klausur in der kargen, sechs Schritte messenden Schlafzelle sieht er als strenge Übung, selbst unsichtbar zu werden.

    Inspiration findet der schreibende Mönch in einem Bildband mit Ansichten eines ihm unbekannten Zisterzienserklosters. Es ist das dritte Buch, das er mit aufs Meer nimmt. In direkter Parallele zum ritualisierten Klosterleben vergleicht er seine täglich immer gleichen Verrichtungen als Leuchtturmwärter mit einer Andacht.

    "Jetzt ist die überaus strenge, sanfte Beharrlichkeit von Ritualen geboten. Genau in dem Augenblick, da die Arbeitsgänge für die Zündung beginnen, ich die beiden Brennröhren ( ... ) unter der Feuerung anstecke, ruft etwas in mir heimlich zum Appell. Alle einzelnen, im Laufe eines langen Tages getrennten Elemente fügen sich wieder zusammen. Als gelte es, dieser Zeremonie, die ich auswendig kenne und mit geschlossenen Augen durchführen könnte, absolute Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Ich würde das Andacht nennen."

    Arbeiten und "Zuwarten" sind sein Tagesinhalt. "Wünschen, verzichten; Welle für Welle" sein tägliches Gebet. Ziel ist es, ein "gutes Warte-Instrument" und zum reinen Arbeits-Werkzeug zu werden. Nur so komme jene "Lichtdurchlässigkeit" zustande, die es ermöglicht, das ersehnte "Licht aus der Kindheit wiederzufinden."

    In Frankreich ist Jean-Pierre Abrahams "Ar-Men" seit langem ein Kultbuch; eine poetische Hauspostille für Leuchtturm-Abenteurer und philosophisches Brevier für maritime Existenzialisten. Für Binnenländer liest sich die exakte Beschreibung von Arbeitsverrichtungen, Wind, Wetter und Seegang allerdings oft eher wie ein Handbuch für Leuchtturmwärter. Doch Abraham verzichtet bewusst auf Leuchtturm- und Meeres-Poesie. Ohne zu verklären oder den einsamen Held im Sturm zu stilisieren, beschreibt er die Grenzerfahrungen eines Lebens als Leuchtturmwärter. Genau dieser asketische Schreibethos erklärt die trotzdem nicht zu leugnende Anziehungskraft seines Buchs. Denn es unterstreicht das eigentliche poetische Moment der Geschichte: den mythischen Leuchtturm "Ar-Men" selbst.